17 Hausbesetzungen, ca. 30 Mietstreiks, an die 200 Prozesse wegen Hausfriedensbruch, Widerstand gegen die Staatsgewalt, im Fall Grüneburgweg sogar Anklage wegen versuchten Totschlags (der Angeklagte hatte mit einem Stein nach einem Polizisten geworfen, als diese das Stunden zuvor besetzte Haus stürmten), Mieterdemonstrationen, Anzeigen gegen Spekulanten und ihre Abrißtrupps […], Aufklärungskampagnen gegen Mietwucher, Tribunale gegen den Terror der Polizei (die ab und zu unter fadenscheinigen Vorwänden mit gezückten Pistolen in besetzte und bestreikte Häuser eindrang, um so die Bewohner einzuschüchtern), Stellungnahmen in Presse und Rundfunk, Schwarzbücher gegen Mietwucher, Proteste der Bevölkerung gegen Hochhausbebauung, Debatten und Podiumsdiskussionen – dies alles sind die vorläufigen Resultate des Frankfurter Wohnungskampfes, der im September 1970 mit der spektakulären Hausbesetzung in der Eppsteiner Straße 47 begonnen hatte.

Die katastrophalen Wohnverhältnisse in Frankfurt sind ein typisches Beispiel für die gesamte Wohnsituation in der BRD. Frankfurt als Zentrum des europäischen Kapitals, als eine Stadt, die mehr für Banken und Versicherungen als für Menschen geplant und gebaut ist und einen überdurchschnittlich hohen Bevölkerungsanteil an ausländischen Arbeitern hat (110.000), konnte den Widerspruch zwischen den Interessen des Kapitals und den Bedürfnissen der Menschen auf menschliches Wohnen nie vollständig verschleiern.

Doch diese Tatsache allein genügt nicht, den relativ fortgeschrittenen Stand des Wohnungskampfes in Frankfurt zu erklären. Im Gegensatz zu der Mainmetropole mußten in anderen Städten der BRD die besetzten Häuser nach einiger Zeit wieder aufgegeben werden. Die ersten erfolgreichen Hausbesetzungen in Frankfurt wurden unter anderem durch die taktischen Überlegungen der SPD vor den Landtagswahlen 1970 begünstigt. Damals regierte im Römer die große Koalition und die SPD machte wahlwirksam die Wohnungspolitik der CDU für die Wohnraumzerstörungen verantwortlich. Zudem glaubte die SPD offensichtlich, daß es sich bei den ersten beiden Hausbesetzungen höchstens um punktuelle studentische Aktionen handeln könnte, welche ›ja nur‹ auf soziale Mißstände hätten aufmerksam machen wollen. Als weitere Hausbesetzungen auch nach der Wahl erfolgten, erkannte die SPD, daß ihr Konzept gesprengt wurde. Fortan wurden Hausbesetzungen zu Machtfragen zwischen der Neuen Linken und den bürgerlichen Parteien. Diese versuchten den Aktionen der Linken mit einem Konflikt-Management zu begegnen, um größere Eskalationen zu vermeiden.

Je nach der Einschätzung der Lage ordnete die Stadt Räumung oder Abzug der Polizei an. Im Grüneburgweg und bei der Räumung der Schubertstraße kam es zu Straßenschlachten, im Fall Bockenheimer Landstr. 111 und 93 dagegen geschah nichts, da dort die Linken weit größere Massen hatten mobilisieren können. Durch die spektakulären Hausbesetzungen konnte nun das Interesse der Öffentlichkeit auf die Praktiken der Spekulanten gelenkt werden.

Seit Mitte der sechziger Jahre war es üblich geworden, massenweise alte Herrschaftshäuser und Wohnhäuser aufzukaufen, diese dann meistens jahrelang leerstehen zu lassen und, wenn notwendig, dem Verfall ein ›bißchen‹ nachzuhelfen, um dann die billig erworbenen Spekulationsobjekte ohne Risiko mit horrenden Gewinnen entweder an Banken und Versicherungen weiterzuverkaufen oder gar selbst die Häuser abzureißen, um an ihre Stelle Büroklötze zu setzen, die den Menschen dahinter die Sonne rauben und den noblen Herren einen Sack voll Geld bescheren.

Der Kapitalzugriff wird immer virulenter. Es reicht nicht mehr aus, sich mit ein oder zwei Wohnhäusern zu bescheiden um sie dann durch neue Bürobauten zu ersetzen. So gehört schon fast das gesamte Viertel Kettenhofweg, Feuerbachstraße, Elsa-Brandström-Straße, Guiolettstraße, Ulmenstraße den Spekulanten Markiewicz und Rosen. Gewiß ist aber, daß sich hinter den Namen nur die Kapitalinteressen einiger Großbanken und Versicherungen verstecken. Das Spekulantentum ist also nur die Form, in der (bzw. als der) der Verwertungszwang auftritt. Letzten Endes macht es aber keinen Unterschied, ob Markiewicz oder eine Bank agiert: auf jeden Fall wird hinter der Fassade des ›freien Wohnungsmarktes‹ eine verdammt ungleiche Freiheit deutlich. Das Kapital ist so frei, unsere Wohnungen (als Ware behandeln, d. h.) vernichten und durch Bürosilos ersetzen zu können. Wir sind allerdings so ›frei‹, entscheiden zu ›können‹, wohin wir vor dieser Kapitalfreiheit fliehen wollen.

Deutlich wird dies am Beispiel Kettenhofweg: Dieser Privatbesitz der beiden ›Bank-Angestellten‹ ist in erster Linie Wohnraum für über 500 Menschen, zumeist türkische Familien. Auf Grund der schamlosen Ausbeutung dieser Menschen sind sie gezwungen, meistens zu mehreren sich ein Zimmer zu teilen, wenn sie nicht einen Großteil ihres Lohnes für Miete zahlen wollen. Hinzu kommt nun, daß die Spekulanten die bei gravierender Überbelegung verstärkt anfallenden Reparaturen verweigern. Sie unternehmen nichts gegen die Wanzen und Kakerlakenplage. Sie mauern die frei gewordene Wohnungen zu, nachdem sie sie vorher haben zerstören lassen. Schon mit der systematischen Verschlechterung der Wohnsituation beginnt der Terror gegen die Mieter, und so ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann aus einem Wohnhaus eine abrißreife Bruchbude geworden ist.

Der Rausschmiß der Mieter läuft, wie die Praxis zeigt, meistens über die Einschüchterung der verängstigten Ausländer. Schließlich gibt es inzwischen Ausländergesetze und die Polizei ist schnell zur Stelle, wenn der Hausbesitzer ruft. In dem mietbestreikten Haus in der Eschersheimer Landstr. 220 setzte man einen deutschen Hausmeister in die Wohnung, der wegen jeder Nichtigkeit die Polizei holte. Diese begnügt sich nicht mit einer Streife, sondern rückt gleich mit Mannschaftswagen und Hunden an. Die Ausländer, die wegen Sprachschwierigkeiten sich oft nicht verständigen können, waren dann die Dummen, da Hausmeister und Hausbesitzer der Polizei erklären konnten, was sie wollten. Die SPD-Stadtregierung hat ein Interesse an der stillen und reibungslosen Bewältigung solcher Konflikte. Dies Bemühen schlägt sich unter anderem nieder in der papiernen Verpflichtung für die Abreißer und Rausschmeißer, den gekündigten Mietern adäquate Ersatzwohnungen ohne Kautionsforderungen zu stellen.

Es ist aber evident, daß die Spekulanten sich nur daran halten, wenn sie von den Betroffenen dazu gezwungen werden. Und oft genug lassen die sich halt aus Unwissenheit bescheißen. […]

Auf der einen Seite rühmte diese [die SPD] sich in ihren Wahlannoncen, als einzige [Partei im] Stadt[parlament] in der BRD ein ,»Sozialbildungspapier« zu besitzen, welches ausdrücklich das Leerstehenlassen von Wohnraum zu Spekulationszwecken untersagt und welches auf Wohnraumzerstörung mit gerichtlichen Sanktionen droht. […]

[Auf der anderen Seite steht heute fest:] Die verbalen Forderungen der SPD sind eine geschickte Verschleierungstaktik der Politik, die diese Partei eigentlich macht. Sie fordert publizistisch wirksam nach außen menschliches Wohnen, und verhindert faktisch die Ausführung ihrer eigenen Parolen. Dies auf das gespaltene Bewußtsein einiger SPD-Bonzen zurückzuführen, wäre zu einfach, vielmehr stehen dahinter handfeste Kapitalinteressen, bei denen das Gesetz des großen Geldes immer vor dem Recht auf Leben kommt! Anläßlich einer Podiumsdiskussion am 15.7.1972 im Rahmen der Fertigbaumesse '72 wurde das so ausgedrückt: »Selbst wenn die Stadt wollte, könnte sie nicht anders als die Baugenehmigungen für Hochhäuser dort zu erteilen, wo diese nach dem Westendstrukturplan nicht ausdrücklich verboten sind.« […]

Schöner und deutlicher kann man sich ein Bekenntnis zur kapitalistischen Klassenherrschaft gar nicht mehr wünschen: denn wenn es der Aufhebung des Rechtsstaates bedarf, um die Interessen der Bevölkerung gegen die Interessen des Kapitals durchzusetzen, so kann logischerweise dieser Rechtsstaat immer nur das Recht des Kapitalisten meinen und verteidigen.

Was wir daraus folgern müssen ist, daß wir den Kampf um die Interessen der Bevölkerung an der Basis aufgreifen und artikulieren müssen. Das verlangt die Bildung weiterer Stadtteilgruppen und die Koordinierung bereits bestehender Gruppen zu einem Gesamtforum, in welchem einmal Informationsmaterial ausgetauscht werden soll und zum anderen die Schwerpunkte der Agitation bestimmt werden könnten. Nur so läßt sich eine langfristige Perspektive der Stadtteilarbeit bestimmen. Aus den bisherigen Einzelkämpfen einzelner Gruppen muß ein gezielter Kampf aller werden, wenn über den Status einer linken Sozialarbeit hinausgegangen werden soll. […]

Widerstand ist möglich

Am 28. Februar dieses Jahres lief ein Vergleich ab, den die Besetzter des Hauses Kettenhofweg 51 vor einem Jahr vor einem Gericht abzuschließen gezwungen waren. Aus diesem Grund machten sie einige Zeit vorher die sog. Öffentlichkeit auf das Problem aufmerksam: sie waren nicht willig, sich diesem gerichtlichen Zwang zu unterwerfen, schon deshalb, weil sie keine vergleichbare Wohnmöglichkeit in Aussicht hatten und weil sie nicht die Erfüllungsgehilfen des Syndikats von Magistrat und Großbanken (Erscheinungsform: Spekulanten) in deren Bestreben, das Westend vollends zu ruinieren, sein wollten.

Nachdem sie ein spektakuläres GO-IN in den Römer gemacht hatten […] begann die Hetze. Der Häuserrat, die Vertretung der besetzten Häuser in Frankfurt, war für Rudi Arndt »kein Gesprächspartner« mehr. Am Mittwoch den 29. März sollte der Gerichtsvollzieher erscheinen. Eine Abrißgenehmigung lag nicht vor, an einen Neubau – so wenig nötig er ist – ist erst in einem Jahr zu denken. Nach langen und sehr eingehenden Diskussionen der linken Gruppen wurde beschlossen, das Haus zu verteidigen. Das geschah aus der Erwägung heraus, daß die laufende Agitation zum Wohnungskampf nur dann Aussicht auf Glaubwürdigkeit hat, wenn die besetzten Häuser nicht widerstandslos geräumt werden. Über den Grad der Militanz wurde gesagt, daß diese sich lediglich nach den von der Gegenseite angewandten Maßnahmen richte.

Am 29. morgens sammelten sich etwa 400 Personen vor dem Haus, wo sie sich hauptsächlich mit dem Genuß von Ton Steine Scherben und Würstchen vergnügten. Da die Straße zu eng war, leitete die Verkehrspolizei die Autos um. Um zehn Uhr kam der Gerichtsvollzieher. Er betrachtete mit leichtem Mißvergnügen die Genossen, murmelte: »Das ist Widerstand« und verschwand. […].

Seit zehn Uhr bereitete die Polizeispitze (Knut Müller, Igor Voigt, Horst Vogel, Gorius) den Einsatz vor. Bis zum Beginn des Einsatzes, ca. 13.20 Uhr wurde verzweifelt nach dem Gerichtsvollzieher gefahndet, der seinen üblichen Geschäften nachging. Offensichtlich wollte die Polizeispitze um Amtshilfe gebeten werden. Da dieses Ersuchen nicht kam  suchte man eine andere Konstruktion, um den anlaufenden Einsatz zu legitimieren. Zwar war die Straße Kettenhofweg seit 10 Uhr durch die Menschenansammlung versperrt und der Verkehr umgeleitet. Als aber, durch die zutreffenden Gerüchte über einen unmittelbar bevorstehenden Einsatz der Polizei, höchst provisorische Barrikaden, u. a. bestehend aus Mülltonnen, gebaut wurden […] war dies der gefundene Grund den Einsatz, der praktisch nicht mehr zu stoppen war, zu legitimieren. PP [Anm. d. Red.: Polizeipräsident] Müller sprach von »bürgerkriegsähnlichen Zuständen« welche »dem Bürger nicht länger zugemutet werden könnten«. Ab halb zwölf formierten sich die Kolonnen der Polizei; die geniale operative Planung der Spitze brauchte bis 13.15 Uhr, um den Einsatzbefehl zu geben. […]

Daß die Polizei die Konfrontation suchte, hatte sich anderthalb Stunden zuvor auf der Zeil gezeigt. Dorthin waren mehrere hundert Personen in einer rechtlich unbedenklichen Spontandemonstration gezogen, um gegen die bevorstehende Räumung zu protestieren. Obwohl nichts, was den Bestimmungen entgegenläuft, geschah, befahl die Polizeispitze »Auflösung, Räumung«. Mit Hilfe eines Wasserwerfers wurde die Zeil freigespritzt, die Bevölkerung bekam auch einen Teil vom stinkenden Mainwasser ab. Nachdem dies geschehen war, konnte niemand von den Demonstranten noch mit einer rational kalkulierenden Polizeispitze rechnen. Diese wollten die Konfrontation, die Demonstranten wollten und konnten ihr nicht ausweichen, ohne ihre politischen Ziele zu verraten. So wurden denn die Barrikaden gebaut, Steine und Wurfgegenstände gesammelt.

Der Aufmarsch der Polizei in drei Kolonnen, begleitet von Wasserwerfern, mit Helmen und Schildern geschützt, von der simplen militärstrategischen Kombination der Artillerie und Infanterie diktiert. Die Strategen des Präsidiums sind über das Studium des ›Krieges‹ 70/71 anscheinend nicht hinausgekommen. Der Wasserwerfer spritzt, die Polizisten prügeln. Die ankommende paramilitärische Staatsgewalt wird mit einem Hagel von Steinen empfangen, der Wasserwerfer durchbricht die Barrikade, die Polizisten fangen an, einzelne herausgegriffene Personen zusammenzuschlagen. […] Der Polizeipräsident steht dabei und betrachtet dieses Vorgehen mit Gelassenheit. Zusammengeschlagenen Journalisten bescheinigt er, daß sie selbst daran Schuld hätten.

Aber die Demonstranten geben sich nicht geschlagen. Um jede zehn Meter Straße müssen die Polizisten kämpfen, nur mit Hilfe des Wasserwerfers kommen sie vorwärts. Allmählich drängen sie die Demonstration auf die Bockenheimer Landstraße ab. Dort machen sie Halt; sie müssen Halt machen. Aus der ungeordneten Menge hat sich spontan, ohne den Zusammenhang irgendwelcher Organisationen, ein Zentrum der Militanten entwickelt. Ein Hagel von Steinen nach dem anderen wird zwanzig Minuten lang auf die Kette der Polizisten geworfen, die nur kurzfristig Ausfälle wagen. Schon bei der Räumung der Ulmenstraße hatten Polizisten damit begonnen systematisch Steine zurückzuwerfen; der Erfolg war vergleichsweise gering – mehreren Kraftfahrzeugen wurden die Scheiben zertrümmert.

[…] Die Demonstranten lösen sich in kleine Gruppen auf. Die Straßenschlacht, von der Führung der Frankfurter Polizei angefangen und provoziert, hat zu einer faktischen Niederlage der knüppelnden Staatsgewalt geführt. 45 Beamte sind zum Teil schwer verletzt, weil sie von einer unfähigen, nur zur Brutalität bereiten Polizeispitze in eine Konfrontation getrieben wurden, in der nur die eine Seite eine Legitimation hatte: die kämpfenden Hausbesetzer und ihre Freunde. Die Reaktion der Presse und der offiziellen Organe war durchgängig im Tenor der Ratlosigkeit. Durch das Vorgehen der Polizei in eine Situation der Härte gedrängt, versucht Rudi Arndt nochmals eine Vermittlung mit dem Häuserrat, den er nach dem GO-IN schon längst nicht mehr als Gesprächspartner akzeptieren wollte. Er macht schwächliche Vorschläge; zwei Monaten solle den Kettenhofwegbesetzern noch Wohnzeit gegönnt sein. Die Delegation lehnt diesen Bestechungsvorschlag empört ab. Gegenüber der Presse lügt Arndt; es gäbe keine Verhandlungen. Später muß er die Tatsache doch zugeben.

Die Bevölkerung ist erregt. Im Laufe des Donnerstags und des Freitags vormittags werden in der Stadt in Schulen, Berufsschulen und Betrieben mehr als vierzigtausend Flugblätter verteilt. Es wird aufgefordert, zu einem Tribunal am Freitag nachmittag zu kommen, am Samstag den 31. soll eine große Demonstration gegen Mietwucher und Wohnungsnot stattfinden. Bereits am Donnerstag Nachmittag verbietet die Polizei- und Ordnungsbehörde beide Veranstaltungen mit Hinweis auf die gewaltsamen Auseinandersetzungen vom Mittwoch. Der Asta verzichtet auf Einspruch beim Verwaltungsgericht; unter den Richtern ist ein Hausbesitzer aus dem Westend. Am Freitagabend um 17.00 Uhr sammeln sich mehrere hundert Menschen im Steinweg an der Hauptwache. Da kein Tribunal stattfindet, greift die Polizei in die breitere Diskussionen nicht ein. Auf dem anschließenden teach-in in der Universität wird bekannt, daß das Verbot aufgehoben sei. Am Samstag um 1 Uhr treffen sich am Opernplatz mehr als fünftausend Menschen, um ihre Solidarität mit dem militanten Wohnungskampf zu bekunden. Die Polizei verteilt ein durch und durch unverschämt gehaltenes Flugblatt, in dem erklärt wird: »Das Verbot bleibt bestehen!« Lediglich ein Zug durch das zu dieser Zeit unbelebte Westend wird gestattet – unter der Voraussetzung, daß sämtliche »Waffen« d.h. in der Polizeisprache »Stöcke, Farbbeutel, Steine etc« abgelegt werden. Der riesige Zug zieht durch die Straßen des Westends, in den Parolen wird Bezug genommen auf andere besetzte Häuser. »Wer die Schuhmannstraße räumt, hat für immer ausgeträumt« – »Die Bockenheimer – nimmt uns keiner.« Immer wieder der Ruf vom Mittwoch, der den militanten Widerstand begleitet hat: »Hände weg vom Kettenhofweg«

Nach einer knappen Stunde Marschzeit trifft der Zug wieder am Opernplatz ein. Ein Teil der Demonstranten zerstreut sich, Asta und der Rat der besetzten Häuser halten eine Kundgebung; geschützt von Polizeiketten hört Rudi Arndt zu. Nach dem heiteren Marsch durchs Westend sucht niemand hier die Konfrontation. In kleinen Gruppen begibt man sich zur Hauptwache, an der bald alle Seiten von Passanten und Demonstranten verstopft sind. Eine kleine Gruppe von ca. 200 Mann versucht die Demonstration auf der Zeil fortzusetzen. Jetzt zeigt die Führungsspitze der Polizei wieder ihren Willen zur Konfrontation. Sofort jaulen die Mannschaftswagen herbei, eilen Polizisten in ihrer kriegsförmigen HJ-Montur herbei. Die Demonstranten flüchten auf die Gehwege. An verschiedenen Seiten spritzen die Wasserwerfer in die Menge. […] Wieder wird die Konfrontation um jeden Preis von der Polizei gesucht. Wieder wird erst bei ihrem brutalen Angriff Widerstand geleistet. Steine, Stühle, Latten fliegen durch die Luft. Die Menge ist desorganisiert und flieht. Der Polizeiführung kann diesmal ein teuer erkaufter Sieg gemeldet werden – der erkauft wurde durch die Aufgabe aller Bestimmungen, die das Verwaltungsrecht der Polizei zuspricht.

Für die Linke war dieser Samstag weder ein Sieg noch eine Niederlage. Am Kettenhofweg war man dann auf eine Konfrontation vorbereitet; an der Hauptwache nicht. Die an der Zeil entstehende Demonstration war spontan und deshalb rechtens; das einzige, was zu befürchten war, war die Begleitung der Polizei. Faktisch wurde ein Demonstrationsverbot nicht nur ausgesprochen, sondern durchgeführt – eine Demonstration, die sich in einer politisch bedeutsamen Situation nicht durch die Innenstadt bewegen darf, ist so gut wie verboten.

Am Mittwoch, den 4. April wurde das Haus Kettenhofweg 51 geräumt. 700 schwerbewaffnete Polizisten riegelten das Viertel ab. Die zehn Bewohner des Hauses waren zuvor von sympathisierenden Polizeibeamten gewarnt worden; sie beschlossen die Räumung ohne Widerstand über sich ergehen zu lassen, da ihrer Meinung nach durch die militanten Auseinandersetzungen in den Vortagen das Ziel einer breiten Öffentlichkeitswirkung erreicht sei. Sie wurden festgenommen, auf das Polizeipräsidium gebracht und erkennungsdienstlich behandelt. […]

Am Nachmittag des Tages fand ein teach-in in der Universität statt. Dabei versuchte die sogenannte KPD, die sich ulkigerweise als legitime Nachfolgeorganisation der KPD der Weimarer Zeit empfindet, sich an die Spitze der Massen zu setzen. Sie tat dies, indem sie versuchte, ihr Lautsprechergerät für sich zu monopolisieren. Sie wurde lautstark ausgepfiffen und erhielt etliche Kopfnüsse. Auch Cohn-Bendit, der sagte: »In Frankfurt sind schon zwei marxistisch-leninistische Organisationen kaputtgegangen, auch diese wird nicht überleben«, konnte keinen Frieden stiften; als die Rangelei sich steigerte, zogen die Zuhörer des teach-ins auf die Straße und formierten sich zu einer mehrere tausende zählenden Demonstration. Am Ende dieser Kundgebung machte ein Sprecher des Häuserrats […] darauf aufmerksam, daß Rudi Arndt »die Stirn habe« sich hier sehen zu lassen. Spontan bewegte sich eine große Gruppe von Demonstranten über die Fahrbahn und keilte den für die Räumung des Kettenhofweges Verantwortlichen unter den Worten: »Rudi Arndt – wir haben dich gewarnt« und »Rudi, du Gangster, bald bist du weg vom Fenster« ein. Mit großer Mühe trat Arndt den Rückzug an, der freilich nicht gerade heroisch war. Er bekam Schläge und wurde ins Gesicht gespuckt. Sein Leidensweg war einige hundert Meter lang; größeren Beschädigungen wurde der Mann, der beim Betrachten von Demonstrationsfilmen dumme Witze zu machen pflegt, nicht ausgesetzt. Die Sprechchöre um ihn herum heizten ihm genug ein. Als an der Berliner Straße eine Hundertschaft auftauchte, flogen Tränengaspatronen, weinend flüchtete der Frankfurter OB vor der aufgebrachten Masse in die Arme seiner Beamten.

Arndt hat das weißgott spontane Vorgehen der Demonstranten als »faschistisch« bezeichnet. Diese Wortwahl ist nicht nur diffamierend, sie zeigt auch das für Sozialdemokraten bezeichnende historische Verständnis. Keine Beule hat Rudi Arndt vorzeigen können; die Masse, die ihn mit Sprechchören bedachte, hätte ihn ohne weiteres zusammenschlagen können. Aber eine Masse, die spontan handelt, die dabei sich nicht von ihren berechtigten Gefühlen übermannen lässt, für Rudi Arndt ist sie »faschistisch«. Nach der Terminologie ist jede Revolte und jede Revolution der Geschichte ›faschistisch‹; denn wenn etwas geändert wird, dann wird zumeist auch Gewalt gegen Personen und Sachen angewendet. Unsere Gesellschaft ist so angelegt, daß nur das Ausbrechen aus den Normen dieses Systems Aussicht auf Erfolg hat. Von linker Seite wurde der schale Vorwurf der Personalisierung und damit im Zusammenhang das Wort von der ›Charaktermaske‹ gebracht. Sicher wäre es albern, Rudi Arndt als einen Gesinnungstäter zu betrachten, der sich gegen den Rest der Bevölkerung mit den Spekulanten verbündet hat. Aber Rudi Arndt ist nicht nur ein Symbol und solche Symbole werden halt manchmal angespuckt – Rudi Arndt hat auch eine individuelle Verantwortlichkeit. Es hat ganz allein von ihm abgehangen, wie die Polizeieinsätze aussahen, es hing von ihm ab, ob das Haus Kettenhofweg 51 geräumt wurde oder nicht. Rudi Arndt hat diese Einsätze persönlich geleitet, er hat die Räumung persönlich verantwortet, nichts davon war für ihn zwingend. In der Tat sind anderwärts Entscheidungen nicht in dieser Weise auf einzelne Personen zurückzuführen; Herrmann Abs ist nicht der deutsche Kapitalismus; sondern der Kapitalismus ist ein gesellschaftlicher objektiver Zusammenhang, der zu durchbrechen ist. Wo aber Entscheidungen so sichtbar von ausmachbaren Personen getroffen werden, dann sind diese konkreten Personen keine Charaktermasken, sondern festmachbare und bespuckbare Individuen, denn sie sind nicht der blinde Exekutor, sondern haben einen Spielraum, in dem sie entscheiden können. ›Personalisierung‹, ein Begriff, der aus Adornos Authoritarian Personality stammt, meint etwas ganz anderes, nämlich die Reduktion objektiver gesellschaftlicher Prozesse auf das Handeln einzelner Personen. Auf die Kommunalpolitik Frankfurts war das nicht gemünzt.

Adorno selbst hat über die Personalisierung kurz vor seinem Tode noch eine hübsche Geschichte erzählt. Adorno träumte: er liegt auf dem Boden, über ihm schwingt Hans Jürgen Krahl ein Messer. Adorno sagt: »Aber Herr Krahl!« Sagt Krahl: »Herr Adorno, sie personalisieren!«

›Spekulantenschweine‹

Die Agitation einiger Gruppen richtet sich immer wieder gegen die ›Spekulanten‹. In der Tat spielen diese Frankfurter Juden eine finstere Rolle. Trotzdem ist zu fragen, ob es richtig ist, sie zum zentralen Angriffsobjekt der Agitation zu machen. Die Spekulanten sind sichtbar und bei der Bevölkerung verhasst. Sie treiben mit unglaublicher Rohheit Mieter aus ihren Wohnungen, lassen Häuser leerstehen und verfallen, beuten schamlos ausländische Arbeiter aus.

Wer sind diese Spekulanten? Es sind dies eine Gruppe von vielleicht zwanzig jüdischen Geschäftsleuten, die systematisch seit Mitte der sechziger Jahre das Frankfurter Westend aufkauften und den Prozeß der Wohnraumzerstörung einleiteten. Aber: die Vorstellung, die sie geben, ist falsch. Preisler und Buchmann, Markiewicz und Rosen sind nicht die Besitzer von Hunderten von Millionen Mark. Diese hätten sie haben müssen, um tatsächlich für sich all die Häuser und Grundstücke zu kaufen, die sie nominell erworben haben.

Wer eine kleine Strumpffabrik besitzt, wie der Preisler-Clan, der hat nicht das liquide Kapital, um dreißig Häuser im Westend zu kaufen, um Hochhäuser zu bauen. Diese Gelder, wie die Grundstücke, gehören ihnen nicht, sondern den großen Banken. Der Bank für Gemeinwirtschaft, der Deutschen Bank, der Dresdner Bank, ausländischen Bankiers […]. Die Spekulanten sind Strohmänner der Banken, die mit einem Zynismus sondersgleichen operieren. Sie bleiben im Hintergrund, während die durch KZs geschleiften Juden ihnen die Drecksarbeit abnehmen und in der bürgerlichen Mitte einen offenen Antisemitismus erzeugen. Wieder ist es ›der Jude‹, der ›raffig‹ alles aufkauft und ruiniert. Der berechtigte Haß der betroffenen Bevölkerung richtet sich nicht gegen die Banken der Monopole, sondern gegen Handlanger, deren Leben vom deutschen Kapitalismus so zerstört worden ist, daß sie – überlebend – nichts mehr machen können als Geschäfte. Diese Rolle der Spekulanten muß gesehen werden, auch wenn das Einbußen in der Solidarisierung ergibt. Die klassische Zirkulationssphäre, in der es reale Geldbesitzer gab, die spekulieren konnten, ist durch die Monopole liquidiert. Die heutigen Spekulanten sind Falschspieler; sie führen uns einen Kapitalismus vor, den es nicht mehr gibt. Diejenigen, die Steine in die Industrie- und Handelskammer, die Börse warfen, haben mehr davon begriffen als diejenigen, die sich so erfolgreich auf die ›Spekulantenschweine‹ einschießen und geschickt mit dem Antisemitismus der Bürger und Kleinbürger operieren. Der Angriffspunkt des Häuserkampfs muß noch mehr die SPD, müssen die Banken sein. Das ist undankbarer, hat aber den Vorzug, die Situation so einzuschätzen wie sie ist.

 

H. Gerte, D. Georg, R. W. Scott

diskus, 1973, 23. Jg.

 

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