Ich will hier für den Häuserrat reden, für die Genossen, die in den letzten Tagen gewöhnlich als  Politrocker bezeichnet wurden, für die Genossen, von denen Karsten VoigtAnm. d. Red.: K. Voigt war damals Bundesvorsitzender der Jusos, studierte in Frankfurt und legte danach eine steile Karriere in der SPD hin. Zuletzt setzte er sich in Berlin in der Initiative Pro Reli für die Einführung eines verpflichtenden Religionsunterrichts ein. gemeint hat, daß sie reaktionäre Gewalt ausgeübt oder hervorgerufen haben bei der Verteidigung der Häuser. Die Frage, die sich doch stellt, und die der Karsten Voigt vorhin hier angeführt hat, das ist die: Wie ist unser Verhältnis zur Sozialdemokratie und wie das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Gewalt, genauer zur Gewalt des Kapitals.

Zum ersten Punkt, unserem Verhältnis zur Sozialdemokratie: Karsten Voigt fühlt sich irgendwo auf den Schlips getreten und mit ihm seine Genossen, da wir angeblich die Sozialdemokratie als Hauptfeind noch schlimmer angreifen würden als wir es mit der CDU/CSU getan haben. Die Sozialdemokratie ist für uns doch nicht der Hauptgegner, sondern die Frage, die sich uns doch stellt, ist: Wer setzt hier in Frankfurt Spekulanteninteressen gegen die Bevölkerung durch und wenn man sich dagegen wehrt, mit wem wird man dann konfrontiert. Da wird man nicht unmittelbar konfrontiert mit Franz Josef Strauß oder einer anderen politischen Repräsentation, da wird man konfrontiert mit einer Politik, die hier seit 20 Jahren von Sozialdemokraten vertreten wird. […]

Die Frage also, die sich stellt, ist nicht die, daß wir die Sozialdemokratie als Hauptfeind betrachten, sondern daß die Sozialdemokratie hier faktisch als politische Vertretung von Spekulationsinteressen gegenüber denen, die darunter leiden, auftritt.

Der zweite Punkt, der sich hier ganz zentral stellt, in Zusammenhang mit dem, was hier an Bodenspekulation, was hier an Wucherei, was hier an Wohnraumzerstörung, kurz, was an spätkapitalistischer Großstadtentwicklung praktiziert wird, ist die Frage des Verhältnisses der Sozialdemokratie zur Gewalt. Der Karsten Voigt meinte vorhin in seinem Beitrag, wir würden reaktionäre Gewalt hervorrufen. Nun stell ich die Gegenfrage: Wer bedient sich denn existenter reaktionärer Gewalt? […]

Wer legitimiert denn […] den Einsatz der Polizei. […] Und daß da gesagt wird, wir würden reaktionäre Gewalt provozieren, ist insofern Augenwischerei: es ist nicht die Gewalt, die wir provozieren; diese Gewalt ist da.

Man kann doch nicht immer darüber streiten – der Voigt hat es vorhin getan – daß wir uns dieser Gewalt beugen und versuchen müssen, auf dem parlamentarischen Weg hier entscheidende Reformen durchzusetzen. Gleichzeitig, finde ich, sollten wir mal den Blick auf Frankfurt werfen. Die Situation, aus der die Konfrontation heraus entstanden ist, so wird uns gesagt, war eine Gewaltanwendung der Hausbesetzer. Nun frag ich mich, was ist bei einer Hausbesetzung Gewalt. Man geht rein, man hat erst mal keine Wohnung, viele Leute hier in Frankfurt haben keine Wohnung. Es sind Tausende seit Jahren wohnungslos. Und jetzt sind Genossen, Studenten, junge Arbeiter in ein Haus reingegangen, das von einem Großspekulanten seit Jahren teilweise schon leer stehen gelassen wurde, um dort zu wohnen. Die sind da rein gegangen, da war keine Gewalt, da war gar nichts. Die versuchten einfach, darin zu wohnen, das ist ein ganz elementares Recht, das im Grunde jedem Vieh zugesprochen wird. Wo liegt da die Gewalt?  Die Gewalt liegt doch im Wesentlichen darin, daß Eigentum, Privateigentum, nicht Eigentum zum eigenen Nutzen, sondern Privateigentum, mit dem Profite gemacht werden, mit dem auf Armut spekuliert wird, direkt angegriffen wurde. Daß man hinnahm, was da existierte, daß man petitionierte, wie das der alte SDS tat, daß man versuchte, in Diskussionen zu überzeugen, mit exemplarischen Aktionen, mit Go-ins und sonst etwas, das alles hat keine Wohnung hergeschafft. Es war einfach die Tatsache, man hat sich die Wohnung genommen. Jetzt kam die Reaktion der Sozialdemokratie, jetzt kam die Reaktion der Polizei. ›Gewalt‹ war der allgemeine Aufschrei […].

Für uns ist die Polizei nicht der Hauptgegner […], denn wir wissen, daß sich viele Kollegen in nichts von ihren Lebensvoraussetzungen unterscheiden; ja, daß die Polizei überhaupt nicht der Gegner ist […]. [F]ür uns [ist] der Polizist nicht grundsätzlich der Gegner, sondern dort, wo er mit der Waffe droht, wo er Kapitalinteressen materiell durchsetzt, […] dort muß er zum Gegner werden. Und da steht der Karsten Voigt dann auf und sagt: »Ich bin gegen die Übergriffe von oben, ich bin gegen die Übergriffe von unten.« Das ist der Jargon von Machthabern. Nach links verteilt, nach rechts verteilt! […]

Und da stellt sich ja hier für uns die Frage, wenn wir sagen, die reaktionäre Gewalt, wir provozieren sie. Es ist die Frage; provozieren wir sie sinnlos, gibt es keine Perspektive, oder was ruft diese reaktionäre Gewalt hervor. Diese reaktionäre Gewalt, die hier in Frankfurt aufgetreten ist […], wurde hervorgerufen durch Widerstand. Durch Widerstand, den die Jusos, den die Sozialdemokratie, nicht verhindern konnte durch ihre Politik sondern, die sie gerade provoziert haben durch ihre Politik und das ist doch die Logik dieser Geschichte, die sich gegen sie wendet. […]

Genossen, was im Häuserkampf so wichtig war, das ist der eine Punkt, daß das der Ausdruck eines Massenbedürfnisses war, das von der Sozialbürokratie, was vom Spätkapitalismus hier in Frankfurt produziert worden war. Wir hatten organisatorische Schwächen, wir hatten politische Schwächen; die Ansätze, uns mit anderen Klassen zu verbinden, waren nur sehr sporadisch, sind zum großen Teil gescheitert an Bedingungen, die wir offen diskutieren und diskutiert  haben und die wir verändern müssen. […] Die Frage aber, wo wir uns nicht drumrum drücken können, ist, was dieser Häuserkampf gezeigt hat: es gibt an dem praktischen  Punkt der Konfrontation nur zwei Alternativen, nämlich: Nehm ich es ernst mit dem Kampf gegen den Spätkapitalismus, gegen die Baulöwen […]; ich meine, da stellt sich doch die Frage der Alternative, geh ich auf die Seite des Kapitals, der Banken, in deren Aufsichtsräte Sozialdemokraten sitzen und Kredite vergeben – oder geh ich auf die Seite derer, die unter diesen Umständen leiden, die da ausgebeutet werden durch Wuchermieten, die da zusammengeschlagen werden von faschistischen Schlägertrupps und ähnliches mehr?

Diese praktische Frage wurde am Samstag gestellt. Heute zu diskutieren, ob am Samstag angegriffen wurde oder nicht. Da ist ganz einfach zu sagen: Am Samstag wurde deswegen angegriffen, weil es die Genossen nicht verwunden haben, hinzunehmen, daß hier ein Haus zusammengeschlagen wurde, daß der MüllerAnm. d. Red.: Knut Müller war der damalige Frankfurter Polizeipräsident und SPD-Mitglied. wirklich mit einem obszönen Grinsen im Gesicht Terrormethoden, die gestapoartig waren, noch als die große Taktik ausgegeben hat, daß demonstriert werden sollte, daß ein Widerstand von unten unmöglich ist. Deswegen sind Steine geflogen gegen jene, die dieses System dort an dem Haus repräsentiert haben.

Und auf dieser Seite, Genossen, steht die ganz klare Alternative […], das ist die Alternative zwischen einem Reformismus, der letztendlich die Praxis des Kapitals darstellt – in Frankfurt haben wirs konkret erlebt – oder dem, was als Politrocker diffamiert wird, was in Wirklichkeit heißt: Massenwiderstand gegen die reaktionäre Gewalt zu organisieren.

 

Joschka Fischer

diskus, 1974, 23. Jg., H. 2-3, S. 31-32

 

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