Das Perspektivenpapier des IfS geht aus einem internen Selbstverständigungsprozess hervor. Es ist von besonderem Interesse, weil darin einerseits die Arbeit des Instituts für die Allgemeinheit verständlich und nachvollziehbar kommuniziert wird. Andererseits sollen die darin formulierten Grundsätze auch wieder in die weitere Forschung einfließen. Auf diese Weise entsteht aus den verwendeten Grundbegriffen eine Perspektive, die einiges gut erklären kann, anderes vielleicht weniger genau erkennt, manches gar ausblendet. Vor allem der Versuch, gegenwärtige soziale Phänomene wieder verstärkt aus der Sicht des Widerspruchs aufzuschlüsseln, blendet einige wichtige Aspekte der politischen Konjunktur aus. Gleichzeitig lässt das IfS-Papier dadurch wichtige theoretische Alternativen und Theorieangebote außer Acht, mit denen sich ein schärferes Bild der gesellschaftlichen Lage zeichnen ließe.

Zur Figur des Widerspruchs

Das Papier des IfS fordert, »den Kategorien der Krise und des Widerspruchs ein neues Gewicht [verleihen]«, um damit die »Widersprüchlichkeit der herrschenden Verhältnisse« herausarbeiten zu können.[1] Zudem wird in Aussicht gestellt, den »zutiefst widersprüchliche[n] Zusammenhang einer an eine destruktive Systemrationalität gebundenen Subjektivität«[2] in ihren »Widerspruchskonstellationen«[3] genauer zu berücksichtigen. Dass »die Welt aus den Fugen« zu sein scheint, so eine Überschrift im Text, liege klarerweise daran, dass sie »eine Welt im Widerspruch« sei.[4] 

Die besondere Rolle dieser Denkfigur gehört – genauso wie die der Dialektik, die im Text jedoch nur einmal in ganz allgemeiner Weise auftaucht – zwar wie selbstverständlich zum begrifflichen Inventar der Frankfurter Schule. Dennoch überrascht die große Prominenz des Begriffs schon allein deswegen, weil er in den letzten Jahren weder in der internationalen noch in der deutschsprachigen soziologischen und philosophischen Diskussion eine bedeutende Rolle spielte. Problematisch ist der Begriff ist vor allem, weil er notorisch schwierig zu definieren ist. Vor diesem Hintergrund erscheint es deshalb sinnvoll, zwei bestimmte Aspekte der theoretischen Figur des Widerspruchs und seiner Bedeutung herauszugreifen und in seiner Funktion und Wirkung auf das Forschungsprogramm des IfS kritisch zu reflektieren. Der Widerspruch erscheint darin (I.) als Heuristik und (II.) als Lösungsangebot für das Maßstabsproblem von Kritik. Heuristik meint dabei zunächst nur die Praxis, mit einer bestimmten Brille nach sozialen Phänomenen zu suchen. Mit dem Maßstabsproblem ist zunächst nur auf den Umstand verwiesen, dass Gesellschaftskritik in vielen Fällen die Wirksamkeit ihrer Position nicht voraussetzen kann (sprich: die Kritik wird in der Regel nicht von der Gesellschaft einfach nach ihrer Meinung gefragt), und sich deshalb empirisch verschiedene Strategien beobachten lassen, mit denen die Kritik versucht, ihre Position möglichst evident und auch politisch anschlussfähig darzustellen.

I Widerspruch als Forschungsperspektive?

Als pragmatisch gewählter Startpunkt für kritische Analysen liegt die Stärke des Widerspruchs darin, unmittelbar an die Alltagserfahrung von Menschen anschlussfähig zu sein. Tatsächlich spielt die Kategorie des Alltags eine wichtige Rolle in vielen marxistisch orientierten Forschungseinstellungen. Bei Antonio Gramsci als auch moderneren Theorien, wie etwa Ulrich Brands und Markus Wissens »imperiale Lebensweise«, finden sich viele Hinweise darauf, dass sich der Kapitalismus nicht nur in makrosoziologisch beobachtbaren Konflikten zwischen großen Institutionen abspielt, zum Beispiel als Interessensgegensatz von Kapital und Arbeit, sondern auch in der Mikrophysik alltäglicher Entscheidungszwänge. Eine Heuristik des Widerspruchs bietet nun die Möglichkeit, gerade diese alltäglichen Konflikterfahrungen und ihre Artikulation, bzw. deren Ausbleiben, zu bearbeiten und etwaige darin enthaltene Widerstandspotenziale aufzudecken.

Doch wie viel Konfliktpotential steckt wirklich im Alltag? Erscheint dieser vielleicht überhaupt erst durch die hoffende Brille des Widerspruchs als konflikthaft? Wie lässt sich sozialwissenschaftlich unterscheiden zwischen einem handfesten Widerspruch einerseits und bloßen Irritationen im Nebeneinander verschiedener Systemlogiken andererseits? Um diese Frage besser einzuschätzen, ließe sich die Problematik testweise auch mit anderen Mitteln, zum Beispiel mit der soziologischen Systemtheorie rekonstruieren. Mit der könnte man dann sehen, dass sich in differenzierten Gesellschaften soziale Funktionssysteme ganz selbstverständlich im Alltag von konkreten Menschen überschneiden, die dann die unterschiedlichen Ansprüche der eben in Eigenregie in Einklang bringen müssen. Im Alltag sehen wir uns zum Beispiel gezwungen, Konsumentscheidungen innerhalb unserer finanziellen Möglichkeiten, in Einklang mit unseren Moralvorstellungen und passend zu unseren subkulturellen Zugehörigkeitsgefühlen treffen zu müssen. Werden diese (akzidentiellen) Schwierigkeiten zum Gegenstand der Betrachtung erhoben, so wird damit zunächst einmal nur diese Alltagserfahrung ernst genommen. Allzu häufig wird allerdings von diesen Erfahrungen sogleich auf ein systemisches oder substantielles Spannungsverhältnis in den sozialen Strukturen geschlossen: Die Subjekte erfahren ihre Welt widersprüchlich, also muss die Welt wohl auch widersprüchlich verfasst sein! Die Figur des Widerspruchs addiert, wenn man so will, in gewisser Weise etwas zum empirisch Vorgefundenen hinzu: Im (berechtigten und notwendigen) Versuch, in den beobachteten sozialen Phänomenen tieferliegende Ursachen auszumachen, neigt diese Figur dazu, Unerwartetes und Kontraintuitives zu handfesten Widersprüchen zu deklarieren

Auf Widerspruch gebürstet

Bis zu einem gewissen Grad verdinglicht eine solche, auf Widerspruch gebürstete Sicht also die Beobachtungen, die mit ihr möglich werden. Denn aus gesamtgesellschaftlicher Sicht stellen sich die unterschiedlichen Handlungsimperative an die Subjekte oft gar nicht als einander widersprechend, sondern vielmehr als funktional aufeinander bezogen dar. Dass etwa Wirtschaftssysteme unempfindlich gegenüber moralischen Bedenken sind, ist möglicherweise gar kein Widerspruch, sondern ein Teil der Leistungsfähigkeit differenzierter Gesellschaften. Nur aus der Sicht der einzelnen Bürger*innen, die das Leben gar nicht anders als immerwährenden Abgleich und Kompromiss zwischen verschiedenen Handlungslogiken kennen, scheint es so, als ob die einzelnen Logiken unweigerlich mit sich selbst und ihrer Umwelt in einen folgenschweren Widerspruch geraten müssten. 

Darin schwingt auch die Hoffnung mit, es sei noch nicht zu spät, um der gut laufenden Maschine von Staat und Kapital das Ruder aus der Hand zu nehmen. Es scheint so, als ob sich diese erhoffte Handlungsfähigkeit in großem Maße auf die wahrgenommenen Widersprüche in der Gesellschaft stützt, die schon dafür sorgen, dass die verschiedenen Interessen des Kapitals nicht zu sehr konvergieren, sondern auch in Zukunft genug destruktive Dynamik entfalten, so dass Kritik immer möglich bleibt. Je genauer und feinfühliger man in der Soziologie also darauf achtet, in welchen Alltagserfahrungen den Menschen ihre Welt als widersprüchlich erscheint, desto leichter vergisst man, inwiefern diese Erfahrungswelt gerade darauf basiert, dass die sozialen und ökologischen Umwelten bereits durch Systeme verfügbar gemacht wurden, deren Transformation keineswegs garantiert ist. Dass die gesteigerte Leistungsfähigkeit von Gesellschaften, die es bewusst in Kauf nehmen, wenn sich unterschiedliche Rationalitäten als unvereinbar darstellen, in der Praxis von denselben Subjekten regelmäßig in Anspruch genommen wird, lässt sich nur schwer als Widerspruch abbilden. Dass Subjekte sich mitunter von konkreten Alltagsfragen (»ist meine günstige Flugreise moralisch vertretbar oder sollte sie durch eine teurere Bahnreise ersetzt werden?«), überfordert fühlen, ist gerade nicht Ausdruck einer tatsächlichen Widersprüchlichkeit von wirtschaftlichen und normativen Rationalitäten. Deren Entkopplung erzeugt nicht den Verlust von Handlungsfähigkeit, sondern produziert zu allererst die Rahmenbedingungen (zum Beispiel das Vorhandensein von Infrastrukturen, Treibstoffe und freie Arbeitskräfte für massenhafte Flugmobilität bzw. die globale ungleiche Konzentration von Technologiebetrieben), die ohne diese Entkopplung möglicherweise gar nicht erst vorhanden wären. 

Um die tatsächliche alltägliche Verstrickung der Subjekte in die Reproduktion der Verhältnisse zu verstehen, lohnt es sich, neben der Erfahrung von Verlust, Krise und Widerspruch gerade auch in Grundbegriffen von Verfügbarkeit, Stabilität und »rundem« strukturellen Ganzen zu denken. Das Perspektiven-Papier deutet an einer Stelle zwar die Möglichkeit solcher »gleichgerichteten Tendenzen« in System und Lebenswelt an und stellt eine Überprüfung dieses Dualismus und der damit implizit mitgemeinten Heuristik des Widerspruchs in Aussicht. 

Welt aus den Fugen?

Doch was wäre zu tun, wenn westliche Formen von Konsumgesellschaft es tatsächlich geschafft hätten, die Dynamik ihrer inneren Wandlungsprozesse durch Sozialstaatlichkeit und Externalisierung von Reproduktionskosten deutlich zu verlangsamen? Was, wenn die Konflikthaftigkeit von Vergesellschaftungsprozessen auf diesem Weg tatsächlich, wenn nicht stillgestellt, so doch so stark reguliert erscheint, dass keine organisch über sich selbst hinausweisenden Widerspruchskonstellation mehr zu erwarten wäre? Eine Perspektive, die sich grundbegrifflich auf die Suche nach Konfliktpotenzial macht, kann sich leicht als Erkenntnishindernis erweisen, wenn damit die Selbstbeschreibungen der Gesellschaft für bare Münze genommen werden. Nirgendwo wird das so deutlich wie in der verbreiteten Rede von der gesellschaftlichen Krise, die eine weitere wichtige Säule im Perspektiven-Papier darstellt. »Die westlichen Gesellschaften durchlaufen gegenwärtig eine Hegemoniekrise« heißt es darin, »die noch vor zwei Jahrzehnten undenkbar schien, und ihr politisches, ökonomisches und kulturelles Selbstverständnis erschüttert«.[5] Doch ist diese Krise wirklich so eindeutig? 

Die globale Finanzkrise ab 2007, die üblicherweise als einer der wichtigsten Episoden eines neuen Krisenzyklus gehandelt wird, hat jedenfalls weder die ideologische Vorherrschaft noch die institutionelle Ausstattung des Akkumulationsregimes ernsthaft beschädigt, das die Krise erst hervorgebracht hat. Die Tragik der Politik der Austerität und des mit der Krise erneuerten internationalen Wettbewerbs bestand ja gerade darin, dass sie – trotz aller damit verbundenen Transformationen im Detail – eben nicht von anti-systemischen Kräften, sondern von einer breiten Mitte durchgesetzt wurde. Selbst Donald Trump, als der mitunter sichtbarste Vertreter eines neuen Rechtspopulismus, ist 2017 nicht durch eine große Staatskrise oder einen Putsch, sondern mit einer demokratischen Wahl als Kandidat einer etablierten Partei ins Amt gekommen, wurde abgewählt und konnte seinen Vorsprung bei einer neuen Wahl wieder ausbauen; im Konflikt mit Wladimir Putin ab 2022 hat Westeuropa sogar eine Form der Stabilität von Handelsbeziehungen im Kriegszustand gefunden (noch im November 2024 fließt russisches Gas durch die Ukraine in die EU). Diese Fälle können nur schwer als Anzeichen einer Hegemoniekrise oder als Ausdruck einer Krise der Institutionen gedeutet werden. Sie erscheinen vielmehr als Illustration der bemerkenswerten Resilienz und glatten Funktionalität dieser Gesellschaftsformation. Ob die »unverkennbare Erschütterung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung« wirklich so unverkennbar ist und, wie das Papier des IfS andeutet, ob man wirklich davon ausgehen darf, dass für eine organisierbare Opposition darin bereits die »Systemfrage« angesprochen ist, darf also bezweifelt werden.[6] Dass die Welt »aus den Fugen sei«, ist möglicherweise nur der völlig erwartbare Meta-Effekt, der schon in der Fragestellung enthalten ist. Offen bleibt dabei vor allem noch, ob und inwiefern der Begriff des Widerspruchs wirklich über den Begriff der normativen Paradoxie hinausgeht, der ebenfalls ein Ergebnis des Instituts für Sozialforschung darstellt.[7] Insofern die Perspektive der normativen Paradoxie ja ihrerseits bereits angetreten war, die implizite und bisweilen apodiktische Normativität der älteren kritischen Theorie und ihrer »geschichtsphilosophischen Metaerzählung« zu überwinden,[8] wäre es ein Verlust, wenn nun Widerspruch und Krise von neuem die Stelle einer solchen Metaerzählung einnähmen. Neben einer Rückkehr von »weichen« Antinomie-Modellen wie (Dilemmata, Paradoxien, Reflexivität etc.) zu vermeintlich »harten« Modellen (Widerspruch, Dialektik) wäre auch zu überlegen, ob solche auf Dynamik angelegte Begriffe nicht, wie angedeutet, überhaupt Probleme haben, die gesellschaftliche Festgefahrenheit und scheinbare Unverrückbarkeit der Rationalitäten angemessen zu beschreiben.[9]

II Maßstäbe der Kritik

Man mag diese Probleme für Detailfragen halten, aber sie berühren doch einen wichtigen Aspekt kritischer Theorien, nämlich die Frage nach der Begründung und Rechtfertigung von Kritik. Die skizzierten Perspektiven des IfS verstehen sich explizit als »in die gesellschaftliche[n] Verhältnisse intervenierende und dabei von diesen Verhältnissen bestimmte Praxis«.[10] Die Forschung soll in Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Verhältnisse intervenieren, und gleichzeitig von diesen Verhältnissen geprägt sein. Ungeklärt bleibt dabei, wie genau sich Intervention und Einbettung gegenseitig begründen können. Eine kritische Intervention artikuliert üblicherweise ja nicht einfach nur eine gesellschaftliche Dynamik, die ohnehin vorhanden ist und sich auch ohne Zutun der Kritik von selbst so oder so ähnlich abspielen würde. Gesellschaftskritik kommt deswegen in aller Regel nicht ohne eine ausgewiesene Distanz zu ihrem Gegenstand aus. Nur insofern die Kritik also gerade nicht von den Verhältnissen determiniert ist, sondern einen wie auch immer vorläufigen, aber eben unabhängigen Standpunkt einnehmen kann, kann sie die Differenz zwischen »nur« strukturwahrenden Dynamiken einerseits und »wirklich« über die Situation hinausweisenden Möglichkeiten andererseits benennen.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, auf diese strukturelle Anforderung eines Maßstabs für Kritik zu reagieren. Eine klassische Strategie findet sich beim historischen Materialismus. Indem abstrakte Verlaufsformen von Geschichte aufgestellt werden, stellt der historische Materialismus eine Distanz zu den konkreten Ereignissen der Geschichte her. Aus dieser Distanz können die jeweils konkreten Ereignisse dann normativ beurteilt werden. Da diese Perspektive sich stark auf eine ökonomische Definition sozialer Krisen stützte, wurden vermehrt alternative Begriffsstrategien verwendet, nachdem sich westliche Gesellschaften mehr und mehr resilient gegen Wirtschaftskrisen erwiesen. Auch die Begriffsstrategie des Widerspruchs lässt sich als eine von mehreren möglichen Versuchen verstehen, auf das Maßsstabsproblem zu reagieren. Diese Strategie besteht im Wesentlichen darin, die Idee der Beweglichkeit und automatischen Selbst-Transformation der Gesellschaft aus dem engen Bereich des ökonomischen Felds herauszulösen und auf soziale Verhältnisse generell anzuwenden. Diese auf Bewegung getrimmte Perspektive hat Schwierigkeiten, gesellschaftlichen Stillstand zu denken. Genauso, wie es mit dem Vokabular des Widerspruchs im Kapitalverhältnis schwer vorstellbar ist, dass die kapitalistische Welt auf viele Jahrzehnte hin ihre inneren Spannungen erfolgreich kontrollieren bzw. externalisieren kann, lässt sich auch Allgemein nur schwer abbilden, warum Alltagserfahrungen in ihrer vermeintlichen Widersprüchlichkeit gerade keine Fortschrittspotenziale entfalten. Um die Frage zu beantworten, ob und warum transformatorische Potenziale auftauchen, benötigt man jedenfalls eine theoretische Definition eines solchen Potenzials. 

Widerspruch oder Determination?

Eine gänzlich alternative Begriffsstrategie wäre die des strukturalen Marxismus. Wäre es zum Beispiel möglich, die Konzentration und Determination von politischer Macht nicht nur für konkrete politische Kämpfe oder für eine relative enge Definition von Kapitalismus auszuweisen, sondern als generelle Struktur aller Vergesellschaftungsformen zu problematisieren, so wäre damit ebenfalls eine Antwort auf das Maßstabsproblem gefunden. Gelänge es zudem, das Problem der strukturellen Selektivität (Offe)[11] so zu stellen, dass es nicht mehr nur die Bemühungen speziell des Staats um eine möglichst auf Dauer gestellte Legitimation von Ungleichheit umfasst, sondern auch das allgemeine Interesse westlicher Gesellschaften (und nicht nur deren Eliten) an auf Dauer gestellter Akkumulation miteinschließt, so könnte damit sowohl die ökologische Frage als auch die wachsenden Mehrheiten für regressive Krisenbearbeitung besser verstanden werden.

Nicht jeder Gegensatz und nicht jede Schwierigkeit, nicht jedes unvermittelte Nebeneinander und nicht jede wenn auch noch so ernste Divergenz von Interessen lässt sich gewinnbringend als Widerspruch bezeichnen. Eine Arbeitshypothese, die sich aus diesen Überlegungen ergibt, könnte lauten: Gerade, weil die Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft zunehmend erschöpft scheint, steigt die Nachfrage nach den Semantiken von Krise und Widerspruch. Eine alternative gesellschaftstheoretische Begründung von Kritik müsste sich stattdessen aber an dem Phänomen des Stillstands und den determinierten Strukturen orientieren.

 

Das Perspektiven-Papier/IfS working paper #20 findet sich hier: https://www.ifs.uni-frankfurt.de/publikationsdetails/ifs-ifs-perspektiven-perspectives-perspectivas.html

 

*.notes  

[1]100 Jahre IfS. Perspektiven, IfS Working Paper Nr. 20, S. 4.

[2] Ebd., S. 6.

[3] Ebd., S. 7.

[4] Ebd., S.5; S. 8.

[5]100 Jahre IfS. Perspektiven, S. 4.

[6] Ebd., S. 3f.

[7] Der Begriff der Paradoxie wurde vor allem unter Axel Honneths Leitung des IfS verfolgt. 

[8] Axel Honneth, Ferdinand Sutterlüty, »Normative Paradoxien der Gegenwart. Eine Forschungsperspektive«, in: Axel Honneth u.a. (Hrsg.), Normative Paradoxien: Verkehrungen des gesellschaftlichen Fortschritts, Frankfurt, New York 2022, S. 13–38, hier: S. 20. 

[9] Anknüpfungspunkte für die Grenzen von Antinomien sind in der Theorieschichte des IfS bereits vorhanden, vgl. Martin Hartmann, »Widersprüche, Ambivalenzen, Paradoxien: Begriffliche Wandlungen in der neueren Gesellschaftstheorie«, in: Axel Honneth (Hrsg.), Befreiung aus der Mündigkeit: Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus, Frankfurt, New York, Campus 2002, S. 221–51. 

[10]100 Jahre IfS. Perspektiven, S. 5.

[11]Vgl. Jens Borchert, Stephan Lessenich, Claus Offe and the Critical Theory of the Capitalist State, New York: Routledge 2016, S. 66 f.