Die Revolution endet im Kopf der Philosoph_innen?
In der Bewegungslinken hat Adorno keinen guten Ruf. Zu abstrakt, zu weltabgewandt – und überhaupt: Hat der Typ nicht die Bullen gerufen, als Studis das Institut für Sozialforschung besetzt haben? Auf der anderen Seite stehen antideutsche Theoriezirkel und das universitäre Milieu. Adorno ist hier fast ein Heiliger, kein Flyer, der sich gegen eine Demonstration oder linke Aktion wendet, kommt ohne ein Zitat von ihm aus. Weltabgewandheit und Missmut werden zur zweiten Natur erhoben und Adorno steht Pate. Beim Aufeinandertreffen beider Lager kracht es regelmäßig und doch sind sich beide in einer Hinsicht einig: Adorno scheint von politischer Praxis nicht viel zu halten – wobei die einen das eben gut und die anderen schlecht finden. Damit geht oft eine unhistorische Lesart einher, die Adornos Sichtweise auf das Verhältnis von Theorie und Praxis nicht aus einer konkreten historischen Konstellation heraus versteht. Wir wollen im Folgenden einen dritten Weg öffnen, der sich jenseits der oben skizzierten und langweiligen Konfliktkonstellation bewegt. Wir gehen davon aus, dass Adornos Nachdenken über politische Praxis und das Verhältnis zu Theorie nur vor dem Hintergrund eines von Marx aufgespannten Problemkontextes angemessen verstanden werden kann. Durch eine solche theorie- und realgeschichtliche Lesart wird – das ist zumindest unsere Hoffnung – deutlich, dass Adorno auch im Hier und Jetzt hilfreich ist, um unsere politische Praxis zu reflektieren.
Zwischen Proletariat und Arbeiterklasse
Marx‘ Ausgangspunkt für die Sozialfigur des revolutionären Proletariats ist der/die moderne Lohnarbeiter_in als gesellschaftliche Form der Aneignung von Arbeitskraft im Kapitalismus. Bereits im gemeinsam mit Engels verfassten Manifest der kommunistischen Partei macht er auf die Spezifik dieser Form von Ausbeutung aufmerksam – die Aneignung von Arbeitskraft sei nicht mehr durch politisch-personale Herrschaft garantiert, sondern durch den ›freien‹ Tausch der Ware Arbeitskraft vermittelt (vgl. Marx/Engels 1967: 50). Im ersten Band des Kapitals entziffert Marx diese gesellschaftliche Form schließlich als doppelt freien Lohnarbeiter:
»[F]rei in dem Doppelsinn, daß er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt, daß er andrerseits andre Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen.« (Marx 1962: 183)
Das revolutionäre Potenzial des Proletariats ergibt sich aber noch nicht aus dem Umstand, dass es sich um eine ausgebeutete Klasse handelt, sondern erst aus einer geschichtsphilosophischen Perspektivierung, die das Proletariat als kollektiven Akteur der universellen Befreiung von Herrschaft und Ausbeutung schlechthin einsetzt. Doch diese geschichtsphilosophisch gefärbte Figur steht bereits im Marxschen Werk in einer eigentümlichen Spannung zu soziologischen Betrachtung des empirischen Daseins der Arbeiterklasse.
Vor allem in den frühen Schriften von Marx wird der Zusammenschluss der einzelnen Lohnarbeiter_innen als Proletariat charakterisiert. Marx bezeichnet damit weniger eine soziologisch entzifferte empirische Realität, als eine geschichtsphilosophisch gefärbte Sozialfigur, die ein Versprechen auf das Ende von Herrschaft und Ausbeutung schlechthin in sich trägt. In der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie beschreibt Marx dieses Versprechen folgendermaßen: Das Proletariat ist eine Klasse »der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist[,] […] [eine] Sphäre […], welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren« (Marx 1981: 390). Entscheidend für dieses geschichtsphilosophische Versprechen ist die paradoxe Existenz des Proletariats als Nicht-Klasse beziehungsweise als eine Klasse ohne Klasseninteresse. Das Manifest der kommunistischen Partei liefert hier den entscheidenden Hinweis. Einleitend wird dort die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften als eine Geschichte von Klassenkämpfen charakterisiert (vgl. Marx/Engels 1967: 42).
Was bedeutet das? Marx und Engels machen hier weniger eine analytisch belastbare Aussage zur evolutionären Logik der bisherigen historischen Entwicklung – dafür ist bereits der Begriff der Klasse zu ungenau, der hier ja Freie, Sklaven, Plebejer, Barone, Leibeigene, Zunftbürger, Gesellen etc. umfassen soll (vgl ebd.: 42). Es geht ihnen darum, die Aneignung von Arbeit und Herrschaft von einem Teil über einen anderen Teil der Gesellschaft als strukturierendes Grundprinzip aller bisherigen Geschichte zu benennen. Die vorangegangenen Klassenkämpfe haben dieses Grundprinzip nicht aufgehoben, sondern immer nur unter neuen Vorzeichen aktualisiert. Die bisherigen Kämpfe um Emanzipation zielten, so Marx und Engels, immer nur darauf, neue partikulare Klasseninteressen, die sich aus den Formen von Eigentum und Produktion ergeben, durch eine Umwälzung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse zu verallgemeinern (vgl. ebd.: 55). Insofern sind alle vergangenen gesellschaftlichen Umwälzungen, die bürgerliche Revolution miteingeschlossen, ein Auf-der-Stelle-Treten des Weltgeistes: Herrschaft und Ausbeutung werden stets unter anderen Vorzeichen neu verteilt. Eine »Klasse befreit die ganze Gesellschaft, aber nur unter der Voraussetzung, daß die ganze Gesellschaft sich in der Situation dieser Klasse befindet, also z.B. Geld und Bildung besitzt oder beliebig erwerben kann« (Marx 1981: 388). Das Proletariat, so das geschichtsphilosophische Versprechen, wird mit diesem Auf-der-Stelle-Treten der bisherigen Klassenkämpfe brechen, weil es als Klasse aufgrund der Entwicklungslogik des Kapitalismus niemals ein partikulares Klasseninteresse herausbilden wird. Während die vorangegangen sozialen Träger von gesellschaftlichen Umwälzungen in den bestehenden Gesellschaftsordnungen bereits ein partikulares Klasseninteresse herausbilden konnten, sinkt der moderne Lohnarbeiter mit dem Fortschritt der Industrie »immer weiter unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab« (Marx/Engels 1967: 56). Das Proletariat verfügt über keinerlei partikulares Interesse, das durch eine Umwälzung der Produktionsverhältnisse verallgemeinert werden könnte und markiert deshalb einen qualitativen Bruch mit allen bisherigen Kämpfen und der Geschichte überhaupt: Die Eroberung der Produktivkräfte durch die Proletarier_innen wird Herrschaft und Ausbeutung nicht unter anderen Vorzeichen neu verteilen, sondern die »ganze bisherige Aneignungsweise [der Produktivkräfte] abschaffen« (Marx/Engels 1967: 55f.).
Doch diese Sozialfigur steht im Marxschen Werk in einer Spannung zu der faktischen Existenz der Lohnarbeiter_innen als Arbeiterklasse. Damit sind die soziologischen Äußerungen zur empirischen Realität der Lohnarbeiter_innen als ein soziales Milieu, sowie deren Bewusstseinsformen gemeint. Zum einen macht Marx vor allem in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte deutlich, dass die Arbeiterklasse de facto keine Klasse ohne Klasseninteresse, sondern in sich differenziert und von diversen Sonderinteressen durchzogen ist (vgl. Marx 1960: 196ff.). Bereits diese Feststellung stellt das geschichtsphilosophische Versprechen des Proletariats in Frage: Wenn schon innerhalb der Arbeiterklasse verschiedene materielle Einzelinteressen existent sind, wie soll sich dann die Gesamtheit der Lohnarbeiter_innen zu einer Klasse ohne partikulares Klasseninteresse zusammenschließen? Noch dramatischer tritt das Auseinanderklaffen zwischen geschichtsphilosophischem Versprechen und empirischer Realität zutage, wenn wir uns die Bewusstseinsstadien des Klassenkampfes, wie Marx sie im ersten Band des Kapitals andeutet, vor Augen führen. Als einen, wenn nicht den, zentralen Ort des Klassenkampfes entziffert Marx die Auseinandersetzungen um die Länge des Arbeitstages. Weil im 18. Jahrhundert jegliche rechtliche Einschränkung der Länge des Arbeitstages fehlt, schuften sich die Arbeiter_innen in den Fabriken wortwörtlich zu Tode. Der Zusammenschluss zu einer organisierten Klasse ist in diesem Zusammenhang eine existenzielle Notwendigkeit, um politisch eine Einschränkung der Länge des Arbeitstages zu erzwingen – Marx spricht deshalb von einer »instinktiv aus den Produktionsverhältnissen erwachsne[n] Arbeiterbewegung« (Marx 1962: 319). Während diese Formulierung auf den ersten Blick auf eine geschichtsdeterministische Notwendigkeit der Entstehung des Proletariats hinzuweisen scheint, offenbart sie auf den zweiten Blick eine tiefgreifende Spannung zwischen dem faktischen Bewusstsein der Arbeiterklasse und dem historischen Versprechen des Proletariats. Denn dass die Arbeiterbewegung instinktiv aus den Produktionsverhältnissen entsteht, heißt auch, dass das dazugehörige Bewusstsein nicht notwendigerweise über diese hinausgeht. Der Kampf um eine rechtliche Einschränkung des Arbeitstages findet notwendigerweise immer auf dem Terrain der institutionellen Formen von Ausbeutung und Herrschaft statt. Jeder Kampf um die Verkürzung des Arbeitstages oder die Erhöhung des Lohns erkennt zunächst die zugrundeliegende gesellschaftliche Ordnung an, die sich hinter diesen Formen verbirgt (so liegt dem Lohn als gesellschaftliche Form die Teilung in Besitzer_innen und Nicht-Besitzer_innen von Produktionsmitteln zugrunde). Das instinktiv aus den Produktionsverhältnissen erwachsene Bewusstsein ist also von sich aus kein qualitativer Bruch mit Herrschaft und Ausbeutung.
Obwohl Marx diese Spannung nicht explizit zum Thema macht, ist die Rolle, die er der theoretischen Arbeit innerhalb der Arbeiterklasse zuschreibt, ein Hinweis darauf, dass er sich der potentiellen Unvereinbarkeit zwischen der geschichtsphilosophischen Wette auf das Proletariat und seiner empirischen Existenz als Arbeiterklasse bewusst war. Entgegen der herrschenden Lehrmeinung betonen Marx und Engels gerade im Manifest – das im bürgerlichen Universitätsbetrieb ja gerne als Paradebeispiel für einen kruden Geschichtsdeterminismus gelesen wird – die Rolle von Theorie als eigenständiger Produktivkraft für die Arbeiterbewegung. Das wird an der Funktion deutlich, die sie »den Kommunisten« zuschreiben. Die sollen sich als organische Intellektuelle an den Kämpfen der »instinktiv« entstandenen Arbeiterbewegung beteiligen, dabei aber die, durch das institutionelle Terrain vorgegebenen, unmittelbaren Zwecke der Kämpfe (die, wie oben gezeigt, Ausbeutung und Herrschaft performativ bestätigen) nicht spiegelbildlich verdoppeln, sondern durch eine eigenständige theoretische Vermittlungsleistung über die bestehenden institutionellen Vermittlungsformen, wie den Lohn, hinaustreiben: »Sie kämpfen für die Erreichung der unmittelbar vorliegenden Zwecke und Interessen der Arbeiterklasse, aber sie vertreten in der gegenwärtigen Bewegung zugleich die Zukunft der Bewegung.« (Marx/Engels 1967: 81) Der durch das Proletariat herbeizuführende Bruch mit der Vorgeschichte ist nicht das Resultat des spontanen Bewusstseins der Arbeiterklasse, sondern ergibt sich erst durch das Hinzutreten eines eigenständigen theoretischen Moments. Bezogen auf die oben ausgearbeitete Spannung bedeutet dies, dass sich das geschichtsphilosophische Versprechen des Proletariats nur in einer Einheit mit einer eigenständigen reflexiven Vermittlungsleistung einlöst. Die Entstehung des Proletariats ist keine historische Notwendigkeit, sondern die organische Einheit zwischen Arbeiterklasse und theoretischer Vermittlung, die ihrerseits über eine relative Autonomie verfügen muss:
»[D]as Proletariat [findet] in der Philosophie seine geistigen Waffen, und sobald der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen ist, wird sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehen.« (Marx 1981: 391)
Adorno und die Immanenz der Arbeiterklasse
Adornos Überlegungen zum Proletariat schließen an der Spannung zwischen dem geschichtsphilosophischen Versprechen des Proletariats und der faktischen Existenz der Arbeiterklasse an. Deutlich wird das insbesondere in den einleitenden Sätzen der 1942 verfassten und posthum veröffentlichten Reflexionen zur Klassentheorie. Ausdrücklich stimmt Adorno hier der grundlegenden geschichtsphilosophischen Perspektive aus dem Manifest zu:
»Geschichte ist der Theorie zufolge, Geschichte von Klassenkämpfen. […] In der Ausdehnung des Klassenbegriffs auf die Vorzeit denunziert die Theorie nicht bloß die Bürger, deren Freiheit mit Besitz und Bildung die Tradition des alten Unrechts fortsetzt, sie wendet sich gegen die Vorzeit selber.« (Adorno 1972: 373)
Gleichwohl betont Adorno die Widersprüche, die im Begriff des Proletariats angelegt sind viel stärker als Marx. Während bei Marx das Verhältnis zwischen der Immanenz der Kämpfe der Arbeiterklasse und der Transzendenz des Emanzipationspotenzials des Proletariats noch ausgewogen, beziehungsweise unentschieden ist, gewinnt das immanente Moment bei Adorno deutlich an Gewicht:
»Die Unterklasse […], stets real im Bann der hierarchischen Verhältnisse, mußte diesen sich anpassen, um zu leben. Der Zwang wurde planmäßiger stets in Regie genommen, waltete aber auch automatisch. Bezweifeln dürfte man, ob das Klassenbewußtsein selbst in den Glanzzeiten der deutschen Sozialdemokratie während des Wilhelminischen Zeitalters so substantiell war, wie die Funktionäre sich schmeichelten.« (Adorno 1972a: 184)
Doch trotz der Betonung dieser Widersprüche, knüpft Adorno die historisch vorhandene Möglichkeit der Überwindung von Leid, Herrschaft und Ausbeutung an die Sozialfigur des Proletariats. So spricht er beispielsweise in dem Vortrag Wozu noch Philosophie von einem »versäumten Augenblick« der Emanzipation(vgl. Adorno 1963, 24). Mit der polit-ökonomischen und kulturellen Integration des Proletariats im Spätkapitalismus gehe aber auch dieser schwache Fluchtpunkt verloren. Die im liberalen Kapitalismus des 18. und 19. Jahrhunderts noch in Ansätzen vorhandene Spannung zwischen der Universalität des Proletariats und der Immanenz der empirischen Arbeiterklasse löse sich durch die Vermittlungsformen des Klassenkonflikts im Spätkapitalismus einseitig zugunsten des letzteren Moments auf (vgl. Adorno 1972a, 183).
Woher kommt diese Diagnose? Uns scheinen zwei miteinander verwobene Elemente zentral zu sein. Erstens verliert die Verelendungsprognose aus dem Manifest mit der Durchsetzung des Monopolkapitalismus ihre Gültigkeit: Der Kauf und Verkauf der Ware Arbeitskraft reguliert sich nicht mehr über die Gesetze des Marktes, sondern wird zum Gegenstand bürokratisch-technischer Kalkulation der Monopole und des Sozialstaates. Das hat zwei wesentliche Konsequenzen: Zum einen gibt es keine existenzielle Notwendigkeit des Zusammenschlusses mehr. Während der Zusammenschluss bei Marx noch Resultat der zwingenden Notwendigkeit der individuellen Selbsterhaltung ist, wird dieses im Spätkapitalismus (zumindest im globalen Norden) verstärkt von sozialen Sicherungssystemen verwaltet und garantiert. Die Basis eines einheitlichen Arbeiterklasseninteresses, an der intellektuelle Vermittlungsarbeit ansetzen könnte, geht damit verloren. Zum anderen löst die relative Hebung des materiellen Wohlstandes die paradoxe Existenz des Proletariats als Klasse ohne Klasseninteresse auf: Im Spätkapitalismus haben »[d]ie Proletarier […] mehr zu verlieren als ihre Ketten« (Adorno 1972: 384). Damit gerät das geschichtsphilosophische Versprechen auf ein Ende der bisherigen Aneignungsweise von Arbeit ins Wanken. Wo die Arbeiterklasse noch kämpft, geht es um die Verteidigung oder Durchsetzung von partikularen Interessen und Privilegien gegen andere und nicht mehr um die klassenlose Gesellschaft: »Der Einzelne gedeiht besser in der Interessensorganisation als in der [gegen das] Interesse.« (ebd.: 384)
Die zweite zentrale Integrationsinstanz ist die Kulturindustrie. Ausgehend von der Marxschen Problemstellung der Immanenz des »instinktiven« Bewusstseins der Arbeiterklasse muss die Theorie der Kulturindustrie nicht nur als eine Verfallsform der kritischen Potenziale von Kunst und Öffentlichkeit, sondern als eine Theorie der De-Thematisierung des Klassenkonflikts gelesen werden. Der entscheidende Punkt ist hierbei, dass die Bedingungen der Massenkultur ein gänzlich verändertes Konfliktschema hervorbringen. Die Tendenz der Desorganisation der Lohnarbeiter_innen wird durch die kulturindustrielle Kolonisierung der Bewusstseinsformen erneut radikal potenziert. Die reellen Leid- und Unterdrückungserfahrungen werden vom warenförmigen Amüsement aufgegriffen und in Bahnen des privaten Konsums kanalisiert. Gesellschaftlich materiale Konfliktlinien können als solche dann gar nicht mehr erkannt, geschweige denn kollektiv artikuliert werden. Konflikte werden in der Kulturindustrie stattdessen, wie Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung schreiben, zu »heilbaren Einzelfällen« (Adorno/Horkheimer 1969: 159) stilisiert. Die Kulturindustrie leistet deshalb eine kontinuierliche Anpassungsarbeit an die (immer noch existenten) Zumutungen der Lohnarbeit. Ihre Mittel sind dabei äußerst flexibel und ergänzen einander: Wo »Ersatzbefriedigungen« und »Scheinfreiheiten« nicht mehr ausreichen, droht sie unverhohlen mit der Vernichtung der eigenen Existenz. In einer paradox-verkehrten Form besetzt die Kulturindustrie damit genau den Platz, der bei Marx der theoretischen Vermittlung durch die organischen Intellektuellen zukommen sollte. Ebenso wie diese knüpft die Kulturindustrie an die alltäglichen Leiderfahrungen und latenten Konflikte an, setzt aber an die Stelle des bewussten Austragens derselben eine falsche Harmonie. Zentral gilt es auch sich in Erinnerung zu rufen, dass es den faschistischen Massenbewegungen des 20. Jahrhunderts – gerade auch im Verbund mit den neu aufkommenden Institutionen der Kulturindustrie – gelang, an die Leid- und Unterdrückungserfahrungen insbesondere der Arbeiterklasse anzuknüpfen und diese politisch zu mobilisieren. Adorno, der den Faschismus des Öfteren als »konformistische Rebellion« (Adorno 1972a: 168) beschrieben hat, erkennt hierin ein sozialpsychologisches Moment: die Umkehrung der Leiderfahrungen der beherrschten Subjekte, die sich folglich nicht gegen die Einrichtungen der Gesellschaft richten, die der Ausbildung von Freiheit und Glück im Wege stehen, sondern gegen all dasjenige, was sie potenziell auch nur an diese Versprechen erinnert. Die drei skizzierten Problematiken kulminieren bei Adorno in der Diagnose der »klassenlosen Gesellschaft der Autofahrer, Kinobesucher und Volksgenossen« (Adorno 1972: 377), die nicht nur jegliche Aussicht auf praktische Emanzipation versperrt, sondern aus sich heraus droht, ins Autoritäre – wenn nicht sogar, wie sich historisch erwies, in Vernichtung – umzuschlagen.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass, insofern Adorno über das Proletariat, bzw. die Arbeiterklasse spricht, er an der grundlegenden geschichtsphilosophischen Perspektive aus dem Manifest festhält. Während bei Marx aber noch eine nicht aufgelöste Spannung zwischen dem geschichtsphilosophischen Versprechen und dem empirischen Dasein der Arbeiterklasse existiert, hat sich bei Adorno dieses Verhältnis verschoben. Derjenige kollektive Akteur, der das Versprechen auf den Bruch mit der Vorgeschichte in sich trägt, ist ihm abhandengekommen. Aus dem Manifest bleibt daher nur noch der resignative Blick auf die Gegenwart übrig, der in der gegenwärtigen Gestalt der Geschichte das Elend der Vorgeschichte entziffert:
»Das jüngste Unrecht, das im gerechten Tausch selber gelegene, heißt nichts anderes als mit der Vorzeit es identifizieren, die von ihm vernichtet wird. Kulminiert in der Moderne, im kalten Elend der freien Lohnarbeit alle Unterdrückung, die Menschen je Menschen angetan haben, so offenbart sich der Ausdruck des Historischen selber an Verhältnissen und Dingen […]. Das archaische Schweigen von Pyramiden und Ruinen wird im materialistischen Gedanken seiner selbst inne: es ist das Echo vom Lärm der Fabrik in der Landschaft des unabänderlichen.« (Adorno 1972: 374)
Es ist die Kopplung einer an Marx anschließenden geschichtsphilosophischen Perspektive, die Emanzipation als einen Bruch mit der Vorgeschichte denkt, mit der Analyse des Verfalls des Akteurs dieses Bruchs, die Adorno vermeintlich in den Elfenbeinturm drängt. Nachdem die Möglichkeit des realen Bruchs mit der Vorgeschichte durch die Integration der Arbeiterklasse und der Erfahrung des Faschismus vergangen ist, kann der Gedanke an ein Ende von Herrschaft und Ausbeutung nur in der Form einer allen konkreten Auseinandersetzungen abgewandten philosophischen Reflexion bewahrt werden. Das ist es, was Adorno meint, wenn er von der Philosophie als »Statthalter der Freiheit« spricht (vgl. Adorno 1969: 173). Doch selbst damit knüpft Adorno noch an den Marxschen Begriff von Theorie als praktischer Produktivkraft an. Durch ihre relative Autonomie von den unmittelbar existenten Zwecken praktischer Handlungen wird Theorie zur verändernden Produktivkraft: »Betrifft Denken irgendetwas, worauf es ankommt, so setzt es allemal einen, wie sehr auch dem Denken verborgenen praktischen Impuls.« (Adorno 1969: 175) Die entscheidende Wende liegt darin, dass Adorno davon ausgeht, dass ein solch emphatischer Begriff von Theorie nur dann bewahrt werden kann, wenn die Intellektuellen ihre organische Verbindung zu den Organisationsformen der Arbeiterklasse aufgeben. Denn unter den Bedingungen des Spätkapitalismus ist die empirische Arbeiterklasse durch die materiellen Institutionen (Gewerkschaft, Sozialdemokratie, Kulturindustrie) derart in die Zweck-Mittel-Relation der Reproduktion von Herrschaft integriert, dass der Möglichkeit der theoretischen Vermittlungsleistung der Boden entzogen ist:
»Für den Intellektuellen ist die unverbrüchliche Einsamkeit die einzige Gestalt, in der er Solidarität etwa noch zu bewähren vermag. Alles Mitmachen, alle Menschlichkeit von Umgang und Teilhabe ist bloße Maske fürs stillschweigende Akzeptieren des Unmenschlichen.« (Adorno 2003: 27)
Jenseits von Pessimismus und Jubel: Die Instabilität des Bruchs
Auch wenn Adorno sich wenig mit Fragen der Organisierung und Strategie beschäftigt, bewegen sich seine Gedanken zu großen Teilen innerhalb eines von Marx aufgespannten Problemhorizonts. Der Vorwurf Adorno sei ein bürgerlich-elitärer Anti-Praktiker geht deshalb ins Leere. Die bei Adorno auf die Spitze getriebene Gegenüberstellung von Emanzipation als universellem und finalem Befreiungsschlag und dem Scheitern dieser historischen Möglichkeit reflektiert das Scheitern der (westlichen) Arbeiterbewegung und die damit verbundenen Hoffnungen, Träume und Wünsche aus einer marxistischen Perspektive. Insofern können Adornos Reflexionen und die Schlüsse, die er daraus zieht, als historische Momentaufnahmen, mit einem zeitlichen Wahrheitskern gelesen werden. Für die Gegenwart bleibt eine abwartende Distanz gegenüber Kämpfen und sozialen Bewegungen, die aber nicht mit einer radikal ablehnenden Haltung verwechselt werden darf. Ein an Adorno geschultes Denken weiß, dass Emanzipation als qualitativer Bruch mit den herrschenden Vergesellschaftungsformen gedacht werden muss – und dass dieser Bruch, wenn auch in den Kämpfen angelegt, stets prekär und instabil ist. Dabei müssen wir uns aber auch vor Augen führen, dass Adorno das Scheitern ›einer‹ historischen Befreiungsbewegung reflektiert und nicht das Scheitern der Kämpfe um Emanzipation schlechthin. Und so darf der angebrachte Skeptizismus nicht mit einer radikal weltabgewandten Haltung verwechselt werden, die sich im Zweifelsfall nicht einmal mehr die Mühe macht, die Kämpfe und ihre Subjekte auf ihr emanzipatorisches Potenzial hin zu befragen. Das gilt insbesondere deshalb, weil sich die stabilisierenden institutionellen Vermittlungsformen, die Adorno vor Augen hat, mit dem Niedergang des Fordismus verändert haben.
M. Elliesen und L. Ahnert
*.lit
Adorno, Theodor W. (1963): Wozu noch Philosophie; in: ders.: Eingriffe/Neun kritische Modelle. Frankfurt am Main.
Adorno, Theodor W. (1969): Marginalien zu Theorie und Praxis, in: ders.: Stichworte/Kritische Modelle 2. Frankfurt am Main.
Adorno, Theodor W. (1972): Reflexionen zur Klassentheorie; in: Gesammelte Schriften 8 (GS 8). Frankfurt am Main.
Adorno, Theodor W. (1972a): Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute; in: GS 8. Frankfurt am Main.
Adorno, Theodor W. (1951): Minima Moralia/Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main.
Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max (1969): Dialektik der Aufklärung/Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main.
Marx, Karl (1960): Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte; in: Marx Engels Werke 8 (MEW 8). Berlin.
Marx, Karl (1962): Das Kapital/Kritik der politischen Ökonomie/Erster Band; in: MEW 23. Berlin.
Marx, Karl (1981): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung; in: MEW 1. Berlin.
Marx, Karl/Engels, Friedrich (1967): Manifest der kommunistischen Partei. Berlin.