diskus: Vor uns liegt das vor zwei Wochen im Verbrecher Verlag erschienene Buch von NSU-Watch: “Aufklären und Einmischen - Der NSU-Komplex und der Münchener Prozess”. Unsere erste Frage also: Wo klärt ihr auf, wo mischt ihr euch ein? 

Caro: Unser Organisationsmotto „Aufklären und Eimischen“ ist eigentlich genau das, was wir versuchen zu tun: Wir beschäftigen uns mit dem NSU-Komplex, aber auch mit rechtem Terror aus antifaschistischer Perspektive. Das heißt, wir blicken nicht einfach nur darauf und schreiben auf, was passiert, ohne einen eigenen Standpunkt zu haben. Wir wollen aus einer explizit antifaschistischen Perspektive Aufklärung von rechtem Terror kritisch begleiten und selber vorantreiben. Selber vorantreiben, indem wir unser eigenes Wissen und eigene Analysen stark machen: Wie funktioniert rechte Ideologie, wie funktioniert rechter Terror? Dann aber auch ganz konkret, wenn wir an den NSU denken oder an den Mord an Walter Lübcke, dass wir, wenn so etwas passiert, in unsere eigenen Archive gehen, in antifaschistische Archive wie das Aida-Archiv oder das apabiz in Berlin, und in die Datenbanken schauen: Haben wir Fotos von den mutmaßlichen Täterinnen und Tätern? Genau das ist nach der Selbstenttarnung des NSU gemacht worden und es hat sich schnell gezeigt, dass man alte Fotos aus den 90er Jahren von dem NSU-Kern-Trio und deren Umfeld hatte. So konnten durch antifaschistische Recherche schon erste Teile des Netzwerkes enttarnt werden. Das gleiche gilt für den Mord an Walter Lübcke. Wir konnten Fotos zeigen, eines der wichtigsten, finde ich, ist von exif-Recherche veröffentlicht worden. Es zeigt Markus H. und Stephan Ernst, jetzt beide in Frankfurt angeklagt, bei der Demonstration in Chemnitz 2018, die wir eben damals schon als Schulterschluss der extremen Rechten wahrgenommen haben. Wo wir damals schon davor gewarnt haben, dass das ein Nährboden für rechten Terror sein könnte. Und das ist es, was auch mit Einmischen gemeint ist: wir intervenieren immer wieder in Diskurse rund um rechten Terror.  

In welcher Position seht ihr dabei eure Beobachter_innenrolle? 

Was aus unserer antifaschistischen Perspektive wichtig ist, ist die Positioniertheit an der Seite der Überlebenden, der Betroffenen, an der Seite der Angehörigen und auch der Mordopfer zu kämpfen. Wir wollen, dass Täter und Täterinnen zur Verantwortung gezogen werden. Das heißt: Unsere Arbeit, mag zwar manchmal etwas auf Täter_innen fokussiert sein, aber da geht es uns um Fakten, um deren Ideologie heraus zu stellen. Um zu zeigen, wie sie als Neonazis aktiv waren und um solchen bekannten Narrativen wie ‚Ja die Person hate eine schwere Kindheit‘ etwas entgegen zu setzten; dafür zu sorgen, dass sie zur Verantwortung gezogen werden - als Neonazis und als Rechtsterroristen. Also diese ganze Gefühlswelt, die in der medialen Berichterstattung eine Rolle gespielt hat bei Beate Zschäpe, wie ist sie wann angezogen, wie hat sie sich wann wohl gefühlt oder bei Stephan Ernst, der dann irgendwie weint, das ist für uns nicht so von Interesse, sondern wenn wir über die Täter und Täterinnen sprechen, dann geht es uns darum, sie ins rechte Licht zu rücken - buchstäblich. Und, dass sie zur Verantwortung gezogen werden. 

Wie ist euer Selbstverständnis bei der konkreten Prozessbeobachtung – wie kann eine teilnehmende, solidarische Beobachter_innenrolle aussehen? 

Unsere Rolle war im NSU Prozess und ist jetzt auch im aktuellen Prozess, dass wir an jedem Tag da sind und mitschreiben. Wir versuchen diese Prozesse in die Öffentlichkeit zu bringen auf unterschiedliche Art und Weise, häufig über Twitter und über unsere Homepage, mit Protokollen, mit Berichten, mit Öffentlichkeitsarbeit. Das ist es auch, was viele andere Gruppen machen und das finden wir total gut, weil tatsächlich die Themen extreme Rechte und rechter Terror in der Öffentlichkeit nicht so richtig stattfinden. Und überall dort, wo es Aufmerksamkeit für das Thema gibt, ist das total wichtig. Das wird auch von Angehörigen gemerkt. Von Betroffen wird immer wieder gesagt, dass sie eben genau diese solidarische Öffentlichkeit gut finden. Unser Ziel ist, rechten Terror aufzuklären, aber auch rechten Terror in Zukunft zu verhindern und dem etwas entgegenzusetzen. Das ist bei einem Prozess wie dem um den antisemitischen und rassistischen Anschlag von Halle zum Beispiel schwierig, weil dort der Täter den Gerichtssaal explizit als Bühne benutzt, um weitere potentielle Täter und Täter_innen zu inspirieren. Das heißt: Anders als im NSU Prozess, wo wir alles eins zu eins wiedergegeben haben, weil es wenig Öffentlichkeit gab, machen wir das beim Halle-Prozess nicht, weil es die Betroffenen so auch fordern und weil es unserer eigenen Analyse entspricht.  

Was meint das konkret für eure Praxis? 

Das heißt, dass wir beispielsweise umschreiben, wenn sich der Täter nochmal rassistisch, antisemitisch äußert. Wir stellen die Nebenkläger_innen in den Vordergrund und das mit Absicht, weil wir versuchen unsere Arbeit immer wieder entsprechend anzupassen. Gerade in dem Halle-Prozess hat die Forderung der Betroffenen, dem Täter keine Bühne zu geben, auch einen Nachhall gehabt. Der MDR hat sich dafür entschieden, den Namen des Täters nicht zu nennen. Jetzt ist der Attentäter von Christchurch verurteilt worden und z.B. ist bei tagesschau.de dessen Name nicht genannt worden. Man merkt, dass sich durch so eine positionierte Öffentlichkeit oder, in unserem Fall, antifaschistische Öffentlichkeit auch in sogenannten Mainstreammedien ein bisschen was ändert und das ist total wichtig. Gleichzeitig versuchen wir trotzdem, rechte Ideologie und die Funktionsweisen von rechtem Terror explizit zu benennen, um ihn verstehen zu können. Das ist das Spannungsfeld, in dem wir uns bewegen. 

Wahrscheinlich hat auch die Aufmerksamkeit, die inzwischen auch in Mainstream-Medien auf rechtem Terror liegt, mit eurer Arbeit zu tun, die hartnäckig war. Wie schätzt ihr gerade in der Verhandlung hier in Frankfurt die Rolle der Medien ein? Wie nehmt ihr die Berichterstattung wahr?  

Bei dem Prozess in Frankfurt lässt die Aufmerksamkeit auf der einen Seite nach, auf der anderen Seite haben sich offensichtlich ein paar Medien vorgenommen, wirklich kontinuierlich zu berichten. Die Frankfurter Rundschau, die Hessenschau, die Zeit usw., die veröffentlichen quasi  zu jedem Prozesstag etwas, was dann wirklich auch kleinteilig wird. Das ist natürlich eine Herausforderung, die man für eine mediale Veröffentlichung berücksichtigen muss. Denn man kann sich ja vorstellen, dass es nicht auf jeder Redaktionskonferenzmit Enthusiasmus begrüßt wird, wenn man sagt: ‚Gestern wurden wieder ganz kleinteilig Zeugen und Zeuginnen befragt und es ist nicht so richtig was rausgekommen, aber das kleine Detail war schon irgendwie wichtig…‘ Aber es geht ja nicht nur um eine kontinuierliche Berichterstattung, sondern es geht ja auch um eine Berichterstattung, die versteht, wovon sie spricht. 

Was heißt das, eine Berichterstattung, die versteht wovon sie spricht? 

Also eine Berichterstattung, bei der sich Journalist_innen die Mühe machen, zu verstehen, was man vor sich hat. Was ist der Fall, wie funktioniert rechter Terror, wie kann man darüber berichten und so weiter. Und das spiegelt sich in dieser Berichterstattung wieder und das ist das Nächste, was total wichtig ist und hier auch ganz gut funktioniert. Die Herausforderung gerade beim Prozess in Frankfurt ist wieder eine ähnliche wie beim NSU-Prozess. Man muss immer wieder sagen; Wir gehen hier von einem Netzwerk aus, nicht von einem Einzeltäter. Wir wissen nicht, wer das ist und wie das funktioniert hat, aber Stephan Ernst steht damit nicht alleine. Das ist aber das Narrativ was die Anklage verfolgt und von der die Bundesanwaltschaft momentan immer noch nicht weggerückt ist. Die haben Markus H. noch nicht als echten Mittäter angeklagt, sondern wegen psychischer Beihilfe und im Grunde verkleinert das diesen Prozess wieder auf eine Person. Obwohl ich sagen würde, es könnte dort locker nochmal eine dritte Person sitzen und man könnte eigentlich wegen einer rechtsterroristischen Vereinigung anklagen. Das wurde aber nicht gemacht. Dieser Fall ist schon wieder sehr, sehr klein gemacht worden von der Bundesanwaltschaft. Und dann gibt es eben auch Journalisten und Journalistinnen, die dieses Narrativ nicht hinterfragen, sondern exakt so berichten. Das nicht so richtig einordnen, mit dem, was man weiß über Stephan Ernst zum Beispiel. Es wäre wichtig zu sagen: ‘Okay, er spricht im Prozess und sagt alles Mögliche, aber es muss vor die Folie gelegt werden, von dem was man weiß, was schon recherchiert wurde‘. Und man darf nicht nur diesen einen Tag sehen, dieses eine Statement eines Angeklagten.  

Du hast ja eben schon etwas über die Bundesanwaltschaft geredet. Wie beurteilt ihr im Frankfurter Prozess die Rolle der Institutionen, die aufklären sollen? Wie gestaltet die Bundesanwaltschaft, aber auch der Strafsenat die Prozessführung?   

Ich habe das Gefühl, das Gericht lässt sich noch nicht so richtig in die Karten gucken.Ergänzung der Autor_innen: Die Entwicklung des Prozessgeschehens nach dem Interview lässt deutlich mehr Rückschlüsse zu, wie das Gericht in Frankfurt den Tatkomplex beurteilt. Die Erklärung des Strafsenats am 21. Verhandlungstag, am 1. Oktober 2020, den Haftbefehl gegen Markus H. aufzuheben und ihn aus der Untersuchungshaft zu entlassen, lässt vermuten, dass die Richter_innen die Anklage, die Markus H. der psychischen Beihilfe beschuldigt, bis jetzt nicht bewiesen sehen. Die Bundesanwaltschaft hat gegen diese Entscheidung Beschwerde eingelegt. Über die Entwicklungen des Prozesses wird diskus weiterhin berichten. Ich fand in den ersten Wochen auffällig, oder hab mir darüber viel Gedanken gemacht, wie gut ermittelt wurde von der Polizei und von der Bundesanwaltschaft. Und inwiefern sie sich eigentlich nur auf dieses erste Geständnis von Stephan Ernst verlassen, wo er sagt: ‘Naja, ich habe mich alleine radikalisiert und dann habe ich halt den Walter Lübcke umgebracht, niemand anderes hat davon gewusst und dort und dort sind übrigens meine Waffen‘, die man dann ja auch gefunden hat. Darauf basiert die Anklageschrift und das finde ich schon erstaunlich, weil man zum Zeitpunkt des Prozesses drei Einlassungen gehabt hat, also zwei Geständnisse und eine Befragung. Ich würde von den Behörden erwarten, dass sie jedes einzelne Detail von den über zehn Stunden Aussagematerial überprüfen. Dass alles gegeneinander gehalten wird. Auch in den anderen Geständnissen, nicht nur im ersten, sind Dinge, die wir überprüfen können. Ich weiß nicht, wieviel Widerhall das eigentlich gefunden hat und wie stark man sich darauf ausgeruht hat, dass hier ein mutmaßlicher Täter gestanden hat, dass man die Waffe gefunden hat und damit einen relativ wasserdichten Fall vor Gericht hat. Natürlich ist das das Kernproblem, was auch der NSU-Prozess gezeigt hat: Wenn man nur auf den Fall gucken möchte, wer Walter Lübcke umgebracht hat und man eine Person verurteilen möchte, dann kommt man damit auch weiter. Aber es muss doch um mehr gehen.  

Worum muss es deiner Meinung nach gehen? Was ist die Aufgabe und auf Verpflichtung der ermittelnden Institutionen? 

Es muss darum gehen, und das ist eigentlich auch die Aufgabe von Gerichten, denke ich, rechten Terror zu verhindern, das zeigt nicht nur der NSU Komplex. Wenn man rechten Terror verhindern möchte, dann muss man die Netzwerke und die Taten vollständig aufklären. Man muss zumindest alles daransetzen, dass sie vollständig aufgeklärt werden und das sehe ich momentan von der Bundesanwaltschaft noch nicht, das hab bei der Aussage des Leiters der SoKo zum Mord an Lübcke eigentlich auch nicht so richtig gesehen. Der hat sich sehr bedeckt gehalten, inwiefern da konkret zu einem rechten Motivermittelt wurde. Das finde ich beunruhigend, weil es zeigt, dass aus dem NSU-Komplex nicht gelernt wurde, sondern wir wieder nur da sitzen mit Leuten von der Polizei, die ihre Aufträge abarbeiten, aber nicht darüber hinaus denken, keine Zusammenhänge sehen. Wir sehen, dass die rechte Szene in Hessen nicht massiv unter Druck gesetzt wurde; wir sehen, dass sie nicht entwaffnet wurde. Combat 18 wurde zwar verboten, aber mit sehr langer Ankündigung. Das, was notwendig ist, um nach dem Mord an Walter Lübcke wirklich einen Schlussstrich unter rechten Terror zu ziehen, rechtem Terror entgegen zu treten und zu verhindern, das wird einfach nicht gemacht, und das wird auch in diesem Gerichtsverfahren nicht gemacht. Im Grunde ist für mich, ohne dass ich jetzt die Personen direkt verknüpfen möchte, aber in der Denke und der Tradition ist für mich der Mord an Walter Lübcke die Fortsetzung des NSU-Komplexes, sowie der NSU-Komplex eigentlich die Fortsetzung des Oktoberfestattentats und der Taten der deutschen Aktionsgruppen war, weil überall dort Ähnliches vor den Gerichten passiert ist.  

Bei den polizeilichen Ermittlungen, das hast du ja eben erwähnt, wurde erst nach einer Woche angefangen überhaupt in Richtung rechts zu ermitteln. Wie erklärt sich, dass diese Ermittlungsweisen vor Gericht überhaupt nicht hinterfragt werden? Also: Warum wurde erst so spät eine Untergruppe in der Soko zur Ermittlung des Mörders von Walter Lübcke gebildet? Wie siehst du vielleicht dahingehend auch die Befragungsmechanismen vom Strafsenat, aber auch den anderen Verfahrensbeteiligten? 

Ja, tatsächlich fand ich die Befragung des Soko-Leiters Muth auch oberflächlich, genau wie du das gesagt hast. Er hat zwar gesagt, dass man ein rechtes Motiv nicht ausgeschlossen hat und dann  diese Untergruppe gebildet hat, aber ich frage mich, was die genau gemacht haben. Wie stark können wir eigentlich vertrauen, dass die Stephan Ernst auch festgenommen hätten, wenn sie nicht dessen Hautschuppe auf dem Hemd von Walter Lübcke gefunden hätten? Das ist doch die entscheidende Frage. Muss man sich darauf verlassen, dass man Glück hat, um rechten Terror zu lösen oder sind die Behörden auch selbst in der Lage, so etwas heraus zu bekommen? Ich habe Zweifel daran, dass da wirklich mit Nachdruck entsprechend ermittelt wurde und ermittelt worden wäre, wenn diese DNA-Spur nicht aufgetaucht wäre. Gefragt wurde das aber nicht und da stellt sich natürlich die Frage, inwiefern das Gericht und die Verfahrensbeteiligten ein Interesse haben, Behördenversagen oder Ermittlungen vor Gericht richtig herauszustellen. Vielleicht ist es auch nicht so richtig deren Aufgabe, dann muss der Untersuchungsausschuss das ordentlich machen. Es sind ja zum Glück zwei Gremien, die hier draufgucken neben den journalistischen Recherchen. Aber da zeigt sich schon: So weit wird der Blick nicht; aber letztlich werden wir bis zum Urteil nicht wissen, wie das Gericht das einschätzt. Zwar hat der vorsitzende Richter Sagebiel gesagt, sie interessieren natürlich für das Netzwerk, aber ob das stimmt, das werden wir noch sehen. 

Du hast ja herausgestellt, dass die Aufgabe von juristischen Institutionen eigentlich auch ist, zur Aufklärung beizutragen bzw. dass in diesem Prozess Möglichkeiten des Gerichtsaals nicht genutzt werden, die zu einem umfassenderen Bild beitragen könnten. Wie ist mit diesem Hintergrund die Rolle der Nebenklage in solchen Prozessen zu bewerten? 

Natürlich muss man sich immer vor Augen führen, dass Gerichte eine Aufklärungspflicht haben und auch Ermittlungspflichten. Das heißt, wenn die was Neues aufdecken im Gericht, dann müssen sie dem auch nachkommen und können Ermittlungen anstoßen usw. Sie müssten sich nicht mit dem, was sie vorfinden, abfinden sondern können auch weiter gehen. Einzelne Prozesse können die Strukturen offenlegen, die dann wiederum in anderen Prozessen verhandelt werden. Der Rahmen ist relativ groß. Hinzu kommt, dass man Taten auch entsprechend gesellschaftlich einordnen kann und das dann auch vor Gericht feststellen. Nur braucht es da häufig aktive Akteure und Akteurinnen in den Prozessen. Das können zunächst aber auch unterschiedliche sein. Wir haben schon Prozesse ohne Nebenklage erlebt, in denen aber das Gericht total interessiert war oder die Staatsanwaltschaft. Es braucht tatsächlich immer Akteure und Akteurinnen, Verfahrensbeteiligte, die diese Aufklärung vorantreiben, von alleine passiert da nichts. Häufig ist dieser Akteur, Akteurin die Nebenklage. Das heißt, die Betroffenen, die Angehörigen und ihre anwaltlichen Vertretungen. Die haben Verfahrensrechte, so können sie Zeugen und Zeuginnen befragen, sie haben Akteneinsicht und sie können Anträge stellen, bspw. Beweisanträge, Ermittlungsanträge. Bei Beweisanträgen geht es dann entweder darum, dass man z. B. Schriftstücke sieht oder dass man Zeugen und Zeuginnen lädt. Häufig ist die Stellung des Beweisantrags schonmal eine Möglichkeit etwas öffentlich zu machen. Die Beweisanträge müssen begründet sein und somit ist das, was wichtig ist, schonmal in der Öffentlichkeit, egal was dann das Gericht sagt. Das war im NSU-Prozess so und das wird im Halle-Prozess und wahrscheinlich auch im Prozess in Frankfurt eine Rolle spielen, deren Wichtigkeit man nicht genug betonen kann. Ohne die Nebenklage im NSU-Prozess und vor allem ohne die Angehörigen und Betroffenen, die auch immer wieder persönlich hingefahren sind, um auszusagen, ohne die wüssten wir viel weniger über den NSU-Komplex. Ohne sie würden wir viel weniger über den antisemitischen, rassistischen Anschlag in Halle wissen und wahrscheinlich auch über den Mord an Walter Lübcke und den rassistischen Angriff auf Ahmed I. und das Netzwerk drumherum. Das ist nicht zu unterschätzen. 

Welche politischen Forderungen leitet ihr aus eurer Prozessbeobachtung ab? Du hast zu Beginn ja schon erwähnt, dass rechter Terror gestoppt werden muss und dass das auch Ziel der Aufklärung sein muss, um weitere Gewalttaten zu verhindern. 

Ja, aber, das möchte ich nochmal betonen, das ist auch eine gesellschaftliche Aufgabe. Ich will jetzt nicht einfach endlos nur auf Gerichten und Untersuchungsausschüssen, Polizeibehörden und Verfassungsschutz rumreiten.  Das darf man zwar auch zu Recht, aber man darf sich da selber nicht rausnehmen. Gerade wenn man auf den Mord von Lübcke schaut: Wir sehen den Schulterschluss der extremen Rechten in Chemnitz, die gemeinsam auf die Straße gehen. Das ist ein gesellschaftlicher Rückhalt, den sie dort bekommen haben: Diesen gesellschaftlichen Rückhalt muss man Neonazis nehmen. Das konkrete Stoppen und Entwaffnen, das müssen natürlich Behörden machen und das muss man auch immer wieder von denen einfordern. Aber man selber hat die Aufgabe dem gesamtgesellschaftlichen Rassismus, der Verbreitung von Antisemitismus wie er auch auf den Corona-Leugner-Demonstrationen zu sehen ist, entgegenzutreten. Und das ist etwas, was jede und jeder einzelne gegen rechten Terror tun kann und auch tun muss. Um nicht wieder in diese Schleife zu gehen: Wir sehen einen riesigen, rechten Aufmarsch und das erste, was alle machen ist, Verständnis zu zeigen. Jeder und jede einzelne, der letzten Samstag in Berlin mit auf der Straße war, wird dafür verantwortlich sein, wenn aus diesem Milieu rechter Terror entsteht und die Gefahr dafür, dass rechter Terror aus diesen Corona-Leugner-Demos entsteht ist unheimlich hoch. So durchradikalisiert, wie die schon sind und wie schnell diese Radikalisierung dort funktioniert, haben wir dort auf der Straße vielleicht schon die nächsten Stephan Ernsts gesehen, die jetzt gestoppt werden müssen. Alle, die dort mit auf der Straße waren, tragen daran eine Mitverantwortung, denn sie geben denen das Selbstbewusstsein und die Rückendeckung. Das muss aufhören und das ist auch unsere Aufgabe. Das vielleicht auch als Forderung an uns selber und an alle. Denn wenn es immer nur um den Verfassungsschutz geht, können wir uns gut zurücklehnen, aber dafür sehe ich überhaupt gar keinen Anlass.  

Die Verhandlung am Oberlandesgericht Frankfurt wird am 20. Oktober weitergesetzt um 10 Uhr. Am 29. Oktober wird außerdem zur Unterstützung von Ahmed I.s Zeugenaussage vor Gericht mobilisiert. Um 12.30 wird es eine Kundgebung vor der Generalanwaltschaft Zeil 42, geben. 

Das Interview führten Laura und Arthur am 2. September 2020.