Die Welt als Vorstellung und Bahnhofsviertel
Ankunft aus der Provinz
Die bekannte Welt der Provinz endet auf dem Bahnhof der Metropole. Der Blick ist beim Aussteigen auf das Suchen nach Merkmalen der Provinz geschult. Sie sind vertraut und verhaßt. Alles andere ist exotisch, biegt sich unter dem provinziellen Blick. Ihm entgehen die Zusammenhänge, er beobachtet Einzelheiten. Das Auge ermüdet rasch, der Körper läßt sich auf die Kaiserstraße treiben. Die Dressur in der Provinz übt das Gedächtnis. Ein Gedächtnis, das Gefühle leicht wieder verliert, weil es das Atmosphärische auf den Begriff bringen muß. Unsere provinziellen Begriffe sind sehr alt; bald verstummt der Mund, wir hören unsere Begriffe entstammen reaktionären Ideologien. Wir lernen die neue Sprache, die unsere Sprache glatt und scharf denunziert. Zu unserem PROVINZHASS, den wir auf der Haut tragen und in den Gesichtern, die den Menschen in der Metropole naiv vorkommen, tritt der PROVINZHASS, weil wir in der Metropole sprach- und begriffslos sind, weil wir, unserer Provinzerfahrungen unsicher, diese in Kisten packen wie unsere Möbel, Bücher, Bilder, Kleider. Wir treten auf die Kaiserstraße. Immer öfter, immer weniger zufällig. […]
Schritte daneben
Die Vielfalt der Leere verstellt lang den Blick für die Analogien der aufgesuchten Orte. Zufällig sind die ersten Schritte ins unbekannte Gebiet der Stadt. Unsicher sind diese Schritte in die Vielfalt der Metropolenstrukturen; die regionalen Strukturen waren vertraut, die Vielfalt der Provinz liegt in den oft kaum wahrnehmbaren Differenzen einer langzeitigen Monotonie. Es ist das immer Gleiche, die Räume, die Zeit, die Menschen und es erfordert ein Menschenleben, um Bewegungen zu verfolgen. In den Gesprächen entdecken wir unsere prämetropale Geschichte neu. Wir sind aus den deutschen Provinzen angereist, auf unterschiedlichen Wegen, mit Erfahrungen, die uns nicht länger fremd sind. Wir kramen sie hervor - es fällt uns immer leichter. […]
Provinznachrichten
Vertraute Abstrusitäten kommen über die Metropolenblätter in die Stadt. Eine Mundartwelle schwemmt Dichter und Theater heran. Und dann macht die Provinz Politik: der Widerstand gegen Atomkraftwerke. Die ersten wandern von der Stadt aus aufs Land. Die Provinzmenschen haben Geduld mit den vorläufigen Endstationen der städtischen Anfänger.
Aber was beginnt - hat begonnen: eine Verstädterung der Provinz oder eine Provinzialisierung der Stadt? Die Zuflucht zu Theorien wird vergeblich; die Provinz ist theorielos und die Städte sind ohne Theorie geworden.
Suche nach Mittelpunkten
Auf den Karten finden wir verschiedene Zentren aber keinen Mittelpunkt. Es gibt statische Orte, nur die Wahrnehmung wandelt sich. Wir als Umherschweifende befinden uns in einer Metamorphose; die realen Veränderungen sind reaktionär.
Die Sehnsucht nach Mittelpunkten entsteht, wenn einer entdeckt, daß sein Mittelpunkt das Ghetto ist, aus dem er fliehen will. Wir machen uns auf die Suche nach Mittelpunkten in den ausgestorbenen Vierteln. Die Kaiserstraße war als Mittelpunkt konzipiert. Heute ist der Bürger abwesend, der Mensch als Kapitalist ist nicht mehr da. Es flanieren keine Reichen noch sind sie Bohemiens. Der Begriff der Metropole ist herab gewürdigt zu einem falschen Popanz. Am Tag geht das Leben nach den Stechuhren, nachts ist es ärmlich. In der Nacht gibt es keinen Dunst des Volkes. Die armen Männer verschwinden bei den Nutten, die Reichen holen sie sich ab.
Die offenen feudalen und bürgerlichen Herrschaftsstrukturen der Metropole sind nach dem Krieg die einer Trümmerverwertungsgesellschaft. Ist die Frankfurter Metropole nun mehr ›Klaa Dschigago‹? Die Kopie der Gründerzeit aus der ›Mischung‹ Paris/Berlin wurde zur politischen Metropole in der Studentenrevolte. Aber nur noch in den Chefetagen der Bankhochhäuser ist das Welt-Flair. Das ist provinziell.
Das Provinzielle der Frankfurter Metropole
In den europäischen Metropolen gibt es keinen Provinzialismus: Paris, London, Venedig, Rom, Petersburg; der fehlende Zentralismus in Deutschland wird ersetzt durch die provinzielle Imitation einer Idee von zentraler Gewalt. Der Abzug in die Provinz bedeutet die Flucht aus den provinziellen Strukturen der Stadt. Es fehlen in der Stadt Segmentierungen, sorgfältig sind die Stadtviertel entmischt, es gibt keine Schmelztiegel wie in europäischen und amerikanischen Metropolen. Frankfurt ist wie alle deutschen Städte lächerliche Provinz. Das Frankfurtbild der Merianhefte entlarvt Frankfurt als Provinz. Die offizielle Werbung der Stadt weiß nur noch mit provinziellen Klischees ›Lebensqualität‹ zu beschwören.
Subjekt und Beton
Die Erfahrungen sind die der Zwangshandlung. Wenns um Überleben geht, muß ich mir die Frage nach der Selektion stellen: Wo schalte ich ab, um nicht ausgeschaltet zu werden?
Beton ist ein Kriegsprodukt. Es bereitete dem Spätkapitalismus den Weg. Es gibt keinen Bürgersteig, die pseudodemokratischen Fußgängerzonen sind betoniert und mit zusätzlichen Betonklötzen verziert. Es wird Platz gemacht für einen Weg durch die Straßen. Der Flaneur macht Räume zu Lebensräumen. Dagegen: der abstrakte Raum des Profits: Banken, Dr. Müller, Boutiquen. Immer endet der Schritt in Beton.
Alles reduziert das Subjekt auf Vorstellungen, was es wahrnimmt, erträgt es nicht mehr. Die Vorstellungen sind nicht mehr auf Realität aus, eine gefährliche Resignation.
Trotzdem: Frankfurt ist nicht Venedig. Die Sentimentalität der kulturellen Werte kommt nicht auf. Aber was könnte Erinnerung heißen? Gerade deshalb, weil nichts mehr ist, fällt es schwer zu erinnern, was einmal war. Wäre ich ein Reisender, der zufällig nach Frankfurt käme, was bliebe da übrig an Erinnerung? […]
Der auftauchende Fahrradfahrer
Fahrradfahren kann man eigentlich nur noch außerhalb der Stadt, mithin in der Provinz. Da nur darf eine Fortbewegungsart Freiräume sich erschließen, die in der Metropole, als anachronistisch denunziert, aus dem planerischen Bewußtsein (und nicht nur aus diesem) längst verdrängt scheint.
Im Zuge der Trimm-Dich-Bewegung unserer neuen freien Zeit sollen wir, gleichsam auf die Rennsättel der superleichten, titanlegierten Daimler-Steyr-Puch-Luxusgefährte geworfen, hinaus in die intakte Natur und lauen Winde, um jenseits von Strassenschluchten und asphaltwabernden Rennstrecken die schlechte Wirklichkeit zu verdrängen.
Dieweil wird das wahr, was so in der Werbung schon angelegt ist: Wo wir uns aufhalten, da können wir nicht leben. Die von Freiheitsversprechen zugedeckten Widersprüche scheinen aber zwischen Metropole und Provinz gegeneinander strebend zu sein. Das Fahrrad war in der Provinz mehr von einem Gebrauchswert behaftet, einfaches und funktionales Vehikel, das in der räumlichen Geschlossenheit alle notwendigen Gänge möglich macht. Die Blicke waren nicht verstellt oder eingeengt, es war ein Raum der Bewegung. Reden wir nicht von den flachen Landstrichen, wo das Rad sowieso zum Alltag gehört.
Wo die Provinz nur unzureichend an öffentliche Verkehrsmittel angeschlossen ist und der ökonomische Zwang zu größerer Mobilität den Landmenschen als ›Einpendler‹ in die Metropole zwingt, ist dem Individualismus des Autoverkehrs schon das Wort geredet. Wir beobachten alltäglich die Flut der Autos auf den Stadteinfallschneisen. Das Fahrrad setzt derweil im Hofwinkel Rost an und verleitet höchstens die Jungen und die Alten. Wie kommst du denn zur nächsten Disco, wenn nicht mit dem Auto.
Die Stadt allerdings, die nicht nur heimliche Beherrscherin der Provinz schneidet mit Kleingärten niederlegender und Stadtteile durchbrechender Konsequenz scheinbar alle Möglichkeiten ab, ein Verhältnis zu seiner Umgebung überhaupt noch herstellen zu können. Das Auto hinterläßt allgegenwärtige Spuren auf den Straßen: Glassplitter überall. Meine sinnlichen Wahrnehmungen werden aufs Pflaster gezwungen und allseitig eingeschränkt. Weiche ich aus, schon wird ein Auto mich an den Straßenrand drängen. […]
Aus dem Stadtentwicklungsplan
»Die Begründung der Begrünung liegt in der Nummerierung der Bäume«
»Wenn das Gras nicht zurückgebissen wird…«
BFG-Hochhaus
Das Großbürgertum kann nur solang existieren, solange es Anleihen beim Adel machen kann. Eigentlich sollte in der Kaiserstraße das Großbürgertum angesiedelt werden: ein Zoo, der leer steht. Der Bürger lebt in Kronberg und Königstein. Die Eroberung des Raums nach oben hat das Bürgertum begonnen, im Feudalismus konnten sich die Banken ausbreiten. Die Räume rücken zusammen.
Die Architektur versachlicht sich, die Bilder verschwinden, mit der Überflüssigkeit können wir nichts mehr anfangen. Sie verunsichern uns in ihrer unbekannten Bedeutung. Am Hochhaus ist kein Bild, es ist ein Abstraktum. Was jetzt repräsentiert wird ist die Repräsentation der Macht als Technik. Die Reduktion der plattesten Phallokratie: Je höher die ›Leistung‹, desto höher die Bank. Je höher das Stockwerk, desto höher der Rang derer, die darin sitzen. Die Statik verlangt immer noch ein paar Stockwerke mehr. Die Kapitalmacht wird sinnlich wahrnehmbar. Futurologie: Momente, die das Dorf nicht haben kann. Der futurologische Kongreß findet im BFG-Hochhaus statt. […]
Fließbandgenüsse bei Burger King
- SELBSTBEDIENUNG ZAHLT SICH AUS: KLEIN DER PREIS UND GROSS DER SCHMAUSS
- WHOPPER? DEN PACKST DU NUR MIT BEIDEN HÄNDEN
- WIR HOFFEN, ES HAT EUCH GESCHMECKT, BEI BURGER KING IST STETS DER TISCH GEDECKT
Ich frage: »Ist es gut, hier in der Kaiserstrasse zu stehen?«
Die Alte: »Ich bin studierte Neurologin. Studenten kommen auf mich zu. Das Jugendheer kommt auf mich zu. Es gibt kein Recht mehr. Man hat mich ausgenutzt.«
Ich: »Fühlen sie sich verfolgt?«
Die Alte: »Banditen. Überall! Ich bin nah am Tode und ich kämpfe immer weiter. Es ist gut hier in der Strasse. Ich muß aufpassen, sonst holen sie mich.«
Ich: »Woher kommen sie?«
Die Alte: »Ich komme aus Breslau. Ich war die Leiterin aller Nachtwachen sämtlicher Krankenhäuser. Ich war in Bayern. Ah, Wunderdoktor Niederbayern.«
Ich gebe ihr Geld. Sie nimmt es mit einer Handbewegung, als ob ich es ihr nicht gegeben hätte. Sie grüßt tief.
Es ist 22.15 Uhr. […]
- WARME APFELTASCHEN ZUM KAFFEE FÜR DAS KLEINE PORTEMONNAIE
- DER BURGER KING LIEBT SAUBERKEIT, IST'S NICHT ›TIP-TOP‹ SAGT IHM BESCHEID
Der Archivar (8.7.76)
»Über die Kaiserstraße weiß ich wenig, denn der richtige Frankfurter ist da gar nicht hingekommen. Diese Straße hat mit Frankfurt nichts zu tun; die Frankfurter konnten da nicht einkaufen, die Geschäfte waren zu fein. Da will ich nur den Juwelier Koch nennen. Bei dem hat der Krupp für seine Frau eine Halskette für weißgottwievieltausend gekauft. Wir haben davon gehört. Aber für den Frankfurter war das geradezu schon ungemütlich. Man konnte in den Geschäften mit den Geschäftsleuten nichts reden, außer man kaufte für einen Batzen Geld ein. Wir Frankfurter kauften in der Fahrgast und um den Dom herum. Sie können sich nicht vorstellen, was für ein Leben da war. Viel mehr als in der Kaiserstraße. Da waren die echten Frankfurter. Da konnte man schwätzen, auch in den Läden und wurde nicht schief geschaut, wenn man nicht gleich etwas kaufte. Der Frankfurter hat in der Kleinmarkthalle gekauft. Ich weiß jetzt gar nicht, warum ich Ihnen das alles sage. Die Kaiserstraße interessiert mich eigentlich nicht. In meinem Bekanntenkreis wohnte da niemand. Atmosphäre gabs vielleicht schon; jedenfalls mehr als heute. Heute gehn die Geschäfte kaputt. Die Kaiserstraße ist vergleichbar mit der heutigen Bahnhofsstraße in Zürich. So schön war die Kaiserstraße auch... aber dann kam der Krieg. Der Frankfurter erinnert sich nicht gern. Der Bahnhof wurde zum Verhängnis. Da stiegen die Soldaten aus, die wollten nicht weit laufen bis zu ihrem Vergnügen. Dann haben die Amis ihre ganzen Puffs reingemacht. Und die Juden. Die Stadt hatte Angst, ihre Geschäfte zu stören, nach dem, was passiert war. Das alles stößt mir schon sauer auf. So ne Scheiß Straße. Die Fremden werden sagen: so ne Scheiß Stadt. Das tut mir schon weh ...«
[…]
Ewige Kaiserstraße
Durchbruch der Wallanlagen und Niederlegung, das sind die zentralen Begriffe des wirtschaftlich-ökonomischen Aufschwungs noch des gründerzeitlichen Frankfurts: Nachahmung der mächtigen Vorbilder Berlin, Paris und London. Die Kaiserstraße sollte fürderhin »Nützlichkeit mit Zierde verbinden«. Das war 1873 und die Kaiserstraße hörte an der Taunusanlage/Gallusanlage auf. Mit dem Bau der stahlskelettierten Ruhmeshalle Hauptbahnhof 1888 auf dem Galgenfeld mußte die Kaiserstraße bis dorthin verlängert werden: Objekt der Repräsentation, feierlicher Aufmärsche und wirtschaftlicher Konzentration.
Gesäumt von wuchtig-imposanten Hotels, noblen Cafés und gediegenen Geschäften war sie eine wohlrenommierte Adresse. In dem Maße aber, wie der 2. Weltkrieg dann Breschen in die behäbigen Fassaden schlug, versanken auch die Erinnerungen an sie auf dem Trümmerhaufen.
Kaiserstraße: um den geschichtsträchtigen Ort der Krönungen zu dokumentieren, so interpretierten es die einen; Symbol der Reichseinheit durch den herrlich jungen Kaiser, die anderen. Nach dem Krieg schien es nie einen Nationalismus gegeben zu haben, die Kaiserstraße ward in Friedrich-Ebert-Straße umgewandelt: das verpflichtete alle. Aber wie wurde die Kaiserstraße während des 3. Reiches genannt? Hitlerallee?! Die archivierten Dokumente verschweigen dies und eine solche Vergangenheitsbewältigung erklärt nichts als eine Geschichtslücke. Es ging nun mehr um einen Realienstreit, als die Kaiserstraße wieder in ihr angestammtes, übergeschichtliches Recht eingesetzt werden sollte, bis zum 9. Juni 1955 Friedrich Ebert eine neue (letzte?) Ruhestätte am ehemaligen Hohenzollernring zugewiesen wurde und die Frankfurter hatten ihre Kaiserstraße wieder. Doch hielten sie nicht nur den Schein einer belebten Vergangenheit in den Händen? Die Kaiserstraße gleicht einem musealen Objekt: vom Roßmarkt bis zur Gallusanlage, vorbei am Kaiserplatz und dem Frankfurter Hof, sonnt sich in vergangenen Tagen und der Rest dieser stummen Meile bis zum Hauptbahnhof lebt aus Rechtfertigungen. Die vielbeschworene Exklusivität der Ladengalerie im BFG-Hochhaus ändert daran keinen Deut.
Ohne AutorIn
diskus, 1985, 29. Jg, H. 1, S. 8-25