diskus: Wir haben zu dieser Diskussionsveranstaltung unter dem Titel Was war Stadt? großzügig Leute angefragt, um über den Stand linker Kämpfe im städtischen Raum zu sprechen. Wir stießen in unserer Archivarbeit immer wieder auf Stadt und die damit verbundenen politischen Kämpfe als zentrales Thema. Es zeigt sich, dass bestimmte Fragestellungen der 1960er, 70er und 80er Jahre teils heute noch diskutiert werden. Die folgenden zwei Zitate deuten das Sprechen über Stadt als Bezugspunkt, mit besonderem Blick auf Frankfurt, an:

 

»Stadt ist Bewegung, Gewühl, strömende Massen, die sich an Beton brechen – gesichtslos. Das Versprechen der Stadt ist, gleichzeitig Zentrum zu sein, welches das Chaos ordnet, kulturelle, politische und gesellschaftliche Bezugspunkte setzt. Stadt als Metropole soll der Standort sein, von dem aus das Ganze begreifbar, von dem aus Geschichte gemacht wird. Diese Bedeutung von Stadt ergibt sich von selbst, ungesteuert aus dem gesellschaftlichen Leben, quasi anarchisch, hinter dem Rücken der Bewohner.« (Postmoderner Biedermeier, diskus 1983; H. 4-5)

 

»Frankfurt, eine der ältesten freien Reichsstädte, Messestadt, Kaiserkrönungsstadt. [...] Die Stadt der höchsten Häuser, Mittelpunkt der Geldzirkulation, Schnittpunkt der Verkehrsführung, die zerstörteste Stadt und die verrufenste mit erschreckend hoher Kriminalitätsrate, die Stadt der gewalttätigsten Auseinandersetzungen, eine Stadt die 68 politisch bestimmend war, in den siebziger Jahren ihre Sponti-bewegung, offensichtlich ein Zentrum Links-intellektueller Auseinandersetzung mit dem ausgeprägtesten linkskulturellen Angebot, Stadt der Frankfurter Schule, als Solche in aller Welt bekannt (für andere als Deutschlands Flughafen), die allgemein als Bewegungsgrund des Protestes gesehen wird – eben: die umstrittenste Stadt. Es muß was dran sein an dieser Stadt.« (In der Stadt, diskus 1979, H. 1)

 

Eines der Grundthemen, das sich durch die verschiedenen Ausgaben und Artikel zieht, ist die Reflexion über die Vorstellung oder ein Bild der Stadt, vielleicht auch eine Art Versprechen, das sich daraus ergibt. Im Kontrast dazu wurde immer auch die real lebensweltliche Erfahrung angebracht, die geprägt war von Repression, Prekarisierung und einem gewissen Scheitern der Kämpfe.

Wie bestimmt dieser scheinbare Widerspruch zwischen einem Versprechen, einen Bild oder einer Vorstellung der Stadt und dieser realen Lebenserfahrung unseren und euren spezifischen Zugriff auf das Objekt Stadt?

 

lars: Wenn es um so etwas wie Urbanität als Lebensgefühl geht, würden wir zunächst sagen: Kapitalismus ist die Konkurrenz aller gegen alle zum Vorteil und unter kultureller Hegemonie des weißen männlichen Bürgertums. Das mag allen Teilnehmenden als banal erscheinen, denn die einzige Klasse, die es sich leisten kann, das immer wieder zu vergessen, ist das Bürgertum oder die staatlich finanzierte Zwischenform der Mittelschichten mit ihrem gesellschaftlichen Führungsanspruch. Banal ist es deshalb aber gerade nicht, wenn wir beachten, dass wir hier in einer der reichsten Metropolregionen Europas wohnen. Dazu kommt, dass wir eine der wichtigsten politischen Einrichtung der europäischen Binnenpolitik, die EZB, hier zuhause haben.

Gleichzeitig war diese Stadt schon immer von einem sehr reichen Bürgertum geprägt. Und die sogenannte Finanzialisierung hat dazu beigetragen, dass noch mehr der Kommandozentren des Kapitals, wie Banken, nach Frankfurt gekommen sind. Wichtig ist das deshalb, weil wir sagen würden, Wohnfragen sind Klassenfragen. Das hat auch eine Auswirkung auf die städtische Zusammensetzung. Wohnen ist hier teuer – das wissen wir vermutlich alle und das auch nicht erst seit gestern.

Entscheidend ist das, weil diese Urbanität oder dieses Gefühl eines Versprechens der Stadt eigentlich ein Gefühl der Mittelschichten ist. Es gibt kein allgemeines Versprechen. Hier ist einfach eine Stadt mit unglaublich viel Kohle und das zieht auch Leute mit unglaublich viel Kohle an. Wenn wir hier mal rausgucken, diese ganze Herrschaftsarchitektur, die Skyline, diese ganzen Häuser – da arbeiten vor allem Leute im Hochlohnbereich. Diese Urbanität ist damit ein brüchiges Konstrukt, ein Versprechen auf kosmopolitischen Umgang mit verschiedenen Kulturen, Museen, Kunst, die man angucken kann. Begleitet wird dieses Versprechen aber auch von einer Angst des Verlustes – diese Ängste sind auch aktuell sehr im Aufwind.

Dieses Versprechen gilt nicht für all diejenigen Personen aus dem Niedriglohnbereich oder der Arbeitslosenklasse, die grundsätzlich um ihren Zugang zur Stadt fürchten müssen.

 

daniel: Um auf die Frage des Widerspruchs zurückzukommen. Ich habe überhaupt nicht verstanden, wo diese Dichotomie herkommt. Also wie man einerseits Politisierung mit einem utopischen Moment gleichsetzt und auf der anderen Seite die reale Stadt, wie sie existiert, positioniert. Wenn man sich in die städtischen Kämpfe zurückversetzt, dann waren das immer Debatten, die ihren Ausgangspunkt in der konkreten Realität der Stadt gehabt haben. Es waren Kritiken an der Stadt, die Entfremdung, Unterdrückung oder Segregationsprozesse aufgegriffen haben und versuchten, daraus ein utopisches Moment zu entwickeln. Dieser Slogan Recht auf die Stadt war daher immer eine utopische Antwort auf diese entfremdeten Wirklichkeiten. Und daher würde ich sagen, dass es schon immer eine sehr verschränkte Debatte zwischen Kritik und Utopie war.

Wenn die Städte so hergestellt sind, wie sie es sind, und dabei ganz zentrale Ankerpunkte kapitalistischer Vergesellschaftung sind, dann werden Städte zu den Orten, die die revolutionären Subjekte hervorbringen. Und es ist durchaus wichtig, die Stadt auch weiterhin als utopisches Moment zu setzen und sie eben nicht als Ort der Mittelschichten abzuschreiben, wo sie ihrer eigenen Politik frönen können. Da kommt unsere Kampagne [Anm. d. Red.: eine Kampagne gegen die Wohnungsbaugesellschaft ABG, die als Unternehmen der Stadt Frankfurt agiert.] bis zu einem gewissen Punkt ins Spiel, weil Städte als kapitalistisch produzierte Orte auch spezifische Formen von Widersprüchen herstellen, in die interveniert werden kann. Dieses Kampffeld, das einem angeboten wird, müssen wir auch nutzen und es nicht einfach abschreiben.

 

mello: Daran würde ich gerne anknüpfen: Wenn ich Städte wie neue Fabriken, Räume der Verdichtung begreife, dann ist das Versprechen der Stadt Zentralität. Und diese Zentralität ist ambivalent, weil es sowohl die Stadt als die Zentrale von Reichtum, Macht, Wissen gibt, aber es immer auch einen Überschuss an Wissen, kultureller Produktion, Kreativität etc. gibt. Das birgt ein utopisches Moment in sich. An dem Punkt, in dieser Verdichtung, passiert auf engem Raum ganz viel und in einer sehr großen Heterogenität. Daher war die Stadt auch nicht immer nur Mittelstandsstadt, gerade Frankfurt zeigt das ganz gut. Es gab nicht nur ein Versprechen der Stadt für die Mittelschicht, sondern für alle, die Stadt eigentlich bevölkern, für eine Form von Teilhabe, die einfach darin besteht, dass es auf engem Raum so viel gibt.

Man kann es natürlich auch nicht nur abstrakt theoretisch sagen, sondern müsste noch eine subjektive Ebene reinbringen, die vielleicht für mich persönlich wichtig ist, weil ich auf dem Land aufgewachsen bin. Die Stadt hat natürlich noch das Versprechen, obwohl sie ein kapitalistisch organisierter Raum ist, unerwartete Situationen zu ermöglichen und, im Verhältnis zum Land, beinhaltet das Leben in der Stadt viel weniger soziale Kontrolle. Das wäre noch ein Punkt, an dem man aus einer politischen Perspektive ansetzen könnte, um diese Momente zu verstärken.

 

tobias: Ja, wir würden da auch gerne einsteigen, um diesen subjektiven Moment auch noch einmal hervorzuheben – in diesen doch recht abstrakten und theoretischen Debatten, die in relativ exklusiven linken Zirkeln geführt werden. Wir haben uns das so überlegt, dass Haytham konkret aus seiner Lebensrealität beschreibt, was ihn eigentlich dazu gebracht hat, nach Frankfurt zu migrieren.

 

haytham: Hello. I came here to have a better life. I come from Ghana, and travelled from Ghana to Italy and then I stayed in Italy for a long time. Because of the difficult conditions in Italy, I took the opportunity to come to Frankfurt. But also in Frankfurt I was sleeping under the bridge.

I don’t have a life. Shelter is a need of human being. Without a place to sleep like shelter – without the basic shelter you are not a human being. You can't even think straight. For example: After I came here, I ran out of money. So I applied for the visa, so I can work here. Negative, why? Because I have to rent an apartment. And the law here is, if you don't have the papers you cannot be hired.

So, in two weeks I shall leave this country. And, in Italy I was homeless. So I don’t know – where shall I live there? If I stay here, where shall I live? So we should come together and find a solution.

 

moritz: Das Versprechen der Stadt gibt es tatsächlich in allen Schichten und auch fast unabhängig davon, wo Menschen herkommen. Manche kommen wegen des Studiums her, manche kommen – und da ist das Versprechen von Frankfurt vielleicht ziemlich gut im Vergleich zu anderen Städten – um einen Job zu finden, um arbeiten zu können und manche kommen auf der Suche nach Schutz, auf der Flucht nach Frankfurt. Dann werden diese Versprechen bei vielen enttäuscht, ich glaube in unterschiedlichen Dimensionen und Ebenen – aber gerade diese Brüche und Enttäuschungen, die sich ergeben, sind für eine Linke in Frankfurt spannend, weil sie Brüche aufmachen, wo aus der Enttäuschung heraus Forderungen formuliert werden.

 

diskus: Speziell wenn man nach Frankfurt guckt, ist der Kampf um städtischen Raum schnell mit der Wohnungsfrage verbunden. Auch dafür haben wir uns mit einem kleinen Zitatenschatz bewaffnet, und zwar aus dem diskus aus dem Jahr 1985, da findet sich eine rückblickende Reflexion auf den Häuserkampf hier in Frankfurt:

 

»Die Momente der Hoffnung, diese Verhältnisse (sofern real existierend) könnten sich auswachsen zu einer Gesellschaft in der Gesellschaft, waren spärlich gesät. Man war sich eigentlich sehr wohl über die Unmöglichkeit eines ›Freistaates Bockenheim‹ im Klaren. Trotzdem taugte die Utopie für das politische und gesellschaftliche Überleben eine ganze Weile lang. Der Freistaat ist beiseitegelegt, man entdeckt wieder die ›freie‹ Stadt. Frei von ideologischen Zwängen wird die Stadt zur noch reichlich dürftigen Utopie. Was früher der Schrottkopp für den Straßenkämpfer war, ist heute die Stadt als Ganzes für den Metropolenschlenderer.« (Kein schöner Land in dieser Stadt, diskus 1985, H. 6-1)

 

Und daran anschließend noch ein zweites Zitat von 1974 – das ist auch noch von Joschka Fischer.

 

»Nun frage ich mich, was ist bei einer Hausbesetzung Gewalt. Man geht rein, man hat erst mal keine Wohnung, viele Leute hier in Frankfurt haben keine Wohnung. [...] Wo liegt da die Gewalt? Die Gewalt liegt doch im Wesentlichen darin, daß Eigentum, Privateigentum [...], direkt angegriffen wurde. Daß man hinnahm, was da existierte, daß man petitionierte, wie das der alte SDS tat, daß man versuchte, in Diskussionen zu überzeugen, mit exemplarischen Aktionen, mit Go-ins und sonst etwas, das alles hat keine Wohnung hergeschafft. Es war einfach die Tatsache, man hat sich die Wohnung genommen. [...] ›Gewalt‹ war der allgemeine Aufschrei [...].« (Revolutionärer Kampf, diskus: 1974, H. 2-3)

 

In den alten Heften scheint sehr stark auf, dass es zwei Zugriffe auf Stadt bzw. auf das Feld Wohnen gibt. Einmal – und das zeigt sich z. B. an Artikeln die sich mit dem Häuserkampf oder den Mieter*innenstreik beschäftigen – war es eine ganz konkrete Notlage oder Notwendigkeit Wohnraum zu brauchen und schlicht und ergreifend keinen zu haben. Die andere Dimension von Wohnen als Feld von Politik kommt eher aus einer studentischen Richtung, die aus dem Mief der Mansardenwohnung oder ihrem Dorf raus und neue Formen des Zusammenlebens und Identitäten ausprobieren wollte. Und damit war Wohnen auch ein Feld, das über eine Notlage hinausweist.

Wie seht ihr das oder wie greift man heute auf Wohnraum und städtischen Raum zu? Welche politischen Strategien liegen eigentlich euren Projekten zugrunde bzw. welche Strategie ist in Frankfurt heute noch machbar?

 

mello: Im IvI [Anm. d. Red.: Das Institut für vergleichende Irrelevanz war ein besetztes Haus in Frankfurt, das inzwischen geräumt wurde.] hat das Thema Wohnraum natürlich eine Rolle gespielt, aber sowohl im IvI als auch bei anderen Besetzungen, die danach gefolgt sind, stand es nicht im Zentrum. Es ging eher darum, eine andere Form des städtischen Raums zu erobern, sich Gebäude anzueignen, die leer standen und die für das zu nutzen, was einem gerade in der Stadt fehlt. Das war dann nicht nur Wohnraum, sondern auch Raum, um sich auszuprobieren, um einfach mal gemütlich mit wenig Geld ein Bier trinken oder auf subkulturelle Konzerte gehen zu können, einen Lesekreis zu machen oder wonach einem der Sinn stand.

Wobei das IvI auch Wohnraum war. Das hat aber sehr unterschiedliche Formen von politischer Auseinandersetzung nach sich gezogen. Am Anfang wollte man Centro Sociale sein, in dem gleichzeitig ganz viel öffentlich stattfinden kann und trotzdem gewohnt wird. Die ersten Jahre war es dann auch so, dass Obdachlose im IvI wohnen konnten. Der Centro Sociale Anspruch hat sich allerdings im Laufe der Jahre ein bisschen erledigt, weil es sehr, sehr anstrengend ist, wenn man in sozialarbeiterische und psychotherapeutische Rollen reinfällt, für die man nicht richtig ausgebildet ist. Und es kann sehr anstrengend sein, sich damit auseinanderzusetzen, dass man sich die ganze Zeit Leute ins Haus holt – in einem Projekt, das einen sehr großen gemeinsamen Grundkonsens erarbeitet hat – an den sich ein Teil der Bewohner*innen überhaupt nicht hält, weil sie einfach nur ein Dach über dem Kopf haben wollen. Und diese Problematik hat dann irgendwann dazu geführt, dass man den Großteil der Obdachlosen wieder rausgeschmissen hat. Es gab sehr schwierige Momente in dieser Auseinandersetzung.

Dann gab es das Wohnen immer noch und das sollte Teil des Projekts sein, aber diese Schwierigkeit zwischen dem öffentlichen Projekt und dem Wohnen, wo die Bewohner*innen auch zu Recht einen Anspruch auf Privatheit haben in bestimmten Räumen, war immer ein sehr schwieriges Feld. Was wohl auch dazu geführt hat, dass man bei den darauffolgenden Besetzungen das Wohnraumthema eher ausgespart hat. Weil, das muss man auch sagen, wir in einer privilegierten Situation gewesen sind: Die meisten, die aktiv waren, hatten eine Mietwohnung in Frankfurt, sodass andere Dinge in den Vordergrund rücken konnten, die uns gefehlt haben.

Allen Leuten, die im IvI aktiv waren, war es auch immer wichtig, dass man eine Politik der ersten Person macht und nicht stellvertretend für marginalisierte Gruppen in der Stadt Politik machen kann. Also man besetzt nicht ein Haus, damit Obdachlose, Junkies oder Refugees ein Zuhause haben – aber wir machen natürlich trotzdem Politik für Raum für das Selbst-Organisieren und Selbst-Unterstützen Anderer.

 

petra: Das ist ein ziemlicher Bruch, wenn man jetzt direkt im Anschluss von der ABG-Kampagne redet, als Versuch einer strategischen Intervention in die Stadt, aber ich mache es jetzt trotzdem. Die Bezüge muss man nachher herstellen.

Warum ABG-Kampagne? Also einmal gehört die Holding der Stadt Frankfurt, diese ist eine der wenigen Städte, die überhaupt ein städtisches Wohnungsunternehmen hat. Es ist die größte Wohnungsgesellschaft in Frankfurt, mit einem Fünftel der Mietwohnungen insgesamt in der Stadt selber. Sie machen einen hohen Gewinn und gleichzeitig eine unsoziale Politik in dem Sinn, dass sie selber hochpreisigen Wohnraum bauen. Viele Punkte, wo die ABG dran beteiligt ist, sind umkämpft oder es wird zumindest dagegen protestiert.

 

daniel: Der Hintergrund der Kampagne knüpft dabei ganz gut an die erste Frage, konkreter: die Motive Stadt und Utopie, an. Wir würden nicht eine ABG-Kampagne machen, wenn wir uns nicht erhoffen würden, bis zu einem gewissen Punkt die Politik der ABG auch ganz konkret verschieben zu können. Gleichzeitig versuchen wir über das Adressieren der ABG auf abstraktere Prozesse in der Stadt hinzuweisen: Welche Rolle Stadtpolitik spielt, welche Rolle Investitionsprozesse im Wohnraum spielen, welche Rolle Verblendungspolitik spielt. Was somit heißt, dass in der konkreten Praxis ganz klar klassische Kampagnenarbeit gemacht wird.

 

tobias: Ich glaube, in unserem Fall [Anm. d. Red.: Project. Shelter] ist es so, dass wir jetzt aus einem Kreis von Unterstützer*innen es als eine Aufgabe der praktischen Solidarität sehen, mit Leuten zu arbeiten, die sich gerade organisieren, um ihren Kampf zu unterstützen. Wir müssen uns erstmal bewusst machen, dass es ganz konkret Menschen gibt, deren grundlegendste Bedürfnisse nicht befriedigt werden. Wir sprechen nicht über die vielen anderen Bedürfnisse, die andere privilegierte Menschen haben, die auch nicht befriedigt sind. Wenn die Grundbedürfnisse nicht befriedigt sind in der bestehenden Ordnung, dann öffnet das in der Auseinandersetzung über dieses Gebiet einen Horizont, der die Leute vielleicht über das hinaus führt, was sie gerade als ihre eigene Subjektivierung verstehen.

Diese Allianz von Leuten bei Project.Shelter, die sich einerseits ihrer eigenen Privilegierungen bewusst sind, aber trotzdem versuchen, in der Gruppe einen gemeinsamen Kampf zu formulieren, ist ein zentraler Moment, der einem Energie gibt und der uns auch ganz klar sagt: Wir können nicht groß strategisch diskutieren, wenn die Leute uns jetzt schon sagen, wir brauchen ein Haus, wir brauchen es jetzt und wir werden es uns auch holen.

 

lars: Wir als Stadt-AG der Gruppe Kritik und Praxis [f] sind ja auch Teil der ABG-Kampagne gewesen und unser Schwerpunkt ist dabei eher der Campus Bockenheim. Der Campus ist schon deshalb interessant, weil wir sagen würden, das er ein sehr prägender Ort in Bockenheim, aber auch darüber hinaus für die ganze Stadt ist – und zudem auch für die Geschichte der antiautoritären Linken nach 1968 in der BRD.

Und wenn es wirklich real darum geht, Gegenmacht aufzubauen, dann hat man auch das Gefühl, immer hinterherzuhängen – in der ABG-Kampagne und auch in anderen Feldern wie Stadtentwicklung – und plötzlich sind die Mieten teuer und man regt sich auf, aber die Entscheidung, die das forciert hat, wurde fünf Jahre früher getroffen. Erst wenn die Folgen fühlbar werden, regt sich aber Widerstand.

Diese Ein-Punkt-Event-Mobilisierung ist ein sehr schwieriger Ausgangspunkt, um wirklich Gegenmacht aufzubauen. Auch weil die Akteure, die zusammenkommen, so unterschiedlich sind. Und wir würden sagen, was wirklich in der Zukunft ansteht, ist die Frage: Wie verbindet man Klassenhintergründe und auch Diskriminierungserfahrungen?

Da ist auch eine Auseinandersetzung über Privilegierung und rassistisches Verhalten notwendig. Und es gibt ja auch unterschiedliche Erfahrungshintergründe, die ganz real zu Barrieren werden in einem gemeinsamen Kampf. Also, bei einem können wir uns leider Sicher sein, es wird die nächsten Jahre eher ungemütlicher als gemütlich!

 

moritz: Die Idee unseres Projektes ist es, auf verschiedene Probleme von Hausbesetzungen zu reagieren, zum Beispiel indem wir ein Hausprojekt in einem Haus realisieren wollen, das uns gehört. Wir versuchen dies im Rahmen des Mietshäusersyndikats – also die Abhängigkeit von diesen Entscheidungen, die externe Leute treffen, ob jetzt geräumt wird oder nicht zum Beispiel, zu umgehen. Wir versuchen, ein bisschen mitzuspielen, indem wir ein Haus kaufen. Und dann den nächsten Schritt zu machen indem wir es als Gemeineigentum verwalten und da drin etwas Anderes machen.

Kurz zur Utopie-Frage: Stadt verspricht Autonomie, Stadt verspricht auch in einer gewissen Form Anonymität, die in anderen Ecken nicht so gegeben ist – und sie löst dieses Versprechen ein: durch Isolation. Beispielsweise sind Wohnungen hier in der Regel so geschnitten, dass die Leute sehr vereinzelt wohnen. Sogar WGs haben das Problem, dass sie immer schwieriger Wohnungen finden, die bezahlbar sind. Dieses Versprechen von Stadt, einen Raum herzustellen, einen kulturellen Überschuss, kann man auch in einem Hausprojekt identifizieren: das ist der Versuch, aus der Isolation herauszukommen, Leute zusammen zu bringen, Überschuss, kreativen Überschuss herzustellen, Synergien herzustellen und auch Solidarität in einem unmittelbaren Wohnumfeld zu ermöglichen. Das ist jetzt unabhängig davon, ob man das Haus kauft oder besetzt. Sondern das ist, was immer dahinter steht: Kollektivität herzustellen – ein Kampf um andere Formen des Zusammenlebens.

 

mello: Tatsächlich ist hier auch die Frage, an wen richtet sich das was man macht? Natürlich hat man das Ziel, eine Art Kollektivierung und auch Politisierung des Alltags zu ermöglichen. Und wenn es dann um Fragen von Politisierung geht, dann ist es eben nicht so wie bei klassischer Kampagnenarbeit, wo man eher Aufklärungsarbeit macht, sondern es läuft ganz stark auf das Ermöglichen eines neuen Erfahrungshorizontes hinaus. Nämlich, dass es überhaupt Leuten durch das Mitmachen, durch das Rumhängen in dem Raum ermöglicht wird, Raum und auch Zeit anders zu erfahren und Räume anders zu nutzen, als die Art und Weise, für die sie eigentlich vorgesehen sind.

Und so eine Unterbrechung des Alltags von bestimmten Zwängen, das ist etwas total Zentrales. Es geht mir dabei nicht nur darum, etwas zu besetzen, es geht auch um einen kleineren aktivistischen Blickwinkel, einfach eine bestimmte Form von städtischer Ordnung zu durchbrechen. Und eine bestimmte Parzellierung, wo Raum nach verschiedenen Funktionen aufgeteilt wird, aufzubrechen und da etwas Anderes, eine andere Erfahrung zu ermöglichen und dadurch eine Politisierung voranzutreiben.

 

diskus: So wenig Einigkeit über die Strategiefrage besteht, es scheint doch auf, dass sich irgendwie eine Veränderung der Strategien vollzogen hat. Vielleicht kann man das daran festmachen, dass sich der Adressat der politischen Aktion verändert hat: dass man eben nicht mehr einfach in eine Wohnung geht und die sich nimmt – sondern als Strategie konkrete Forderungen an ein städtisches Unternehmen stellt; dass man für spezifische Freiräume eintritt; dass man das Spiel ein Stück weit mitgeht – Hauskauf – und so bestimmte Ziele verwirklicht.

Diese Verschiebung in den Strategien – so haben wir das mal interpretiert – deutet auf eine Veränderung der Ausgangssituation hin. Eine Veränderung, die vielleicht mit so diffusen Begriffen wie Neoliberalisierung der Stadt beschrieben wird. Und uns würde interessieren, welche konkreten Veränderungen in Frankfurt zu dieser Strategieverschiebung geführt haben und was das für linke, politische Kämpfe in Frankfurt bedeutet.

 

lars: Ich weiß nicht, ob Rückzugsgefechte die richtige Beschreibung für die Position der Linken in dieser Verschiebung wäre. Ich würde stattdessen erstmal einfach konstatieren: Die Ausgangslagen verändern sich. Und es fühlt sich zumindest so an, als gäbe es weniger Kämpfe als noch vor 30 Jahren.

Und im konkreten Fall der Stadt Frankfurt – Frankfurt versteht sich einfach als Global City und agiert auch so und versucht dann beispielsweise Hochlohn-Leute anzuziehen oder sich mit anderen Global Cities zu messen. Und das hat natürlich Auswirkungen auf die Stadt: Verdrängungsprozesse, Zuwanderung – und auch welche Leute in dieser Stadt wohnen. Man muss nur an dieses gigantisch reiche Umland denken.

Gleichzeitig stoßen diese aktuellen Entwicklungen in der Stadt auf etwas, dass man altes Bewusstsein nennen könnte. Also jetzt wissen zum Beispiel Leute, dass es mal sowas wie sozialen Wohnungsbau gab und dass das verloren geht. Dann könnte man auch sagen: OK, vielleicht befinden wir uns gerade in einem ›günstigen‹ Zeitfenster, das relevant ist, denn wer weiß, ob das Leuten in, sagen wir 10 Jahren, noch so bewusst ist.

 

daniel: Die Frage ist auch, auf was reagiert die Linke. Ich finde auch die Frage etwas problematisch, weil sie in gewisser Weise setzt, dass man nur ein passives Subjekt ist, das den Prozessen immer hinterher hängt. Und natürlich könnte man jetzt aufzählen, was sich alles ändert – von Neoliberalisierung des Städtischen, die Global City Frankfurt etc. – und dann könnte man in ein unglaublich negatives, tristes Bild eintauchen, dass alles schlimmer wird und man keine Antworten darauf hat.

Und dieses Bild würde ich gerne umdrehen und sagen, dass ich das Gefühl habe – soweit ich das in Frankfurt beobachten kann – dass eigentlich extrem viel Positives gelaufen ist in den letzten Jahren. Und man kann sich zu Blockupy positiv oder negativ verhalten, aber ich glaube, dass gerade die ABG-Kampagne nicht existieren würde, wenn es diese Verknüpfungsarbeit nicht gegeben hätte, die in den letzten fünf Jahren in diesem Rahmen stattgefunden hat. Ich bin durchaus der Meinung, dass die Linke bis zu einem gewissen Punkt auch wieder eine aktive Akteurin geworden ist. Und dass zumindest langsam aber sicher wieder eine Idee aufkommt, dass man gewisse Handlungspotentiale hat, wo man agieren und sich nicht nur auf dieses Feld von »man könne ja eh nix tun« zurückziehen kann.

Mittelfristig werden die Konflikte durchaus zunehmen, es wird intensiver werden. Und wenn man eine Aufgabe hat als Linke, dann ist es die, sich nicht wieder so kalt erwischen zu lassen wie im Jahr 2008, als die Krise das letzte Mal ausgebrochen ist. Als man davor stand und plötzlich merkte, »puh, da ist plötzlich ein Fenster und man weiß nicht, wie man darauf reagieren soll«.

Ich glaube, dass Frankfurt gerade unglaublich viele Fenster bietet, auch wenn die klein und manchmal anstrengend sind. Ich würde sehr dafür plädieren, Fenster zu suchen und nicht das Reaktionspotential.

 

moritz: Da sind wir uns wohl auch alle einig. Niemand sagt, man könne nichts tun. Alle, wie wir hier sitzen, haben eine Perspektive für Ansatzpunkte im Alltag und konkrete Initiativen und Projekte, wo sie was tun.

Gleichzeitig ist es immer noch ein großer Schritt zu dem sich nicht kalt erwischen lassen. Als Beispiel: Das Europaviertel existiert als Plan seit 20 Jahren oder so. In der Linken hat sich niemand damit beschäftigt, bei den Ämtern und Planern lag es in der Schublade – jetzt wurde es einfach gebaut und wir hatten überhaupt nichts dazu zu sagen. Und jetzt, mit dem Campus Bockenheim, gibt es erste Ansätze, sich damit auseinanderzusetzen, solange der Campus noch da ist. Gleichzeitig ist der Prozess, was hier passieren soll, von städtischer Seite im Prinzip auch gelaufen. Das Philosophicum ist eine Baustelle, wo schon genau das umgesetzt wird, was die Stadt überall haben möchte. Es ist noch Raum, es ist noch Potential, es ist noch ein Fenster und das muss auch genutzt werden, aber wir sind trotzdem spät dran, um grundsätzlich eine Alternative zu so einem Modell überhaupt noch zu diskutieren.

 

mello: Also, ich will ja auch nicht einer pessimistischen Sicht das Wort geben. Aber ich finde schon, dass sich was in Frankfurt verändert hat. Wenn man jetzt Bezug zu den Zeiten der Zitate aus den diskus-Heften herstellt, dann ist natürlich ein zentraler Unterschied, dass in den 60ern und 70ern die ganzen Wohnhäuser aufgekauft wurden, um sie in Büroräume zu verwandeln. Das hat zum Teil dazu geführt, dass auch Sachen besetzt worden sind, die nur gekauft wurden, um sie verfallen zu lassen und dann da neuen, modernen Büroraum hinzubauen.

Und heute ist es eher ein bisschen umgekehrt. Jetzt gibt es langsam einen Trend zurück zum Wohnraum, weil es zu viel Büroleerstand gibt. Aber die ökonomischen Vorzeichen sind keine anderen, sondern dieser Wandel vollzieht sich auch nach hauptsächlich ökonomischen Kriterien. Jetzt wird einfach Wohnraum zur Kapitalanlage. Und es gibt viel Wohnraum, der entsteht. Es gibt ganze Viertel, die neu gebaut worden sind. Das Europaviertel, das Westhafenviertel, im Ostend das Osthafenviertel. Und das passiert oft in Vierteln, die vorher primär proletarisch und migrantisch geprägt waren und sich dadurch stark verändern.

Dazu gibt es noch eine Verschiebung hin zu immer mehr Eigentumswohnungen, selbst von der städtischen Wohnungsbaugesellschaft, die bauen mittlerweile unglaublich viele Eigentumswohnungen. Trotzdem stimmt es, dass man nicht immer nur rumjammern und auch seine eigenen Handlungsoptionen wahrnehmen sollte. Ich würde gar nicht sagen, man renne der Entwicklung immer hinterher, sondern wir sind zu marginal. Wir sind nicht zu langsam, aber irgendwie klappt es mit der Mobilisierung nicht so gut. Und das Problem, das auch Moritz angesprochen hat, ist, dass die Linke überhaupt in ihren Kämpfen relativ viele Probleme mit Kontinuitäten hat.

Es gab in den 1990ern schon mal viele Innenstadtaktionen. Die haben sich aber mehr um das Thema Repression, innere Sicherheit gedreht und sich mit dem Umbau von Städten vor dem Hintergrund dieser Broken Windows und Zero Tolerance Geschichten auseinandergesetzt. Und zwanzig Jahre später mussten alle wieder bei Null anfangen.

Und eine Sache – die für mich eher eine offene Frage ist – ist, dass ich schon glaube, dass man auf Dauer als radikale Linke sein Verhältnis zu sozialarbeiterischen Tätigkeiten überdenken muss. Einer der zentralen Punkte, warum es z. B. in Spanien auch so ein Erstarken der Linken gibt, ist, dass die Linke sich nicht zu schade war, bestimmte Funktionen zu übernehmen, die der Staat fallen gelassen hat. Bestimmte Formen von Mieter*innenberatung, von rechtlichen Beratungen für Migrant*innen etc.

 

Das ist anstrengend, super viel Arbeit und man sollte sich auch nichts vormachen, man fängt damit etwas auf, was eigentlich der Staat machen sollte. Aber er tut es nicht. Und die Frage ist, ob man da nicht eine andere Form von Organisierung braucht.

 

tobias: Ich fand persönlich den Text, den ihr uns geschickt habt, ganz interessant. Vielleicht kann ich kurz ein Zitat vorlesen:

 

»Als Migrant_innen anfingen, selbst Häuser zu besetzten, konnten diese teilweise nicht gehalten werden, weil sie von der Hausbesetzter_innenbewegung nicht so unterstützt wurden, wie das bei den eigenen Häusern der Fall war. Zitat vom Häuserrat, ja, wenn man das mit den deutschen Hausbesetzungen vergleicht, war das schon traurig bestellt mit der Solidarität unsererseits.« (Across Bockenheimer Landstraße, diskus 2000, H. 2)

 

Ohne hier einen Vorwurf formulieren zu wollen – ich glaube, dass aus einer stark theoriegeleiteten linken Bewegung heraus, die Konflikte von oben in die Stadt hinein projiziert oder die Kämpfe gesucht werden, die wir uns wünschen oder aus gelesenen Texten heraus erwarten, die gerade en vogue sind.

Gleichzeitig besteht aber die Möglichkeit, dass diese Kämpfe im Alltag oder in sonstigen Situationen schon längst von oft stark marginalisierten Gruppen ausgetragen werden. Und diese Kämpfe bieten eine Möglichkeit die Linke aus einer gewissen Isolation oder marginalisierten Position hinauszuführen.

Wenn wir uns die Situation von den Menschen in unserer Gruppe anschauen, dann ist es so, dass es kein Wohin mehr gibt. Es gibt kein Zurück nach Italien, weil dort der Kapitalismus mit seiner Krise dafür gesorgt hat, dass die Leute keine Lebensgrundlage mehr haben und es gibt auch hier keine Möglichkeiten.Im Prinzip ist die einzige Option der Kampf, um sich wenigstens seine einfachsten Bedürfnisse zu erfüllen.

Ich glaube, dass die Auseinandersetzung mit diesen Widersprüchen, die ganz real in dem Leben von vielen marginalisierten Gruppen schon existieren, dass diese intuitiv auch von Leuten verstanden werden, die nicht aus der radikalen Linken kommen. Wo dann vielleicht dieser Helfer*innen-Instinkt, diese bürgerliche Art diese Konflikte zu bearbeiten, über sich selbst hinausgeführt werden kann. Indem praktisch Leute anfangen zu fragen, warum gibt es leere Häuser und gleichzeitig Leute, die auf der Straße sterben Und dann erstmal im typischen Sinne anfangen, irgendwie Forderungen an die Stadt etc. zu formulieren, und dann merken, »mhh, was hat es denn auf sich mit dem Migrationssystem, was hat es auf sich mit der Situation der Menschen und wie hängt das mit der Art und Weise, wie Herrschaft hier praktiziert wird, zusammen?«

 

diskus: Wir danken euch allen für die Teilnahme an der Diskussion.