Materialistische Hoffnung bei Manès Sperber
Dabei entwickelt Sperber gerade aus seiner persönlichen Geschichte und Erfahrung heraus eine spezifische Perspektive auf die individuelle wie gesellschaftliche Vergangenheit. Vergangenheit ist für ihn – aus eigenem Erleben – die Geschichte der vernichteten Hoffnung, die es zu rekonstruieren gilt. Erst so kann für ihn ein Begriff von einer Zukunft gewonnen werden – einer Zukunft, die das Leid der Vergangenheit und Gegenwart eingedenkt.
Das Leben von Manès Sperber reflektiert selbst bereits die Jahre 1933 bis 1945 sowie die damit verbundenen vernichteten Hoffnungen und Leiden und stellt damit die Grundlage seiner Romantrilogie: Er wurde 1905 in einem ostgalizischen Schtetl als Sohn einer chassidischen Familie geboren. Während des Ersten Weltkriegs emigrierten sie nach Wien, wo er sich der linkszionistischen Jugendorganisation Hashomer Hatzair anschloss. Später kam er dort mit der Psychoanalyse in Berührung, wurde Schüler und Mitarbeiter von Alfred Adler. 1927 zog er nach Berlin, um dort Individualpsychologie und Marxismus miteinander zu verbinden. Zu der Zeit trat er der KPD bei. 1933 wurde er in Berlin verhaftet, kurz darauf freigelassen und emigrierte von Wien über Jugoslawien nach Paris. Dort arbeitete er unter Willi Münzenberg für das Institut zur Erforschung des Faschismus. Unter dem Eindruck der Moskauer Schauprozesse brach er mit der KP. Nach dem freiwilligen Eintritt in die französische Armee und seiner Demobilisierung misslang ein Fluchtversuch über Lissabon und führte ihn nach Hauts-de-Cagnes, einem Stadtteil von Cagnes-sur-Me im Südosten Frankreichs. Im Jahr 1940 verfasste er dort die ersten Skizzen zur Trilogie. 1942 floh er, nachdem er sich nicht länger verstecken konnte, in die Schweiz. Er entkam dabei nicht nur den Nationalsozialisten und deren Kollaborateuren, nach seinem Bruch mit der KP musste er ernsthaft damit rechnen, wie viele andere ›Abweichler‹ auch, ermordet zu werden.
Sperber selbst rekurriert auf die Entstehungsgeschichte der Trilogie im Vorwort des Buches:
»Der Versuchung ein Schriftsteller zu werden, hatte ich seit meiner frühen Jugend widerstanden. Diesmal aber gab ich endlich nach, denn nicht zu schreiben, war nun schwerer geworden, als zu schreiben.« (Sperber 1981: 3)
Eine seiner Figuren lässt er erklären:
»Um einen Lebenden zu verstehen, muß man wissen, wer seine Toten sind. Man muß auch wissen, wie seine Hoffnungen geendet haben – ob sie sanft verblichen oder ob sie getötet worden sind. Genauer als die Züge eines Antlitzes muß man die Narben des Verzichts kennen.“ (ebd.: 5)
Und in seinen autobiographischen Notizen beschreibt er seine Situation wie folgt:
»Wie der Mann, der seinen Schatten verloren hatte, hatte ich die Zukunft verloren, mir blieb nur die Vergangenheit, ich lebte zeitlich auf der Borg, räumlich fern von allen Kämpfen; ein emsiger Hörer von Radioberichten, der darauf wartete, daß der Feind endlich aufhöre, überall dort, wo er angriff, zu siegen. Wozu, für wen schrieb ich? Ich fand mich damit ab, daß mein Tun keinerlei Zweck hatte und daß ich wohl der einzige Leser meiner Texte bleiben würde. Ich verbrachte die Zeit damit, mein Heft mit Worten zu bedecken – eine Flaschenpost-Botschaft, die nie ein Ufer erreichen würde.« (Sperber 1977: 271)
Klar ist, dass sich die Bemerkungen von Sperber zur Situation, aus der heraus er zum Schriftsteller wurde, nicht einfach auf die Produktionsbedingungen seines Schreibens beziehen können – sind doch die Lebensumstände eines vor den Nationalsozialisten und der KP flüchtenden jüdischen Kommunisten, untertrieben gesagt, eine miserable Grundlage einer Schriftstellerexistenz. Die Situation, die Sperber mit seinen Bemerkungen meint, erschließt sich deshalb nicht einfach aus einzelnen Eckpunkten, Jahresdaten und Ortsnamen. Zu verstehen gilt es vielmehr, welche spezifische Erfahrung ihn als jüdischen Kommunisten zum Schreiben brachte. Der Wandel der Hoffnung, die ohnmächtige Praxis sowie der Zufall des tagtäglichen Überlebens, haben die Situation bestimmt, in der er begonnen hatte zu schreiben.
Sperber folgt in seiner Romantrilogie einer kleinen Gruppe von Kommunist_innen ab dem Jahr 1931. Die Sache des Kommunismus hatte nach der Oktoberrevolution eine große Anziehung ausgeübt. Eine Zukunftsperspektive in der Wirklichkeit selbst wurde eröffnet. Georg Lukács schrieb, »daß – endlich! Endlich! - ein Weg für die Menschheit aus Krieg und Kapitalismus eröffnet wurde« (GuK: 13). Es scheint eine reale Hoffnung auf eine Zukunft als Ausweg aus Krieg und Kapitalismus zu geben. Auch Sperbers Figuren sind zu Beginn der Geschichte von diesem Motiv der Hoffnung bestimmt. Die kommunistische Gesellschaft erscheint als reale, zu erkämpfende Möglichkeit am Horizont. Diese Hoffnung auf eine bessere Zukunft wird für Sperbers Figuren zum Grund des Gehorsams gegenüber der kommunistischen Partei, die diese Hoffnung vertritt, wenn eigene Erfahrungen in der Praxis Zweifel an ihrem Anspruch aufkommen lassen.
Den Einstieg in die Romantrilogie bildet die Nacherzählung eines illegalen Treffens der Parteikader. Während des Treffens trifft Josmar, ein junger Bote des Kaders Herbert Sönneckes auf Denis Faber, genannt Dojno. Anlässlich des geplanten Ausschlusses von Vasso Millitsch wirft sich Josmar auf die Seite der Kader: »Es kommt nicht auf einzelne Personen an.« (Sperber 1981: 41)
Faber entgegnet ihm darauf:
»In der wahren revolutionären Bewegung kommt es auf sie, auf jeden einzelnen Menschen an, und wenn sie Zehntausende wären, aber in der Armee kommt es auf sie nicht an. In der Bewegung findet sich der Mensch, in der Armee muß er sich selbst entfremden, hat er sich zu verlieren. Vasso hat Menschen gefunden, die Jahreszeit-Männer werden dafür sorgen, daß sie sich wieder verlieren. Die Zeit des Gehorsams bricht an.« (ebd.: 41f)
In der kurzen Diskussion zwischen Faber, der seit langem schon Teil der Bewegung ist und Josmar, einem jungen Enthusiasten, artikuliert sich ein Moment des Zweifelns. Nicht mehr geht es um Individuen als Teil einer revolutionären Bewegung, sondern sie hat sich zur Armee gewandelt und, so die Zeitdiagnose von Faber, anstelle des Anspruchs der Revolution ist die Disziplin getreten. Die Bedeutung ihrer Entscheidung zum Gehorsam und zugleich die faktische Irrelevanz ihrer Entscheidungen können die Beteiligten an dem Treffen noch nicht ermessen. Später wird Vasso nach Moskau beordert und hingerichtet. Das Todesurteil, obwohl es kurz vorher verkündet wird, scheint schon länger beschlossen worden zu sein. Es scheint, als sei das Todesurteil gegenüber Vasso in dem Moment gefällt worden, wo die Zeit des Gehorsams angebrochen ist.
Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft wirkt in einer Situation, in der die Bedrohung durch den Nationalsozialismus immer deutlicher wird, nach Innen als Gehorsam. Bei diesem Gehorsam handelte es sich auch um eine Form des Selbsterhalts: Die Partei, wie Bini Adamczak es in ihrem Buch Gestern Morgen formuliert, gab Hunderttausenden im geschichtlichen Verlauf erstmals eine Stimme, setzte sie in den Stand, ihr Leiden artikulieren und aktiv in den politischen Prozess eingreifen zu können. An der Partei festzuhalten hieß, sich selbst durch den Gehorsam als politisches Subjekt zu erhalten und zugleich abzuschaffen.
Auch Sönnecke wird in Moskau ermordet. Faber bricht mit der Partei. Das Motiv der oben genannten Hoffnung wird in einer Rückblende konkretisiert. Nach der Nachricht vom Tode Vassos fällt Faber in eine tagelange Apathie. Im Gespräch mit seinem herbei gereisten Mentor Professor Stetten erinnert er sich an seine damaligen Worte: »Wir werden den Betrug mit Lügen zudecken, habe ich gesagt, und die Lügen werden Wahrheit werden und der Betrug wird aufhören, Betrug zu sein – wenn wir der Revolution nur treu bleiben, wird das Krumme wieder gerade werden, das habe ich gesagt.« (Sperber 1981: 444)
Das Krumme wird gerade werden – so ließe sich die revolutionäre Hoffnung fassen. Die feste Überzeugung von deren Möglichkeit – dass die je konkret historische Situation ein transzendierendes Versprechen auf eine bessere Zukunft enthält– verändert die Perspektive auf die jeweilige Gegenwart. Was krumm war, kann gerade werden. Zugleich dient sie zur Legitimation von Betrug und Lüge, dazu, den Gehorsam zu rechtfertigen. An die Stelle der Einsicht in die Veränderbarkeit der Verhältnisse, an die Stelle von Analyse und Kritik, tritt Gehorsam unter Androhung von Strafe und Ausschluss, der unter den damaligen Verhältnissen für manche Emigrant_innen den Tod bedeuten konnte.
Erst die Erfahrung das ihm nahe Menschen ermordet wurden, weil sie nicht mehr gehorchten sowie eine Begegnung in Prag lassen Faber erkennen, wie es um das Versprechen steht. In Form der Partei ist es umgeschlagen in totalitären Gehorsam, legitimiert durch das Versprechen der besseren Zukunft. Dies führt ihn in eine (kommunistische) Apathie, da ihm mit Vasso auch seine Zukunft getötet wurde.Die Zukunftslosigkeit in der Apathie wird durch das Eingedenken der letzten Worte Vassos überwunden. Durja, Vassos Zellengenosse der mit Glück überlebte, übermittelte sie ihm. »Verliere deine Zeit nicht damit, an das zertretene Gras zu denken, denke an das neue Gras! Zweifle keinen Augenblick daran, daß es sprießen wird!« (ebd.: 449) Das Motiv des sprießenden Grases verweist auf die weiter ablaufende Geschichte. Eine Bewegung des Lebens drängt unaufhörlich nach oben und führt eine Zeitstruktur – zumindest ein Morgen – in sich. Die so neu gewonnene Hoffnung entstammt der stets neu zu leistenden Analyse und Kritik in Anbetracht einer noch nicht vollends abhanden gekommenen Zukunft. Letzteres übersetzt Faber in ein, von Verzweiflung kaum zu überbietendes, Motiv: »...man muss noch tiefer in den Abgrund, um später wieder hochzusteigen. Das war das alte Bewegungsgesetz der Menschheit, dieser ewigen Debütantin – es galt noch immer, schon wieder.« (ebd.: 453) Faber kann, in dem er die aktuelle Situation sinnhaft als Moment innerhalb des alten Bewegungsgesetzes deutet, neue Hoffnung schöpfen. Tiefer und endloser kann der Abgrund kaum sein, wenn der Aufstieg die Änderung der Verhältnisse bedeuten soll. Der Satz eines Toten, übermittelt von einem zufällig Davongekommenen, wird ausschlaggebend für die neue Hoffnung. Diese Bitterkeit kann sie nicht mehr verlieren. Gewiß, die Hoffnung würde den bitteren Geschmack nicht mehr verlieren, doch trotz ihrer Bitternis würde sie allein die Quelle sein, aus der der Mut erfließen konnte, dessen es im Überfluß bedurfte.« (ebd.: 454)
Es macht Sinn kurz bei dem Begriff der Hoffnung zu bleiben und seine Wandlung nachzuvollziehen. In beiden Fällen bezieht sie ihre Kraft aus den vergangenen Entsagungen, den nicht gelebten Möglichkeiten und dem erlittenen Leid. Die Oktoberrevolution, vermittelt über das Sprachrohr der Partei, stiftete die historische Erfahrung, in deren Folge ein Zustand des aufgehobenen Leides denkbar wurde. Der erste Fall Hoffnung wurde dort aktuell, wo die Erfahrungen mit der Partei, auftretend als alleinige Vertreterin der Revolution, ihren eigenen Anspruch zweifelhaft werden ließ. Sie ist dabei totalitär in dem Sinne, dass sie alles unter sich subsumiert, den Gedanken und die Reflexion, und in totalitären Gehorsam umschlägt. Die versprochene Zukunft wird dabei zu einer abstrakten, jenseitigen. Nicht mehr war sie in jedem Moment gegenwärtig – in Form eines kritischen Verhältnisses zur eigenen Praxis – sondern wurde zu einem illusionistischen Versprechen einer Zukunft, welches Leid und Aufopferung rechtfertigen sollte.
Es ist Faber, der sich des illusionären und gewalttätigen Momentes gewahr wird. Erst dadurch kann ihm die Revolution wieder zu einem realen Versprechen werden. Vor dem Hintergrund des realen Leidens tritt Faber der die Wirklichkeit transzendierende Gehalt in den Vordergrund. So kann das Motiv der Hoffnung variiert werden.
Die Hoffnung tritt als eine bittere auf, da sie maßgeblich von dem Wunsch geprägt ist, das Leid der Gegenwart aufzuheben. Bitter ist sie geworden, denn für sie sind die Erfahrungen, dass die Revolution zum Versprechen wurde – das Versprechen der gewesenen Revolution zu einem zukünftigen wird – konstitutiv. Sie ist erst zu einem bestimmten historischen Moment möglich. Denn sie aktualisiert das Versprechen der Revolution aus der Erfahrung heraus, dass die Partei die Revolution verraten hat. So reflektiert sich in dieser Hoffnung der Geschichtsverlauf, welchen sie zugleich zu überschreiten versucht. Ihr geht es nicht mehr um eine abstrakte, jenseitige Zukunft, sondern um die Gegenwart und deren Zukunft. So öffnet sie sich auch für die Erfahrung der Gegenwart. Auf theoretischer Ebene steht die Hoffnung in einem anderen Verhältnis zum Leid. Sie legitimiert es nicht, es geht ihr um dessen Abschaffung. Darüber, dass dies nicht durch Versprechen und Gehorsam zu erreichen ist macht sie sich keine Illusion, erst eine, in der jeweiligen historischen Situation, zu entwickelnde Praxis macht dies möglich. Und diese Hoffnung ist ihrerseits eine historische Erfahrung: Denkbar ist sie nur vor dem Hintergrund des versprachlichten Wunsches das Leid abzuschaffen und der begriffenen Enttäuschung jener Hoffnung – der durch die Oktoberrevolution eröffneten und durch deren Erben verstelltem Zukunftsraum.
Die zweite Figur der Hoffnung steht bei Sperber für den wiedererlangten revolutionären Standpunkt, für die materialistische Hoffnung. Nicht die Bewegung sondern die Einzelnen, nicht die Lüge sondern Analyse und Kritik, nicht das schlechte Weitergehen sondern die Frage nach der Praxis und die Notwendigkeit sich sprichwörtlich am eigenen Schopfe aus der Verzweiflung der Gegenwart zu ziehen, bestimmen die Gruppe der Kommunist_innen.
In ihrem Pariser Exil erläutert Josmar Faber den Plan der Gruppe. Dieser sieht vor, eine Spielzeugfabrik zu gründen, in der unabhängige Emigranten, die von niemandem Unterstützung erhalten, arbeiten können. Zugleich soll Forschung an fernsteuerbaren, mit Sprengstoff beladenen Autos stattfinden, um so einen Beitrag im Kampf gegen die Nationalsozialisten zu leisten. Der Gewinn soll eine Schriftenreihe finanzieren, in der »die Begriffe […] völlig geklärt, die sozialen Tatbestände neu aufgenommen werden [mussten] – mit einer durch nichts, durch keine Drohung woher sie auch käme, und durch keine Rücksicht auf wen auch immer gemilderten Entschlossenheit, der Wahrheit zu dienen.« (Sperber 1981: 519)
Faber, der sich ironisch fragt, ob ein zufällig Eintretender sie nicht für »Kämpfer gegen jede ›ideologische Knechtschaft‹, für Spielzeugfabrikanten, für Organisatoren spezieller Zerstörungs- und Attentatseinheiten, für Klärer von Begriffen?« (ebd.) halten würde, sagt schlussendlich zu.
In dem ironischen Bild artikuliert sich die Erfahrung der realen Irrelevanz der Handlungen jener Kommunist_innen angesichts der historischen Situation. Es ist die Ausweglosigkeit der Situation vor deren Hintergrund Bewegungsgesetze der Menschheit und konspirative Zusammenkünfte ihren Sinn für die Figuren erhalten. Die materialistische Hoffnung lässt Faber zusagen. Sie vermag zwar als revolutionäre Hoffnung die Immanenz der Gegenwart zu überschreiten, ist aber zugleich an die aktuelle Gegenwart gebunden und in ihrer Bedeutung wandelbar.
Erneut ist es Faber, der die Bürde der Hoffnung artikuliert. Nachdem die Rettung eines anderen Renegaten misslungen ist, kehrt Faber nach Paris zurück. Die hoffnungsvollen Projekte stecken fest, ein geplantes Attentat wurde verhindert und die finanziellen Reserven schrumpfen aufs Kleinste. Der, den Faber zu retten auszog, entschied sich gegen seine Zukunft. »Keinem kam ernsthaft der Gedanke, seinem Leben ein Ende zu machen, die Verzweiflung war noch immer die Ungeduld des Hoffenden. Dojno [Faber] hatte es aufgegeben, darauf zu warten, daß ihm der letzte Tropfen der Hoffnung versiege. Es gab keinen Gott, der ihn hätte von ihr befreien können. Er war verdammt, zu hoffen.« (ebd.: 556)
Die materialistische Hoffnung kann ihre Träger verdammen. Wenig bleibt ihnen, außer zu hoffen, dass alles anders wäre, wo sich ihre Praxis als ohnmächtig der Gegenwart gegenüber gezeigt hat. Durch die immer größer werdende Bedrohung durch die Nationalsozialisten und der KP, ist die eigene Zukunft und, vermittelt darüber, eine bessere Zukunft für die Figuren zur realen Illusion geworden.
Der Roman verortet die bisherige Handlung zeitlich vor dem Hitler-Stalin Pakt. Spätestens mit dessen Unterzeichnung vom 23.08.1939 manifestierte sich, was sich in den Erfahrungen von Sperbers Figuren schon abzeichnete. Walter Benjamin, der, wie auch Sperber, vor den Nationalsozialisten nach Paris floh, stellte die Bedeutung des Paktes in einem Gespräch mit Soma Morgenstern heraus: »Warum sollten wir es auch verdient haben, daß unsere Generation die Lösung der wichtigsten Fragen der Menschheit erleben sollte.« (Benjamin 2010: 183)
Die Situation, in der sich Manès Sperber zum Schreiben entschieden hat, ist vergangen. Trotzdem lassen sich aus dem Roman einzelne Motive auf die Gegenwart übertragen. Für Sperber ist ein Eingedenken des Leidens der Vergangenheit wie auch der Gegenwart notwendig. Erst vor dessen Hintergrund zeige sich, ob und inwieweit kollektive Bewegungen abstrakte Versprechen über eine Zukunft mit sich führen, oder diese konkret im Sinne der Abschaffung des Leides bestimmen. Um zu einem Begriff des Leids zu kommen, bedarf es zugleich der individuellen wie kollektiven Auseinandersetzung mit der Geschichte der getöteten Hoffnungen. So kann Leid zur Sprache gebracht werden. Mit Sperber ist dies kein individuelles Verfahren. Eine Hoffnung auf eine kommunistische Zukunft ist nicht rein individuell verfasst, noch kann sie so rekonstruiert werden, da ihre vergangenen Ansprüche stets auch gesellschaftliche waren.
In dem bestätigen Ringen um eine Praxis, welches sich im je konkret-historischen Moment vollzieht, wird ein anderes Verhältnis zum Gegenstand entwickelt. Statt um Illusion und Gehorsam, geht es um Einsicht und Kritik. Wo es um ersteres geht, verselbstständigt sich die Praxis gewalttätig gegen die Individuen und hat mit dem Kommunismus reichlich wenig zu tun. Als Flaschenpost verstanden, verbindet Sperber mit seinem Werk zugleich einen Anspruch auf die Gegenwart. Es ist entstanden in einer historischen Situation, in der eine politische Praxis verstellt erschien, und wurde für Nachkommende geschrieben. Ihnen die Vergangenheit zu schreiben, heißt, einen Zustand zu erhoffen, in dem eine Zukunft denkbar ist. Eine Zukunft, in der die Hoffnung wieder real werden könnte. So verstanden, ist die Trilogie der Versuch, der Geschichte der kommunistischen Hoffnung während der Jahre 1931-1945 einen Ausdruck zu geben. Sperber selbst verabschiedete sich nach 1945 vom Kommunismus.
Parallel bietet sich die Lektüre von Bini Adamczak Gestern Morgen. über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster und die Rekonstruktion der Zukunft an.
Christian Sperneac-Wolfer
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Sperber, Manès (1981): Wie eine Träne im Ozean. München.
Sperber, Manès (1977): Bis man mir Scherben auf die Augen legt. Wien.
Benjamin, Walter (2010): Über den Begriff der Geschichte. Kritische Gesamtausgabe. Band 19 Hrsg von Gérard Raulet.
Adamczak, Bini (2011): Gestern Morgen. Über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster und die Rekonstruktion der Zukunft. Münster.