1979 erschien in der Frankfurter Studierendenzeitschrift diskus ein Aufsatz mit dem schlichten Titel Antisemitismus und Nationalsozialismus. Seine Thesen waren so spektakulär wie wirkmächtig. Der Autor Moishe Postone, ein kanadisch-jüdischer Historiker, promovierte gerade an der Goethe Universität. Viele Jahre später erschien seine Dissertation, erst auf Englisch, dann auf Deutsch unter dem Titel Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Postone hat mit seinem Hauptwerk einen wesentlichen Beitrag zur Wertkritik geleistet. Sein Aufsatz von Ende der 1970er Jahre hat die Antisemitismustheorie bereichert und vorangebracht. Heute gilt er als Klassiker.

Postone schreibt darüber, dass der Antisemitismus „den Juden“ eine besondere Art der Macht zuspricht. Sie sei „eigenartig unfaßbar, abstrakt und allgemein“ und erscheine als „ungeheuer groß und schwer kontrollierbar“. Mit Marx‘ Fetischbegriff zeigt Postone, dass diese Zuschreibungen kein Zufall sind, sondern mit den Eigenschaften des Kapitals korrespondieren.

In der Weltanschauung des Antisemitismus ergibt sich so eine wirkmächtige Dichotomie von Abstrakt und Konkret. Gegen das Abstrakte, das mit „dem internationalen Judentum“ identifiziert wird, setzt der Antisemitismus das Konkrete. Er betreibt eine „Biologisierung des Kapitalismus“, die die „Überwindung des Kapitalismus und seiner negativen Auswirkungen“ gleichgesetzt mit der „Überwindung des Judentums“.

Am Nationalsozialismus, dem eliminatorischen Antisemitismus per se, lässt sich diese Gegenüberstellung veranschaulichen: im vermeintlichen Gegensatz von ‚jüdischem Finanzkapital‘ und ‚deutschem Industriekapital‘. Die frühen Nationalsozialisten Dietrich Eckart und Gottfried Feder setzen in Texten von 1919, im Flugblatt An alle Werktätigen und im Manifest gegen die Brechung der Zinsknechtschaft, Rechenbeispiele ein, um ihren Antisemitismus zu rechtfertigen. Sie vergleichen dabei die Entwicklung des Vermögens der Familie Rothschild mit der deutscher Kapitalisten, um zu ‘beweisen‘, dass jüdisches, abstraktes Kapital sich völlig abgekoppelt von realen Entwicklungen vermehre, während das ‚gute‘ deutsche Kapital verwurzelt und verbunden mit den realen Verhältnissen sei. Dieses ‚Verwurzelte‘, das Organische, das Verbundene, also das Vermittelte, ist es, das konkret erscheint, und dem Abstrakten, Unfassbaren, Künstlichen, Geheimen, ‚Wurzellosen‘ gegenübergestellt wird.

Postones Überlegungen zeigen, dass der Antisemitismus ganz wesentlich eine Weltanschauung ist, die die kapitalistische Gesellschaftsordnung verarbeitet und von ihr geprägt wird. Die abstrakte Herrschaft des Kapitals, das „automatische Subjekt“ (Karl Marx), erscheint dem Antisemiten als Übel, das er personalisieren kann. Denn ‚die Juden‘, so die antisemitische Annahme, stecken hinter dem Übel der Welt, hinter ‚Zinsknechtschaft‘ und Spekulation. Moishe Postones Verdienst besteht darin, diese Beobachtung gesellschaftstheoretisch grundiert zu haben, indem er zeigt wie der Antisemitismus sich im Kapitalismus radikalisierte und zur Denkform entwickelte.

Was Postone in diesem Aufsatz, der seitdem in verschiedenen Varianten kursiert, ebenfalls deutlich sieht, ist, dass der Antisemitismus selbst ein Verschwörungsmythos ist. ‚Der Jude‘ soll nämlich hinter Kommunismus und Kapitalismus stehen. Was auf den ersten Blick wie eine absurde Widersprüchlichkeit wirkt, ragt ins Zentrum dieser „negativen Leitidee der Moderne“ (Samuel Salzborn). Postones hellsichtiger Aufsatz ist allein schon wegen seines weiterhin aktuellen Gegenstands auch nach über vier Jahrzehnten noch nicht veraltet.

Geschichte und Struktur

Antisemitismus und Verschwörungsmythos sind weiterhin Themen unserer Zeit. Die Telegram-Channels einschlägiger Verschwörungsgläubiger und die Demonstrationen auf Deutschlands Straßen seit 2020 haben gezeigt, dass Antisemitismus immer unverhohlener, offener und ungehemmter gezeigt wird. Dass antisemitische Verschwörungsmythen während der Corona-Pandemie Hochkonjunktur haben, sollte niemanden wundern. Es sind Zeiten der Unsicherheit und des Kontrollverlusts, die das Bedürfnis nach einfachen Antworten und Ermächtigung hervorrufen.

Im Verschwörungsmythos werden gesellschaftliche Prozesse personifiziert und dämonisiert. Eine kleine Gruppe von ‚sinistren‘ Menschen soll sich zusammengeschlossen haben, um hinter dem Rücken der Mehrheit, ‚das Volk‘ zu beherrschen und ihm Schaden zuzufügen, um sich zu bereichern.

Antisemitismus und Verschwörungsmythen ähneln sich in ihrer Grundstruktur. Beide erzählen von einem existenziellen Kampf zwischen Gut und Böse, indem sich kollektive Identitäten gegenüberstehen würden: „Wir gegen Die“. Zugleich sind beide Unterlegenheitsfantasien. Demnach versucht eine übermächtige, aber zugleich besiegbare Gruppe die Herrschaft an sich zu reißen. Dabei soll es immer beinahe zu spät sein. Komplexe, gesellschaftliche Verhältnisse werden so personalisiert und damit vereinfacht. Die Leitfrage der Verschwörungsmythen, cui bono, also wem nützt es, verweist auf diesen Mechanismus. Gesellschaft wird in diesen Mythen wie im Antisemitismus als reines Produkt von Entscheidungen einer Personengruppe, die sich durch sie bereichert, gedacht.

Aber Antisemitismus und Verschwörungsmythen sind nicht nur gleich strukturiert. Sie teilen sich auch eine Geschichte, sie sind historisch verflochten. Der Antisemitismus ist seit jeher ein Verschwörungsmythos: ‚den Juden‘ wurde vorgeworfen Christusmörder zu sein, das Blut nicht-jüdischer Kinder für rituelle Praktiken zu brauchen oder Brunnen vergiftet zu haben, um Seuchen ins Land zu bringen. Diese vormodernen Erzählungen handeln noch nicht von einer globalen Weltverschwörung. Eben jenes Element kommt mit der Moderne, mit Postone gesprochen: mit dem Kapitalismus, hinzu und ist seitdem zentral. Alle diese Erzählungen treten bis heute in verschiedenen Formen auf.

Antisemitische Verschwörungsmythen haben nicht erst seit der Corona-Pandemie wieder Hochkonjunktur. Die Protokolle der Weisen von Zion, eine antisemitische Fiktion, sind seit Anfang des 20. Jahrhunderts ein Stichwortgeber für Antisemit_innen aller Länder. Deren Gedankenwelt findet sich heute nicht zuletzt verdichtet in den antisemitischen Codes ‚New World Order‘ (NWO) oder ‚Zionist Occupied Governement‘ (ZOG), die mal mehr mal weniger versteckt von der jüdischen Weltverschwörung raunen. Durch und nach dem Sommer der Migration 2015 trat die Verschwörungserzählung vom ‚Großen Austausch‘ ihren Siegeszug in Deutschland an – erst in der Rechten, mittlerweile bis weit in die Mitte der Gesellschaft als Topos gesetzt. Den Begriff hat der französische Autor Renauld Camus einige Jahre vorher erfunden, den Gedanken dazu schrieb aber bereits Adolf Hitler in Mein Kampf auf. Er hat dieselbe Erzählung ‚Umvolkung‘ genannt. Die Ritualmordlegende wurde jüngst erst durch QAnon-Gläubige reaktualisiert und aus dem Vorwurf der Brunnenvergiftung wurde heute die Behauptung, Israel stecke hinter Covid-19. Dass ‚die Juden‘ gezielt Seuchen verbreiten würden, steht auch in den ‚Protokollen‘. Im Antisemitismus nichts Neues.

Verschwörungsmythen können aber auch dann antisemitisch sein, wenn sie nicht explizit von Jüdinnen und Juden sprechen, immer dann zum Beispiel, wenn von einer Weltverschwörung geraunt wird. Diese Erzählung ist strukturell antisemitisch. Es bedarf nur eines Explizit-Machens und schon hat man es mit einer klassisch antisemitischen Argumentation zu tun. Struktureller Antisemitismus ist ein Antisemitismus noch ohne Jüdinnen und Juden. Der Kurzschluss auf diese spezielle Gruppe ist sehr schnell vollzogen. Nicht zuletzt das letzte Jahr hat das überdeutlich gezeigt.

Notwehr und Tat

Leo Löwenthal, ein Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung, hat in den 1940er Jahren die Agitatoren von Verschwörungserzählungen und ihre Reden analysiert. Die titelgebenden „falschen Propheten“ setzen auf Verfolgungswahn und Paranoia und schüren Angst, um aufzurütteln und zu erwecken. Damit sieht Löwenthal schon sehr genau die Gefahr, die in Verschwörungsmythen steckt: sie rufen zur Tat auf.

Nicht nur versprechen Verschwörungserzählungen zu zeigen, was wirklich gespielt wird, wer die Geschicke der Welt lenkt. Sie mahnen auch dazu, etwas dagegen zu tun. Es geht eben nicht nur um Erweckung, sondern auch um Ermächtigung. „Wenn die Leute überleben wollen“, schreibt Löwenthal aus dem Blick der Verschwörungsgläubigen, „müssen sie unverzüglich handeln und diese Verschwörung zerschlagen“.

Die große Gefahr von Verschwörungserzählungen besteht darin, dass sie zur Gewalt aufrufen. Gegen die Verschwörung sind dabei alle Mittel Recht, denn im Kampf gegen einen ‚übermächtigen‘, ‚bösen‘ Feind wird die Tat zur Notwehr. Das ist der Zusammenhang zwischen den „Widerstand“-Rufen auf deutschen Querdenken-Demonstrationen und den Attentaten von Hanau, Halle und Christchurch.

Mit Löwenthal lässt sich diese Dynamik verstehen. Mit Postone kann man begreifen, dass der Kampf gegen Verschwörungserzählungen und Antisemitismus ein langer ist, weil diese Phänomene in der Gesellschaftsstruktur angelegt sind, in der wir leben. Deshalb bedarf es nicht zuletzt der kritischen Gesellschaftstheorie, um sie zu verstehen. Und um endlich nachhaltig etwas gegen sie zu unternehmen, wäre eine Veränderung dieser Gesellschaft nötig.