In einer Weltstadt wie Frankfurt gilt ›provinziell‹ als Synonym für ›hinterwäldlerisch‹, ›rückständig‹ und ›nichtaufgeklärt‹, als Gegensatz von Modernität und Fortschritt. Gemeint sind all jene unseligen Kräfte, die den Entwicklungen der Zeit hinterherhinken oder das Rad der Geschichte zum Stehen bringen und zurückdrehen wollen.

Der Geist des Provinzialismus ist aber nicht nur in seinem Ursprungsland, der Provinz, beheimatet, er treibt sein Unwesen ebenso in der Stadt. Dort tritt er im Gewand des kleinbürgerlichen Spießers oder auch als grün-fundamentalistisches Glaubensbekenntnis in Erscheinung. Den Gegenpart zum städtischen Provinzler übernimmt mit Vorliebe der metropolitane Sponti; er begreift sich ausschließlich als ›anti-provinziell‹, ›großstädtisch‹ und – wenn's mal im Superlativ sein muß – als ›kosmopoliltisch‹. In Frankfurt lebt er am Puls der Zeit, horcht sie ab auf ihre neuesten Bewegungen, freut sich an ihren Sprüngen oder leidet an ihrem Stillstand. Er ist dank seiner notorischen Weltoffenheit immer auf dem Laufenden, was die aktuellen Trends und Moden, kurz: den kulturellen Fortschritt betrifft. Belege dafür liefert das Metropolen- (und Sponti-) Magazin Pflasterstrand en masse. Sieht man sich jedoch die materiellen Grundlagen dieses Sponti-Citoyen an, so ist es mit der metropolitanen Lebensweise nicht weit bestellt. Wunsch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander! Wer lebt schon in einer der großbürgerlichen Westendwohnungen mit Stuck und Parkett, wer nimmt schon auf angemessene Weise teil an den kulinarischen und kulturellen Genüssen, die eine Stadt wie Frankfurt tagtäglich zu bieten hat?!

Die real-existierende Pflasterstrand-Klientel lebt, mit Wehmut!, bescheidener, als es die Redaktion zugeben möchte. Dem Sponti und seinem politischen Umfeld fehlt die Knete für die kosmopolitische Metropolensause. In Wirklichkeit wohnt man in den letzten Löchern und weiß kaum, wie man das Geld für die nächste Miete zusammenbringen soll. Bahro hat leider recht mit seinem Satz: »›Kosmopolitisch‹ ist vor allem das Kapital«. Dagegen unterhält der Pflastersträndler ein erschreckend immaterielles Verhältnis zum Kosmopolitismus! Der von den Spontis imaginierte und mit religiösem Pathos heilig gesprochene Kosmopolitismus wirkt geradezu grotesk angesichts des Elends in den Mauern dieser stinkreichen Stadt. Ein an- und aufregendes Leben nämlich kann sich hier bald nur noch eine privilegierte Managerklasse leisten.

Ähnlich blauäugig wie die Vergötterung des Kosmopolitismus ist die Verachtung, die die Spontis der ländlichen Provinz entgegenbringen. Diese Verachtung entspringt einem elitären Bewußtsein, einem arroganten Habitus, mit dem man sich nicht nur vom politischen Gegner distanziert, sondern auch nach unten gegen die ›dumme Masse‹ abzugrenzen versucht. Die Provinz ist aber keine Ansammlung von Gartenzwergen und Nachtkappen, wie der Pflasterstrand seine Leser gerne glauben machen möchte. Das Kapital ist da realistischer und pflegt durchaus diskret-pragmatische Beziehungen zur Provinz. (Bekanntlich ist der metropolitane Reichtum ja nicht vom Himmel gefallen.)

Provinz ist das kolonialisierte und zur Ausbeutung frei verfügbare Umland der Metropolis. Dank des Weltmarktes reicht dieses Umland heute bis in die Länder der ›Dritten Welt‹. Auch hier muß man Bahro recht geben, wenn er die Stadt als parasitäre Erscheinungsform definiert. Ohne die Ausbeutung der Provinzen kommt urbaner Reichtum mit all seinen kulturellen Vorzügen nun mal nicht zustande. In wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht haben wir es hier mit einer allgemein nicht hinterfragten Form der kolonialen Herrschaft zu tun. Der Weg zwischen Großstadt und Provinz ist weitgehend eine Einbahnstraße.

So werden auch in der föderativen BRD – nicht anders als in den übrigen, streng zentralistisch organisierten europäischen Staaten – sämtliche makroökonomischen Entscheidungen in den Metropolen getroffen. Die Provinzen unterstehen wirtschaftspolitisch und personell einer externen Lenkung. Sogenannte Führungskräfte aus der Wirtschaft, die von den in den Großstädten ansässigen Konzernleitungen in die einzelnen Provinzregionen geschickt werden, und deren Helfershelfer, die lokalen Provinzherren (man denke an Kommunalpolitiker u. ä.), sichern vor Ort vor allem die ökonomischen Interessen des kosmopolitischen Kapitals.

Seitdem sich die traditionellen Provinzindustrien, besonders die Montan- und Textilindustrie, in einer schweren Strukturkrise befinden (etwa seit Anfang der sechziger Jahre), verlagern multinationale Konzerne der Elektro-, Chemie- und Autoindustrie ihre banalisierten Produktionsschritte wie z.B. Fließbandarbeiten bevorzugt in diese strukturschwachen Regionen. Das hat seinen Grund in den staatlichen Subventionen, der relativ hohen Arbeitslosigkeit und dem niedrigen Lohnniveau. Da diese Konzerne in der Regel als Aktiengesellschaften organisiert sind, fließen die Profite in die Metropolen ab. Auch ein so traditioneller Wirtschaftsbereich in den Provinzen wie die Landwirtschaft unterliegt den Tendenzen der Zentralisation und geht zunehmend in internationales Kapital über. Absolute Priorität hat die Provinz, sobald es um die Standortfrage umweltfeindlicher Großtechnologien wie etwa Kernkraft- oder Kohlekraftwerke geht. Dagegen kommen für das Management, für Forschungs-, Entwicklungs- und Leitungsaufgaben nur die Metropolen in Frage, in denen es sich kosmopolitisch leben läßt.

Mit der Erfindung und Verbreitung der Massenmedien mußte die Provinz ihre kulturelle Autonomie fast vollständig einbüßen. Seit etwa 50 Jahren erreichen großstädtische Moden und Lebensweisen via Medien die Provinz und werden dort mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung von der ländlichen Bevölkerung imitiert. Der Kolonialismus der Metropolen hat die kulturellen Bedürfnisse der Provinz in totalitärer Weise seinem Bilde unterworfen.

Welche Impulse in Richtung Provinz gehen, bestimmen aber nicht die emanzipativen Kultur- und Bildungsinstitutionen der Stadt, nein!, ein repressives, nicht-aufklärerisches Fernsehmodell terrorisiert mit seinem platten Hedonismus das gesamte Land. Die eigentlichen Kulturmetropolen heißen nicht Berlin oder Frankfurt, sondern ARD und ZDF. Sie kolonialisieren die letzten Winkel der Provinz, um das hegemoniale, metropolitane Normensystem durchzusetzen. Pasolini hat das in seinen Freibeuterschriften am Beispiel des italienischen Fernsehens zu zeigen versucht:

»Kein faschistischer Zentralismus hat das geschafft, was der Zentralismus der Konsumgesellschaft geschafft hat … Mit Hilfe des Fernsehens hat das Zentrum den gesamten Rest des Landes seinem Bilde angeglichen, eines Landes immerhin, das unerhört mannigfaltig in seinen Geschichtsabläufen und reich an originären Kulturen war. Ein Prozeß der Nivellierung wurde eingeleitet, der alles Authentische und Besondere vernichtet. Das Zentrum erhob seine Modelle zur Norm; und diese Norm ist nichts anderes als die der modernen Industrialisierung, die sich nicht mehr damit zufrieden gibt, daß der Konsument konsumiert, sondern mit dem Anspruch auftritt, es dürfe keine andere Ideologie als die des Konsums geben.« (Pasolini 1975: 29 f.)

Die Massenmedien haben die kulturellen Eigenheiten der verschiedenen Regionen – und hierzulande gab es deren vieler – weitgehend zerstört. Sie haben einen Typus von Provinzler geschaffen, der sein Selbstbewußtsein durch die metropolitane Impfung verloren hat. Im Dschungel seiner Minderwertigkeitsgefühle begreift er nicht, daß seine soziale Stigmatisierung kolonialer Herkunft ist. Mit Fleiß kompensiert er sein Stigma oder versucht ihm zu entkommen, indem er den je neusten Moden der Großstadt hinterherrennt. Doch bei diesem Wettlauf von Hase und Igel hat er keine Chance –, wenn er ankommt, ist der Städter immer schon da. Das zutiefst mißtrauische und latent feindschaftliche Verhältnis von Provinzler und Städter hat neben der ideologischen, also der Bewußtseinsdimension, auch eine materielle, eine koloniale Grundlage. Wer in der Provinz aufgewachsen und sozialisiert worden ist, weiß um die Demütigungen und Kränkungen des großstädtischen Imperialismus. Was Fanon für die Kolonien beschrieben hat, trifft im übertragenen Sinne auch für den Provinzler zu:

»Der Blick, den der Kolonisierte auf die Stadt des Kolonialherren wirft, ist ein Blick geilen Neides. Besitzträume. Aller Art von Besitz: sich an den Tisch des Kolonialherren setzen, im Bett des Kolonialherren schlafen, wenn möglich mit seiner Frau. Der Kolonisierte ist ein Neider. Der Kolonialherr weiß das genau. Wenn er jenen Blick unversehens überrascht, stellt er mit Bitterkeit, aber immer wachsam fest: ›Sie wollen unseren Platz einnehmen.‹« (Fanon 1981: 33)

Der Aufstand der Provinz läßt bislang auf sich warten; doch bei einer zunehmenden Verschärfung der ökonomischen Krise könnte sich in den benachteiligten Provinzregionen ein soziales Konfliktpotential entwickeln, das sich gegen das großstädtische Kapital richtet und seinen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum fordert. Die Massenarbeitslosigkeit wird auf Dauer eine erhebliche Politisierung auch der ländlichen Regionen zur Folge haben.

Bleibt die Frage zu diskutieren, wie denn in einer neuen, einer nachkolonialen und – für die, die daran festhalten wollen – in einer nachrevolutionären Gesellschaftsform das Verhältnis von Provinz und Metropole als politisches, ökonomisches und kulturelles Verhältnis zu gestalten wäre. Bahros Losung: die Zerschlagung der Metropolen im Namen von Natur und sozialer Gerechtigkeit, klingt zwar in nicht wenigen Ohren plausibel, weil fundamental, doch es ist zweifelhaft, ob die unzweifelhaften Errungenschaften metropolitaner Kultur und Intellektualität sich in klosterähnlichen Kommunitäten reorganisieren lassen. Ich gebe zu, daß es mir schwerfällt im Hinblick auf das Verhältnis von Provinz und Metropole das Bild einer Utopie zu entwerfen. Klar hingegen ist, daß die Provinzialismus-Diskussion erweitert werden muß, um die Frage einer möglichen kulturellen und wirtschaftlichen Autonomisierung der Provinzregionen und um die Frage nach einer gerechteren Verteilung des metropolitanen Reichtums (dies ist eben nicht nur eine soziale, sondern auch eine regionale Frage, das vergißt man in Frankfurt sehr leicht!).

Provinz und Metropole sind nicht auf das herrschende, vom Kapital einseitig instituierte, parasitäre Verhältnis festgelegt; dieses Verhältnis kann jeweils neu und anders instituiert werden, wenn eine Gesellschaft es will.

 

Hermann Tertilt

diskus, 1985, H. 6/1, S.12-13

 

*.lit

Fanon, Frantz (1981): Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt.

Pasolini, Piere Paolo (1975): Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft, Berlin.

 

*.notes