Der Satz „Ich kann mich nicht erinnern“ ist in diesem Prozess schon oft gefallen, meistens auf der Anklagebank. Diesmal aber dominiert er die Zeugenaussagen: Man könnte meinen, die Vernehmung wird dadurch kurz und uninteressant. Bei der Befragung von Zeuge B. am 1. Juli 2021, ist genau das Gegenteil der Fall. Denn der Zeuge schiebt noch nach, dass das überhaupt nicht ungewöhnlich sei: „Ich kann mich an kaum einen Fall erinnern.“ B. arbeitete ab 2015 aushilfsweise in der Verfahrensabwicklung von Asylanträgen. Neben seiner Tätigkeit in der Künstlervermittlung der Bundesagentur für Arbeit in Leipzig habe er, geschult durch einen Weiterbildungskurs, begonnen als sogenannter Entscheider die Bewilligung oder Ablehnung von Asylanträgen zu bescheiden. Am neunten Prozesstag bietet seine Aussage trotz der, nicht-vorhandenen, Erinnerung an den konkreten Fall Franco A.s Einblicke in die Tätigkeit des Bundesamts für Migration (BAMF).

Zeuge B. ist offensichtlich von Schuldgefühlen geplagt: „Ich weiß, dass ich hier keine rühmliche Rolle spiele.“ Er berichtet von dem Alltag der Entscheidung über Asylanträge: Vom Abarbeiten von Aktenzeichen im Akkord, dem mühseligen Sichten der digitalen Dokumente, den mangelhaften elektronischen Systemen. Er habe nur Fälle der Kategorie A oder B bearbeitet – also einfache Fälle, in denen es um die Entscheidung ging, ob subsidiärer Schutz oder Asyl aufgrund einer Verfolgungslage gewährt werden kann. Die Glaubhaftigkeit der Staatsbürger_innenschaft wurde zuvor in der persönlichen Anhörung geklärt, zum Beispiel über Sprachkenntnisse und Fragen zu Politik und Popkultur des entsprechenden Landes. Mit diesen Anhörungen hatten die Entscheider aber wiederum nichts zu tun: „Wir Entscheider hatten schon den Eindruck, dass wir das zum ersten Mal in Summe betrachten.“  B. berichtet von der Schwierigkeit, dass ein Großteil der Geflüchteten keine Ausweisdokumente besessen habe, sodass diese auch nicht überprüft werden konnten. Bei Anträgen aus Syrien war klar, „wenn in der Anhörung keine Zweifel an der Staatsangehörigkeit geäußert wurden, haben wir, die Entscheider, die nicht im Nachhinein nochmal auf den Tisch zu bringen.“ Er überprüfte an einem Computer fernab der Personen das Protokoll der Anhörung des BAMF nur auf standardisierte Merkmale. Auf die Rückfrage des Richters Koller, ob es die Möglichkeit gab von der Weisungslage abzuweichen, antwortet B: „Ich ärger mich. Ich hätte es bei dem Fall schon darauf ankommen lassen sollen.“

Verteidigungsstrategie: Wer steht hier eigentlich vor Gericht?

Franco A. wirkt zunehmend aufgekratzt bei der Befragung. Er tippt eifrig mit, schiebt seinen Verteidigern Fragen zu. Rechtsanwalt Hock spielt sich erneut staatstragend auf und merkt an, dass er überlege, ob man nicht einen Antrag stellen müsse, um die Presse auszuschließen: „Hier sitzt die internationale Presse und erfährt Sachen, die die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland in Frage stellen.“ Vom Senat kommt darauf nur eine lachende Antwort: All das sei der Presse schon hinlängst bekannt. Zeuge B. bemerkt am Ende auf die Frage von Hock, ob er sich nicht gewundert habe, als er von dem Fall Franco A. gehört habe: „Ich habe mich im Grunde genommen nicht gewundert.“  Klar, sei dieser Fall peinlich, aber A.s Vorgehen sei auch sehr raffiniert gewesen. Und im Grunde genommen sei „alles besser, als gar nicht zu entscheiden.“ Denn besser, es gebe für die Personen einen Status, der überprüft werden könne, als dass Geflüchtete undokumentiert weiter in Aufnahmeeinrichtungen wohnten. Die eifrigen Nachfragen des zweiten Rechtsanwalts Schmitt-Fricke wehrt Richter Koller ab: Die Fragen müssten einen Fallbezug aufweisen, “wir sind kein Untersuchungsausschuss, der die Fehler das BAMF aufklärt.“ Darauf antwortet Schmitt-Fricke fast etwas eingeschnappt, dann habe er doch keine Fragen mehr.

Betrug als Bagatelldelikt

Doch zunächst startet der Prozesstag mit jeder Menge Zahlen: Vernommen wird Zeuge W., der als Kriminalhauptkommissar in den Ermittlungen gegen Franco A. als Personensachbearbeiter tätig war. Die Langeweile – man könnte auch schreiben, Genervtheit – war im gesamten Saal spürbar, vom Senat bis in den Zuschauenden- und Presserang.

Der Senat hatte W. geladen, um den Betrugsvorwurf weiter zu verhandeln und aufzuschlüsseln, welche Beträge wann an Franco A. gezahlt wurden und ob dieses Geld ausgegeben wurde. Alles, was der Zeuge dabei sagte, wusste der Senat bereits – für die rechtmäßige Verhandlung ist es aber wichtig, dass diese Daten mündlich in das Verfahren eingeführt werden, um dann dazu Fragen stellen zu können. Die Nachfragen, hauptsächlich vom Vorsitzenden Koller gestellt, sind dementsprechend unwirsch: Niemand im Saal hat offensichtlich Lust, den Betrugsvorwurf weiter zu verhandeln. Gegen Ende der Vernehmung macht Koller aber nochmal klar, warum diese Zeugenvernehmung trotzdem wichtig ist: Am 03. Februar 2017 wurden bereits die Fingerabdrücke von Franco A. am Flughafen in Wien abgenommen, am 14. desselben Monats hat A. aber noch einmal eine Leistung nach SGB II erhalten. Die Frage lautet also nicht nur, ob ein Betrug von ein paar hundert Euro vorliegt, sondern auch, warum Franco A. als David Benjamin noch Leistungen gezahlt wurden, obwohl die Ermittlungen gegen ihn bereits liefen. „Mir fällt dazu grad keine Rechtsgrundlage ein“, merkt Koller an. Eine kleine Rüge gegenüber den Medien kann er sich nicht verkneifen: „Im Internet steht das völlig falsch“, konstatiert er mit strengem Blick nach oben zu den Medienvertreter_innen. Der Senat habe außerdem den Eindruck, wesentliche Dinge fehlten in der Akte. Die Verteidigung A.s hingegen drängt noch einmal darauf, den Vorwurf wegen Betrugs fallen zu lassen, schließlich stünden die Kosten des Verfahrens in keinem Verhältnis zu dem Geld, das Franco A. als Geflüchteter erhalten hatte. „Ein entsprechender Antrag wird nicht gestellt“, entgegnet die Bundesanwaltschaft trocken.

Ein rätselhafter Fund im Müll

Weiterhin sprach Zeuge W. noch von den zahlreichen SIM-Karten, die unter verschiedenen Namen, in Deutschland, Frankreich und England von Franco A. registriert wurden. Zum Nutzen dieser Alias-Identitäten schweigt A. bislang. Neben mehreren Telefonnummern besaß A. auch eine Vielzahl an E-Mail-Konten mit unterschiedlichen Namen. Als „Jonas Mantiz“ beispielsweise kommunizierte A. mit dem ehemaligen Generalmajor Gerd Schultze-Ronhof, der als geschichtsrevisionistischer Autor inzwischen eine breite Leser_innenschaft in der rechten Szene gefunden hat.

Zum Ende ging es noch um Personendokumente A.s, die in einem Mülleimer im baden- württembergischen Kehl im Mai 2017 gefunden wurden. Wer die Dokumente, darunter A.s, als vermisst gemeldeten Personalausweis, Führerschein und eine Mitgliedskarte des Bunds der Deutschen Infanterie in den öffentlichen Mülleimer entsorgte, bleibt ein weiteres Rätsel in diesem Fall. Außer den DNA-Spuren von A. wurde keine weitere registrierte DNA an den Dokumenten festgestellt. A.  saß jedoch zu diesem Zeitpunkt schon in Untersuchungshaft. Ein weiterer Hinweis auf Mittäter, oder zumindest Mitwisser?

Die Verhandlung wird am 08.07.2021 fortgesetzt.