Spiegelungen
»Sagen Sie ihm, daß er für die Träume seiner Jugend soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird, nicht öffnen soll dem tötenden Insekte gerühmter besserer Vernunft das Herz der zarten Götterblume.«
I. »Die schönen Tage in Aranjuez sind nun zu Ende.«
Die eingangs zitierten Worte Posas könnten als Losung für den jugendlichen Elan gelten, mit dem vor ca. einem Jahrzehnt hier (wie überall) Theoretiker und Praktiker postmodernen Bauens gegen die vergreiste Moderne anrannten, gegen den Despotismus des Bauwirtschaftsfunktionalismus protestierten, das Recht auf Erinnerung und Träume forderten. Wie im Frankfurter Don Karlos und dessen Bühnenbild versagte die Praxis vor den hochfliegenden Anforderungen der Theorie: Ungers Pfeilerwälder auf dem Messegelände, die dräuende Rotunde der sog. Kulturschirn oder die massigen Bögen des sog. Torhauses (eines neuen Büro- und Geschäftshauses am Westendrand) gleichen aufs Haar dem Prado der Frankfurter Städtischen Bühnen. Der Erinnerungsreichtum ihrer historischen Motive zeigt keine Spur der einstigen Jugendträume, sondern wirkt pathetisch und starrsinnig auf Vergangenes fixiert wie Philipps II. vor allem Neuen zurückschreckende Grübeleien. Prägt einmal jugendlicher Überschwang (Frankfurter) Postmoderne, dann meist in Gestalt der phantasievoll-flott designten Mc-Donalds-Gaststätten oder der unzähligen Yuppi-Boutiquen, deren standardisierte Träumereien mit Schillers Götterblume-Phantasie so viel zu tun haben wie die Leidenschaft der Eboli mit dem Vamp-Outfit einer Schaufensterpuppe.
Postmoderne also wieder einmal als eine jener Strategien des Vergessens oder Indiz des Sich-zu-Tode-Amüsierens, worüber Burghart Schmidt oder Neil Postman schreiben? Ja und Nein – oder besser: Seit die Generalkritik an postmodernen Erscheinungen ebenso sehr Mode geworden ist wie zuvor die Begeisterung für alles, was irgend postmodern sich gab, bedroht das törende Insekt fader besserwisserischer Kulturpessimismus den Phantasiereichtum, dem die Postmoderne Auftrieb gegeben hat. Gelungenes oder Mißlungenes im sog. neuen Frankfurt belegen, daß die Jugendträume der Postmoderne in der Architektur zumindest ums Überleben kämpfen:
II. Im Spiegelkabinett
Unter den neuen Frankfurter U-Bahnstationen ist die an der Bockenheimer Warte (Nieper/Peninski/Noack) die flächenmäßig größte, mit dem direkten Zugang zum offenen Magazin der Universitätsbibliothek multifunktional und – gemessen am Erinnerungsbemühen postmodernen Bauens – die mit lückenhaftestem Gedächtnis: Fast ist es schon eine Plattitüde, daran zu erinnern, daß Frankfurts Universität ein Brennpunkt der Studentenbewegung war, daß im angrenzenden Westend jahrelang Auseinandersetzungen zwischen Hausbesetzern und Stadtverwaltung geführt wurden. Mit der pompösen Überbauung des seit Zwangsräumung und Abriß brachliegenden Grundstückes Bockenheimer Landstraße/Schumannstraße war ein Anfang des Vergessens gemacht, die neue U-Bahn-Station treibt die Gedächtnislosigkeit zur Vollendung. Ihre Retrospektiven gelten der einstigen Dorf-Idylle Bockenheims und dem Elan der vor ca. einem Jahrzehnt erfolgreichen Katastrophenfilmes, und dies obendrein meist ungeschickt.
Keine Spur vom eingangs zitierten Feuereifer der Jugend, sondern abgeschmackte Effektkunst aus Hollywoods Trickkiste prägt den Haupteingang, ein grellbuntes Environment, das offenkundig die Tristesse der zur Stadtautobahn gewordenen Senckenberg-Anlage überspielen soll. Das Ganze besteht aus der Nachbildung eines Straßenbahnwaggons der Zwanziger Jahre, die, feuerrot und signalgelb gestrichen, dramatisch im Erdreich versinkt. Berstende Gesteinsbrocken an der Einbruchstelle erhöhen den sensationellen Effekt. Nach dem Streit um die schienenfreie Innenstadt, in dem die Einwohner ihrem Magistrat unterlagen, ist das Ganze unfreiwillig zum Triumphmal städteplanerischer Ignoranz geworden. Von diesem unwillentlichen Zuwachs an Bedeutung abgesehen, verliert das Gebilde ebenso schnell an Attraktivität, wie es zunächst die Aufmerksamkeit an sich zieht: Katastrophe pur – das stimuliert und amüsiert auf den ersten Blick, auf den zweiten oder spätestens den dritten langweilt sich der Betrachter.
Ein architektonisches Würdemotiv par excellence – der Zentralraum – ist Vorbild der unterirdischen Verteilerhalle. Rundpfeiler, Begrenzungsstege, Pflasterstreifen und Leuchtbänder münden auf eine untersetzte Mittelsäule. Sie war als Meisterstück postmodernen lronisierens gedacht. Ein monströser, metallverkleideter Zylinder; anstelle eines Kapitels erscheint ein bronzenes, unter der Last der Decke breitgequetschtes Sofakissen, Troddeln an allen vier Zipfeln inclusive. Der Witz ist so plump wie die Proportionen des Gebildes, das Amüsement so schnell verflogen wie bei Peninskis Waggon.
Ringsum bestimmen Weiß, Gold, Hellgrau und Hellblau den Gesamteindruck, der ohnehin weite Raum wirkt dadurch noch lichter und großzügiger. Die Gestalt erinnert an Kaufhausetagen und Kinofoyers der 50er Jahre, vermittelt über die Dekoration klassizistischer Festsäle. Goldfarbene Kaneluren und Simse, glänzender Plattenbelag, Säulengruppen. Auf die Lokalität bezogen erinnert dies alles an eine repräsentative Alma-Mater-Architektur; frisch vergoldete Talar-Feierlichkeit, aufpolierend, was der eingestaubten Jugendstil-Aula im Altbau der Frankfurter Universität abhanden kam.
In unwillentlicher Folgerichtigkeit ist denn auch den aufmüpfigen Studenten eine Art symbolischen Exils bereitet: In den untersten Regionen der U-Bahn-Station, an den Bahnsteigwänden, sind Großfotos aus Hörsälen, Seminarräumen und Laboratorien befestigt: »daß er für die Träume seiner Jugend soll Achtung tragen«. Gedankenlosigkeit, um nicht zu sagen Mißachtung der Jugend(revolten), spricht aus den panzersperren- oder sarkophagähnlichen Granit-Trögen, die, gelöscht und mit Blumen gefüllt, Verkehrsstraße und Gehsteige über der Station trennen; hüben Mensa und Institute, drüben die Bibliothek, das Wechseln von einer Seite zur anderen ist ein Abenteuer. Die maßregelnde Oberwelt samt dem unterirdischen Exil dürften glücklicherweise nur von kurzer Dauer sein. Die Graffiti, Sprüh-Parolen, Aufrufe und Plakate des universitären Alltags werden solch einseitigem Erinnern und solch halsstarriger Platzgestaltung bald weniger goldene Träume beifügen.
Soweit das Für und Wider, wie es sich bezüglich des unmittelbaren Gebrauchszusammenhangs der U-Bahn-Station darstellt. Ihre Aussagekraft ist damit noch nicht erschöpft: Zitate sind der Inbegriff der Postmoderne, ihr Symbol ist der Spiegel: Die Wände der Station bestehen zu etwa einem Drittel aus Spiegeln. Edelstahl – auf echte hat man aus Furcht vor Großstadt-Vandalismus verzichtet. Die Station wandelt sich damit unmerklich zum verwirrenden Panoptikum ihrer selbst, zur Architektur einer unendlichen Geschichte. Und sei es wider Willen der Auftraggeber und der Ausführenden: Mit diesem unterirdischen Spiegelkabinen, dieser zersplitterten Welt, in der Geschichte und Gegenwart, Tempel und Fabrik, Maschine und Säule, Vergnügen und Verwirrung drunter und drüber geraten sind, ist ein Inbegriff postmoderner (Bau)Welt geschaffen.
Setzt man einmal, was bei dieser Architektur ohnehin naheliegt, den Untergrund mit dem Unterbewußtsein der Stadt gleich, so geistert darin die kollektive Sehnsucht nach Geborgenheit und Geschichte. So hemmungslos naiv und so raffiniert subtil wie die Bilder des Unterbewußten trägt die Dekoration dieser Station solchem Bedürfnis Rechnung. Als unendliche Collage aus Gegenwärtigem und Zitiertem gleicht sie für Momente (sofern man Alice im Wunderland nicht vergessen hat) real gewordenen Phantasien ltalo Calvinos über die Unsichtbaren Städte. Hier wie da schieben sich erinnerte und bestehende, imaginierte und reale (Bau)Welt übereinander.
Freilich, so schwebend und poetisch wie Calvinos Städte ist die Bauwelt der U-Bahn-Station nur für wenige Augenblicke. Der Absturz in die Banalität erfolgt prompt. An den Ein- und Ausgängen nämlich hängen Reproduktionen historischer Fotografien. Alt-Bockenheim, der Wart-Turm, bräunlich verblaßt. Entgegen ihrer Authentizität strahlen sie süßlich-nostalgische Wirkung aus, unfreiwillige Pendants der Plastik-Plüsch-Surrogate, die mit Pseudo-Biedermeier oder -Rokoko beispielsweise aus Restaurant-Ketten original Wiener Caféhäuser machen wollen. Sentimentalität statt Phantasie; Frankfurt ist wahrlich kein Maurillia, wo man »an Hand dessen, was (die Stadt) geworden ist ... an das denken kann, was sie gewesen ist.«
Wer ist nicht irgendwann in den Spiegelgalerien von Schaufenstern und Boutiquen auf Scheinwelten herein gefallen? Den Höhepunkt solcher verwirrenden Zwischenfälle stellt die unvermutete Begegnung mit dem eigenen Abbild dar. Eine Sekunden dauernde Irritation, wenn das eigene Äußere einem gegenüber steht, unerkannt, fremd und zugleich merkwürdig vertraut. Man hat sich selbst mit den Augen der anderen gesehen, das der Grund des Erschrecktseins, sobald man sich dann erkennt. In der U-Bahn-Station sind solche Zwischenfälle unvermeidlich. Wäre nichts an ihrer Architektur gelungen, so doch dies: müdem Spiegel Raum geschaffen zu haben für solche Irritation. Daß darüber hinaus postmodernes Bauen sich bis zum Überdruß gleichsam selbst anstarrt, läßt für eine weniger aufgeputzte künftige Architektur hoffen. Nicht viel, aber immerhin. Don Karlos, die letzten Worte:
»Ich habe das Meinige getan, tun Sie das Ihre.«
Dieter Bartetzko
diskus, 1986, S. 38-40