Zu Beginn dieses Jahres wuchs angesichts unzähliger Kartons alter diskus-Ausgaben die Idee, aus der losen und unvollständigen Sammlung all dieser Dokumente ein Archiv zu erstellen – nicht nur um Ordnung im eigenen Schrank zu schaffen, sondern vor allem, um die mittlerweile 65 Jahre diskus-Geschichte digital und allgemein zugänglich aufzuarbeiten. Während der Durchsicht der alten Jahrgänge, die entsprechend bis in die 1950er Jahre zurückreichen, mischten sich Orientierungslosigkeit, einiges Befremden, aber auch das Gefühl, vieles von dem dort Festgehaltenen in aktuellen Debatten und politischen Praxen wiederzuerkennen. Einer dieser wiederkehrenden Bezugspunkte und Gegenstand des vorliegenden Heftes ist die Auseinandersetzung um den städtischen Raum als Lebensumfeld und Austragungsort politischer Kämpfe und gesellschaftlicher Widersprüche. Anlässe für diese Themensetzung sind vor allem der Frankfurter Häuserkampf der 1970er Jahre sowie verschiedene Konflikte um Wohnraum oder Umgestaltungsprozesse in der Stadt. Tatsächlich sind diese Prozesse die Vorgeschichte der Auseinandersetzungen um städtischen Raum, wie sie heute geführt werden, aber damit sind sie zugleich auch Teil dieser Auseinandersetzungen.

Es ist gemeinhin der Sinn eines Blicks in die Geschichte, sich der Veränderungen gewahr zu werden, die der eigenen Situation zugrunde liegen. Damit ist der Blick in die Archive eine Form des Nachdenkens über sich selbst. Die Aufgabe einer geschichtlichen Selbstreflexion setzt dabei ein Moment der Distanz ebenso voraus wie ein Moment der Kontinuität. Es kann dabei weder um eine bloße Selbstbestätigung aus der Geschichte heraus, noch um die abstrakt-schamhafte Negation der eigenen Vergangenheit gehen. Die hier dokumentierten Artikel enthalten deshalb nicht einfach nur Positionen, mit denen wir heute immer noch einverstanden sind und in ihnen werden auch nicht nur solche Themen berührt, die eine unmittelbare Relevanz für heutige stadtpolitische Kämpfe haben. Gerade in der Irritation, die von den hier abgedruckten, aus heutiger Perspektive befremdlichen oder auf den ersten Blick irrelevanten Passagen ausgeht, scheint uns ein Potential zu liegen; vollzieht sich Geschichte doch nicht einfach als Fortschritt, sondern in erheblichem Maß auch als Verdrängung: Motive gehen verloren, Probleme, Ereignisse und eigene Verfehlungen werden vergessen.

Mit dem vorliegenden Heft verfolgen wir ein doppeltes Ziel. Zum einen dokumentieren die hier versammelten Artikel mit der Geschichte unserer eigenen Zeitschrift zugleich die Geschichte der Frankfurter Kämpfe um städtischen Raum. Zum anderen versuchen wir eine Aktualisierung des Themas, indem wir dem Heft eine Dokumentation gegenwärtiger stadtpolitischer Kämpfe hinzufügten. In einer Podiumsdiskussion mit verschiedenen stadtpolitischen Initiativen haben wir nach dem aktuellen Stand der Debatten, den Herausforderungen und Perspektiven von politischen Auseinandersetzungen um Stadt gefragt. Indem die vorliegende Ausgabe diese Podiumsdiskussion in gekürzter Form enthält, geht sie über eine nur historische Dokumentation hinaus. Sie versucht zugleich die Fragestellungen der historischen Artikel zu vergegenwärtigen und der weiteren Entwicklung eine Fluchtlinie zu geben.

Beim Sichten der zahllosen Artikel aus 65 Jahren diskus-Geschichte ging es zunächst einmal darum, ein Kriterium der Auswahl zu entwickeln. Von zeitloser Relevanz und deshalb auch eine Konstante in der diskus-Geschichte war die kommentierende Dokumentation all jener konkret-realpolitischen Entscheidungen, die die Alltagswirklichkeit des studentischen Lebens in der Stadt berühren, etwa die Erhöhung der Mietpreise in Studierendenwohnheimen etc. Eben diese zeitlose Relevanz machte die Artikel als Gegenstand einer historischen Dokumentation aber zugleich uninteressant: geht es hier doch immer um das Gleiche. Aufgrund ihrer Involviertheit in Tagespolitik ist zudem der Horizont dieser Artikel ein überaus beschränkter. So verwies uns diese Einschätzung auf die für unsere

Dokumentation eigentlich relevante Ebene: eine allgemeinere Reflexion auf das Thema Stadt. Aus dieser Perspektive waren für uns vor allem zwei Artikelgruppen interessant. Zum einen solche Artikel, die im Kontext von diskus-Ausgaben stehen, welche das Thema Stadt zum Schwerpunkt haben – und auf diese Weise eine allgemein-theoretische Perspektive an bestimmte Stadtphänomene herantragen. Zum anderen solche Artikel, die sich mit damals aktuellen und konkreten stadtpolitischen Geschehnissen auseinandersetzen, in denen eine allgemeinere Bezugnahme auf Stadt bereits in der Praxis gegeben ist. Im Ergebnis ließen sich drei Schwerpunktbereiche ausmachen.

 

1 Immer wieder kommt es in den Artikeln zur Thematisierung von Urbanität als einer spezifischen Lebensweise. Diese spielt sowohl für die individuelle (Selbst-)Wahrnehmung der Stadtbewohner*innen, als auch für die Ausrichtung linker Politik eine wichtige Rolle. Nicht nur bildet die Imagination von Urbanität einen Rahmen für die Möglichkeiten und Vorstellungen von emanzipatorischen Projekten, sie wird oft selbst als ein Ideal inszeniert, welches Konnotationen von Offenheit, Weltverbundenheit oder so diffuse Implikationen wie hip, cool, am Puls der Zeit etc. trägt. Demgegenüber sieht die städtische Lebensrealität oft anders aus und ist geprägt von sich verstetigender Prekarität, dem Schwinden kultureller und öffentlicher Räume, polizeilicher Kontrolle und Überwachung, Endsolidarisierung und dergleichen mehr. In vielen Artikeln wird die Rolle der Urbanität als einem spezifischen Lebensgefühl oder -ideal für linke Politik und deren Selbstverständnis thematisiert und gefragt, wie diese im Spannungsverhältnis zwischen Selbstbetrug und berechtigter Emanzipationshoffnung zu verorten ist.

 

2 Ebenso ist der Kampf um Wohnraum, von Besetzungen bis zum Häuserkampf, ein wiederkehrendes Motiv. Die Häuserbesetzungen in den 1970er Jahren in Frankfurt (vor allem im Westend) bestanden aus einem Zusammenschluss von Spontis, Student*innen und migrantischen Arbeiter*innen. Im Artikel Across Bockenheimer Landstraße wird die letztliche Niederlage der Besetzungen auch in dem wenig reflektierten Verhältnis der linken Aktivist*innen zu den migrantischen Communities gesehen, die neben anderen Ausgangssituationen, auch verschiedene politische Anliegen hatten. Zugleich waren diese Ereignisse aber auch Momente der Politisierung. Die Mieter*innenstreiks in den 1970er Jahren waren zunächst ein Mittel, um die schwierige finanzielle Situation durch hohe Mieten und geringes Einkommen vor allem in den migrantischen Communities nicht nur symbolisch zu thematisieren, sondern sich auch praktisch zu wehren. Der anfänglich noch auf konkrete Einzelthemen bezogene Streik weitete sich auf umfassendere politische Forderungen aus (gegen die Akkordarbeit, fehlende Kinderbetreuung, den Rassismus der Nachbar*innen etc.). Ähnliches galt für die Hausbesetzungen. Stand am Anfang die tatsächliche Aneignung von Wohnraum im Zentrum, entwickelten sie sich zum Kulminationspunkt, auf den Unzufriedenheiten mit den gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen projiziert wurden.

 

3 Nicht zuletzt stand immer wieder auch die Entwicklung der Stadt als ganzes im Fokus. Einige Artikel nehmen Bezug auf Architektur und Stadtlandschaft und thematisieren anhand dessen die Entwicklungstendenz zur neoliberalen Stadt. Sie zeigen dabei, dass Fragen der Architektur nicht nur ästhetische Gesichtspunkte berühren, sondern die Gestaltung des geteilten Lebensraums betreffen. Sie thematisieren die Form und Organisation des städtischen Zusammenlebens und mit ihnen die Strukturen für eine Entwicklung und Einschränkung von Kommunikationsräumen. Die Stadt ist dabei neben Wohn- und Lebensraum auch immer Wirtschaftsstandort. Die Verknüpfung von Arbeit und Wohnen, Wirtschaft und Zusammenleben ist in der Stadt historisch eng aneinander gebunden. Der wirtschaftliche Fokus, der sich mit der neoliberalen Transformation auf die Stadt als ›global player‹ verschiebt, führt zu Veränderungen in der Erfahrung von Stadt als Ort und in ihrem Selbstverständnis, das sich auch in Architektur und Stadtlandschaft ausdrückt. Immer wieder werden als ›alternativ‹ oder › widerständig‹ gedachte Subkulturen, Lifestyles oder Interventionen integriert oder sogar als neues Feld der Kapitalakkumulation gewonnen. Städtische Entwicklungen sind multiskalar immer mehr mit großen Investorengruppen, wirtschaftlichen Zwangslagen und der Vorstellung eines globalisierten Wettbewerbs verknüpft, in dem sich die Stadt positionieren muss. Dies alles reißt die lokale Erreichbarkeit der Entwicklungsprozesse der Bevölkerung vor Ort aus den Händen. Diese Prozesse bilden mehr den Hintergrund, vor dem sich bestimmte Entwicklungen der Auseinandersetzung um Stadt deuten lassen und die entsprechend eher implizit aufscheinen.

Diese drei kurz skizzierten Themenfelder finden sich als Gliederung der hier vorgestellten Artikel wieder. Wir haben uns dazu entschieden, abgesehen von einigen stillschweigenden grammatikalischen und orthografischen Korrekturen, die Texte in ihrer ursprünglichen Form abzudrucken, jedoch zum Teil mit Kürzungen und Anmerkungen, die wir zum Verständnis als notwendig erachtet haben. Somit findet sich zum Teil noch die alte Rechtschreibung, verschiedenes oder fehlendes Gendern, bis hin zu Unterschieden in Stil und Sprache.

Die Artikel selbst nehmen dabei immer wieder implizit und explizit Bezug auf Debatten und Entwicklungen ihrer Zeit. Wo es uns nötig schien, haben wir daher einige Erklärungen eingefügt und zudem den jeweiligen Texten Info-Boxen vorangestellt, die die Rahmung der jeweiligen diskus-Ausgabe verdeutlichen. Gleichzeitig sollen die Artikel aber auch kurze Momentaufnahmen der jeweiligen Debatten sein, um ggf. zum Weiterlesen in anderen Kontexten anzuregen.

Auch aus eigener Neugier steht am Ende des Heftes ausnahmsweise ein Autor*innenverzeichnis. Dabei haben wir, soweit möglich, öffentlich zugängliche Informationen zusammengetragen, um die verschiedenen Lebenswege der Autor*innen aufzuzeigen.

Wir hoffen, dass ihr beim Lesen nicht den Überblick verliert – schließlich verlaufen in diesem Heft viele Ebenen und Gedankenstränge nebeneinander, übereinander und durcheinander. Aber vielleicht ist gerade dies eine Möglichkeit, Stadt zu denken.

 

diskus Redaktion