
Der Kollektivsingular »Die Linke«. Zu seiner Geschichte und zu seinem absehbaren Ende
Links zu sein, gilt als unhintergehbar für emanzipatorische Politik. Doch ist die Linke keine überhistorische politische Identität, sondern erst in den 1990er Jahren entstanden. Konfrontiert mit ihrer fortschreitenden Marginalisierung und ihrem absehbaren Ende, flüchtet sie sich heute in eine imaginäre Scheinradikalität.
»Die Linke« (nicht die Partei, aber diese eingeschlossen) gilt heute für diejenigen, die sich als progressiv, widerständig oder emanzipatorisch identifizieren, als normativ durch und durch positive Kategorie von fast universalhistorischer Reichweite. Für sie versteht sich das »Linkssein« in gewisser Weise von selbst: Es ist »die« politische Identität schlechthin. Die Linke erscheint als das übergreifende Kollektiv aller progressiven Kräfte, und drückt, so differenziert und zerstritten diese auch sein mögen, deren gemeinsamen Kern aus: die emanzipatorische Identität. Dies scheint ganz selbstverständlich und immer schon so gewesen zu sein.
Tatsächlich handelt es sich bei dieser so bestimmten Linken aber nicht um progressive Identität überhaupt, sondern um eine historisch spezifische Politik- und Organisationsform, die sich erst ab Anfang der 1990er Jahre herausgebildet hat. Erst damals wurde das Linkssein zur allgemeinen Vokabel progressiver politischer Identität. Es bildete sich der Kollektivsingular1 die Linkeheraus, der schließlich so selbstverständlich wurde, dass ihn die Partei »DIE LINKE« in den 2000er Jahren für sich beanspruchen konnte.2
Vorläufer der heutigen Linken
Das Wort »links« bzw. »die Linke« hat zwar eine lange Geschichte. Früher wurde es aber hauptsächlich als parlamentarische Positionierung verwendet, daran orientiert dann auch für politische Strömungen: zum Beispiel die Hegelsche Linke, Zimmerwalder Linke, Linkskommunismus, radikale Linke. Der Begriff einer Linken sui generis, als real handelndem Kollektiv und Kern politischer Identität, ist demgegenüber trotz seines überhistorischen Aussehens neu. Diesen Wandel beobachten etwa Walter G. Neumann3 und Thomas Seibert4, er lässt sich aber auch daran ablesen, dass der Kollektivsingular – die übergreifende Linke als das Subjekt der Veränderung – erst ab den 1990er Jahren systematisch in den linken Diskursen auftaucht. Vor dieser Zeit wurde das übergreifende Kollektiv der emanzipatorischen Bewegung in aller Regel nicht »die Linke« genannt, sondern etwa Arbeiterbewegung, Internationale, Antifaschismus, oder als partikulare Kollektive Kommunismus, Anarchismus, Sozialismus, studentische Protestbewegung, Frauenbewegung oder Antiimperialismus, die sich gleichwohl als links verstanden. Pointiert gesagt: Man sprach zwar von der Linken, aber bezog sich nicht auf sie als das emanzipatorische Kollektivsubjekt, das diese oder jene Aufgaben hat und dies oder jenes tun soll.
Was es früher durchaus gab, waren Versuche, eine die Linke zu gründen, wegen der teils extremen innerlinken Gegensätze und angesichts gemeinsamer Feinde. Um zwei Beispiele zu nennen: Die 1931 gegründete zentristische Sozialistische Arbeiterpartei (SAPD, ein prominentes Mitglied war Willy Brandt) versuchte, die Spaltung der Arbeiterbewegung zu überwinden, blieb aber gegenüber SPD und KPD bedeutungslos. 1972 entwarf Oskar Negt in seiner Eröffnungsrede auf dem Solidaritätskongress für Angela Davis die Strategie einer verschiedene Strömungen und gesellschaftliche Gruppen übergreifenden Linken. Insbesondere sollte diese Linke die Neue Linke – die 68er – und die »alte« Linke – die traditionelle Arbeiterbewegung – verbinden. Auch dieser Versuch gelang nicht.
Mit der Neuen Linken hatte sich erstmals eine allgemeine politische Strömung als Linke bezeichnet. Sie war jedoch noch keine Linke als Linke. »Neu« meinte hier immer noch etwas Konkretes: die Überwindung des Ökonomismus der traditionellen Arbeiterbewegung, antiautoritäre Emanzipationsprinzipien, die Befreiung der Bedürfnisse und die Einbeziehung des Antikolonialismus und später auch des Feminismus. Mit diesen Prinzipien eröffnete 1968 ein neues politisches Feld, in dem sich alle seitherigen Bewegungen – etwa die K-Gruppen, die Ökologiebewegung, die Autonomen, die Wertkritik – verorten mussten, und sei es in der prononcierten Distanz von den nun gültigen Prinzipien. Dennoch haben die Bewegungen sich vorerst noch nicht in ein übergreifendes, als real unterstelltes Kollektiv der Linken als Linker eingeordnet. Dies waren auch weiterhin die vorhin genannten Kollektive. Teilweise wurde – was heute kaum mehr vorstellbar ist – der Begriff der Linken sogar explizit abgelehnt, wie der Buchtitel Die Grünen. Nicht links nicht rechts sondern vorne (1985) von Fritjof Capra und Charlene Spretnak zeigt.
Die Geburt der Linken
1990 änderte sich die Situation sehr grundlegend, so dass es in der Folge möglich war, eine Linke sui generis aufzubauen. Nachdem bereits Ende der 1970er die 68er-Bewegung endgültig gescheitert war und damit auch ihre kollektive politische Identität verloren gegangen war, führte der Zusammenbruch der Sowjetunion zu einem endgültigen gesellschaftlichen Bedeutungsverlust der Linken. Damit schlug der Druck des Antikommunismus, also der Druck, sich von Kommunismus und Revolution zu distanzieren, in voller Härte durch. Angesichts dieser Marginalisierung und einer neuen Qualität rechtsradikaler Mobilisierung (»Baseballschlägerjahre«) wurde es daher notwendig, alte Differenzen beiseitezulegen und ein neues, übergreifendes Kollektiv zu begründen. So entstand aus der Not der fehlenden übergreifenden Identität eine Linke sans phrase.
Möglich wurde dies nicht zuletzt, weil die linksterroristischen Gruppen ihre Auflösung bekanntgegeben hatten und der staatliche Verfolgungsdruck nachgelassen hatte; man fand Aktionsformen und Sprachregelungen, in denen radikale und moderate Linke zusammenfinden konnten. Durch diese neue Bündnis- und Kompromissfähigkeit gelang der Linken als Linker zudem ein neuer Aufschwung der Institutionalisierung. Alte Institutionen wurden erneuert, neue gegründet, linke Flügel in Staatsapparaten aufgebaut: NGOs, Sozialarbeit, Stiftungen, Kunst- und Kulturinstitutionen, Professuren, Gewerkschaften, Parteien, Medien. Die Institutionalisierung machte den Aktivismus um einiges effektiver, weil er nun bezahlt wurde und auf professionelle Infrastruktur zurückgreifen konnte. Erstmals konnten sich auch alte und Neue Linke unter einem Dach zusammenschließen und ihre Kräfte bündeln – auch wenn 1968 nach wie vor das politische Feld definierte, in dem sich die Linke bewegte. Nicht die Oktoberrevolution, sondern 1968 war das Bild der großen Bewegung, die wieder erreicht werden sollte: Was damals nicht gelungen war, sollte nun endlich eingelöst werden.
Doch waren in »die« Linke von Beginn an neue Probleme eingetragen. Anders als frühere politische Identitäten und Kollektive wie Arbeiter- oder Frauenbewegung ist »die« Linke ganz abstrakt: Ihr Begriff hat sich von sozialen wie von individuellen Situationen gelöst und hat für sich genommen keine politischen Inhalte mehr. An sich heißt links ja nur, für die Verwirklichung der bürgerlichen Ideale einzutreten, also für Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Wofür die heutige real-abstrakte Linke konkret eintritt, bleibt in ihrem Begriff unbestimmt: »Der Begriff ›links‹ zur Bezeichnung politischer Bewegungen ist unscharf geworden. Mit der Auflösung der klassischen politischen Milieus, der Entstehung der Ökologiefrage, der Globalisierung der Kapital- und Arbeitsmärkte […] ist der Inhalt dessen, was unter linker Politik zu verstehen ist, diffus und beliebig geworden.«5 Das Kollektiv dieser Linken existiert nicht unmittelbar, sondern real ist nur die Anrufung, kollektiv links zu sein und damit zur Linken als Linken zu gehören. Das unterscheidet »die« Linke etwa von der alten Arbeiterbewegung, die nicht nur Arbeitssituation und soziokulturelles Milieu teilte, sondern auch ganz reale Massenorganisationen aufbaute. Für diese Anrufung muss die Linke ihre abstrakten Ideale zu einem »wahren« Links konkretisieren, was immer wieder zu harten Grabenkämpfen führt, in denen jede Seite sich als richtige und gute linke Position gegen die andere durchzusetzen beziehungsweise diese als »falsches« Links auszuschließen versucht. Neben vielen massiven und auch geringfügigeren Streitthemen betrifft dies insbesondere die von 1968 stammende zentrale Achse, den Streit von Klassen- und Identitätspolitik.6 Auch Kompromissformeln oder das Ausklammern des Streits sind da nur ein Notbehelf, denn am Ende des Tages muss praktisch Stellung bezogen werden, und dann droht oft die Spaltung. Solche Spaltungen gibt es zwar schon lange, sie entzünden sich heute aber meist an den Definitionen des Linksseins, was den »Spaltpilz« nochmal verschärft hat.
Trotzdem vermochte es »die« Linke aufgrund ihrer Bündnisfähigkeit und ihrer Institutionalisierung, eine globale Gegenkraft zur herrschenden Politik auf die Beine zu stellen, was nicht zuletzt in der Antiglobalisierungsbewegung und den Protesten nach der Weltwirtschaftskrise von 2008 deutlich wurde. International waren etliche große Erfolge zu verzeichnen: Die Zapatistas, das soziale Brasilien unter Lula oder der Sturz Mubaraks sind nur einige Beispiele. Im Vergleich zu vorherigen Kollektiven trat die Linke zwar nicht offen antikapitalistisch auf (ohne sich andererseits vom Antikapitalismus zu distanzieren), dennoch gelang es ihr, einen Gegenpol zum Neoliberalismus sowie auch zum Kapitalismus insgesamt aufzurichten, indem in der Linken die reale Möglichkeit einer ganz anderen Welt (Altermondialismus7) lebendig gehalten wurde.
Scheinradikalisierung
Diese große Zeit der Linken gelangte jedoch mit den Niederlagen der globalen Aufstands- und Protestwelle nach der Weltwirtschaftskrise von 20088 an ihr Ende und verkehrte sich seither ins Gegenteil. Während die radikale Rechte immer mehr an Boden gewann, schrumpfte die aktivistische linke Bewegungsbasis, und die Linke reduzierte sich zunehmend auf in linken Institutionen arbeitende Intellektuelle. Die Linke wurde gewissermaßen ein Kopf ohne Körper.
In dieser Situation wuchs zudem der früher eher diffuse staatliche Druck auf die linken Institutionen und wurde immer expliziter, unter anderem durch den Entzug der Gemeinnützigkeit, Gesinnungsprüfungen für NGOs, Berufsverbote, generelle Mittelkürzungen (und damit erhöhte Konkurrenz) und Instrumentalisierungen des Antisemitismusvorwurfs.9 Der Spielraum in den Institutionen und für Bündnisse mit radikaleren Kräften schwand zusehends, auch persönlich mussten sich die linken Intellektuellen immer expliziteren Anpassungszwängen unterwerfen. Die Linke wurde in dieser Zeit – also etwa ab 2012 – insgesamt zahmer und moderater.10 Es entstand der innerlinke Streit um die Frage, ob die Klassen- oder die Identitätspolitik die richtige Strategie sei, die verlorene Basis zurückzuholen und damit insbesondere den Rechtsruck erfolgreich zu bekämpfen. Dieser Streit zerriss die Linke (nicht nur die Linkspartei, die Linke insgesamt), doch konnte diese Krise temporär in der jüngsten, wohl finalen Wendung »der« Linken überwunden werden.
Dies gelang durch eine neuartige Synthese von Klassen- und Identitätspolitik, die in unterschiedlichen Bereichen der Linken generiert wurde: so im neugegründeten und erfolgreichen Magazin Jacobin, das einen modernisierten Arbeiterklassen-Marxismus mit selbstverständlichem Einbezug der »Nebenwidersprüche« vertritt, in der sozialpopulistischen Wende der Linkspartei unter der neuen Führung Schwerdtner/van Aken11 oder an den Universitäten und Kulturinstitutionen in einer überraschenden Allianz zwischen Postkolonialismus und Neoleninismus (wobei sich letzterer erst durch diese Allianz institutionell etablieren konnte). Diese mit einigem Aufwand vorbereiteten Synthesen formulieren eine modernisierte, »richtig verstandene« Klassenpolitik, indem sie zum einen die Klassenpolitik wieder zur Hauptsache der Linken erheben und dafür ein Bild der »Arbeiterklasse« neukonstruieren, die als ureigene Basis der Linken zuletzt aus dem Blick geraten sei. Zum andern schließen sie minderheitenpolitische Ansprüche jedoch nicht aus, sondern versuchen sie in der neuen Klassenpolitik mitzuberücksichtigen. Dabei gibt es weiterhin (anders als zur Zeit der Arbeiterbewegung) häufige und schwergewichtige Thematisierungen von Minderheitenproblemen, aber diese werden nun primär »materialistisch«, d.h. von ihrer ökonomischen, klassenpolitischen Seite her adressiert. Es handelt sich also um eine erneuerte Hauptwiderspruchsthese.12
Die neue Richtung hat noch einen zweiten Aspekt: Sie tritt mit einem neuen Ernst auf. Es gelte den Kapitalismus jetzt wirklich zu attackieren. Dies tut sie jedoch nur in einer imaginären Systemkritik und in Machtphantasien ohne Umsetzungsperspektive. Beispielsweise verkündete die Linkspartei unter der neuen Führung, dass die Reichen reich seien, weil sie den Armen das Geld weggenommen hätten, und dass »wir« es uns nun zurückholen würden. Tatsächlich beruht die rasant wachsende Ungleichheit des Reichtums auf dem System des Neoliberalismus, das die Umverteilung auf komplexe Weise über scheinhaft-reale Sachzwänge vermittelt, die keine Alternative zu Austerität und Steuersenkung erlauben. In früheren Jahren gehörte die Neoliberalismuskritik, in der eine grundsätzliche Kapitalismuskritik implizit immer noch mitthematisiert war, zum täglichen Brot der Linkspartei, heute ist sie aus ihrem Diskurs zugunsten des pseudoradikalen Angriffs auf die »Reichen« verschwunden. Ebenso gibt es kein »Wir«, das jetzt einen Klassenkampf beginnen könnte, um sich das Geld zurückzuholen. Es ist eine bloße, wenn auch attraktive Machtphantasie. In dieser populistischen Symbolpolitik hat die Linke aber den moralisch-anklagenden Gestus des identitätspolitischen Lagers (»wir sind die Progressiven und Guten, hört endlich auf uns«) adaptiert, mit dem sie nun ihre modernisierte Klassenpolitik artikuliert.13
Der neue, radikal auftretende Habitus verbindet sich – scheinbar paradox – mit einer faktischen Entradikalisierung auf realer Ebene. Gefordert ist nun eine realistische Politik, die den arbeitenden Menschen »wirklich hilft«. Die Realpolitik wird auf einen unmittelbar umsetzbaren Reformismus reduziert, wie Forderungen zu Lohn- und Miethöhe oder ehrenamtliche Sozialarbeit in Stadtteilbüros. Der Vermittlungszusammenhang der Systemkritik mit der Realpolitik wird nicht mehr ausbuchstabiert, sondern der Reformismus wird unmittelbar zur radikalen Politik erhöht. Der Linken gelang damit auf raffinierte und schwer zu entschleiernde Weise eine Entradikalisierung bei gleichzeitiger Scheinradikalisierung. Sie schlägt damit zwei Fliegen mit einer Klappe: Einerseits beugt sie sich dem staatlichen Druck auf die linken Institutionen, stellt sich der bürgerlichen Mitte als respektable Partnerin zur Verfügung und gewährleistet die bürgerliche Sicherheit der linken Intellektuellen. Andererseits macht sie die verlorene Glaubwürdigkeit durch ihre neuen radikalen Habitus wett.14
Aufschub der Krise
Diese Wende »der« Linken befriedete ihren Streit und erlaubte es ihr, dem Rechtsruck mit neuer Geschlossenheit entgegenzutreten. Dies ist aber nur eine Scheinlösung, welche die Krise auf später verschiebt, denn mit der derzeitigen Zeitenwende verändern sich die gesellschaftlichen Bedingungen und politischen Koordinaten so tiefgreifend,15 dass die Politik »der« Linken und grundsätzlicher noch die des Bewegungszyklus von 1968 insgesamt nicht mehr funktionieren.
Indem die Linke auf den Zerfall ihrer aktivistischen Bewegungsbasis mit ihrer Flucht in eine halb imaginäre Politik reagiert, erhält sie noch einmal Aufwind. Doch kann sie die Ziele der neuartigen Synthese nicht erreichen, nämlich die drohenden Katastrophen – Klimawandel, Krieg, Faschismus – abzuwenden. Das wäre nur einer revolutionären Politik möglich. Bei allen Schwierigkeiten, die eine solche heute objektiv hat, wird ihre Entwicklung von der Scheinradikalisierung »der« Linken zusätzlich abgeblockt, und damit auch die Chance, die objektiven Schwierigkeiten anzugehen.
Damit stellt sich die Aufgabe, eine neue revolutionäre Politik zu begründen: eine effektive Realpolitik, die den großen Menschheitsproblemen der Gegenwart wirksam entgegentreten kann. Sie wird dafür »die« Linke, wie sie heute als alternativloser Horizont jeder emanzipatorischen Politik erscheint, verlassen müssen. »Die« Linke ist eine historische Bewegung: Keineswegs überhistorisch, trat sie erst vor einigen Jahrzehnten in die Geschichte ein. Heute ist es an uns, sie wieder daraus zu verabschieden.