Diskus: Liebe Bini, gibt es eigentlich heute noch die Aussicht auf die befreite Gesellschaft?

Bini: Ja, die gibt es. Es ist vermutlich nicht die befreite Gesellschaft, die sich da sehen lässt, sondern eine, oder besser eine Vielzahl befreiter, also freierer, egalitärerer, solidarischer Gesellschaften. Und diese sehen auch je nach Aussichtspunkt ein wenig anders aus. Jeweils etwas verstellt, ausschnittsartig, unscharf. Jeweils mit unterschiedlichen geographischen, thematischen, historischen Konturen und Akzenten. Heute, wie ihr schreibt, ist die Aussicht von Europa aus besser als vor 25 Jahren, zur Zeit des Endes der Geschichte, als der Kapitalismus sich als alternativlos präsentierte und Gegenentwürfe nur in Lateinamerika und der Steiermark gehört wurden. Sie ist zugleich schlechter als vor 5 Jahren, zu Beginn des Arabischen Frühlings, als völlig unerwartete Revolten und Bewegungen weltweit neue Hoffnungen auf demokratische Aneignung der Gesellschaft weckten. Die Anziehungskraft, die der Kapitalismus als demokratische Marktwirtschaft noch 1990 für die Menschen des Ostens hatte, hat er spätestens seit der Weltwirtschaftskrise verloren. Die Geschichte ist wieder offen. Gleichzeitig sehen wir gerade mit an, wie die hoffnungsvollen Aufbrüche der letzten Jahre sich in den alten Militärdiktaturen (Ägypten), in islamistischen Regierungen (Tunesien), grässlichen Bürgerkriegen (Syrien) oder weitgehenden politischen Kapitulationen (Griechenland) fortsetzen, während die internationale Rechte, sei es in islamistischer oder faschistischer bis rechtspopulistischer Gestalt weiter erstarkt.

D: Im Angesicht dieser Szenarien scheint die gegenwärtige Lage dann doch eher verzweifelt als hoffnungsvoll. Besonders wenn zu den internationalen Krisen noch die fast täglichen rassistischen Übergriffe in Deutschland hinzukommen. Als Linke scheint sich auf diese Situation kaum überzeugend reagieren zu lassen (anders als noch um die Jahrtausendwende, als global eine andere mögliche Welt von links ausgerufen wurde), außer vielleicht mit der kleinteiligen Spurensuche nach Emanzipation inmitten der Gesamtscheisse, im persönlichen Umfeld oder mit Resignation.

B: Alors, ich denke die Parole ›Eine andere Welt ist möglich‹ konnte nur deshalb so erfolgreich werden, weil der Mehrheit der Menschheit die bestehende Welt eben als alternativlos erschien: TINA (there is no alternative) war das ausgesprochene wie unausgesprochene Motto der Epoche. Der Kapitalismus hatte gesiegt, die Geschichte war an ihr Ende gelangt. Linke Entwürfe wurden nicht in erster Linie deshalb abgelehnt, weil sie auf inhaltlichen Widerstand stießen, sondern ›weil das doch eh nicht klappt‹, weil ›man nichts machen kann‹. Aus Deutschland ist diese Stimmung des Endes der Geschichte immer noch nicht entwichen. In den ersten 20 Jahren nach der Niederlage der Sowjetunion aber legte sich diese allgemeine Atmosphäre der Resignation über weite Teile des Globus. Die Globalisierungsbewegung – ohnehin vor allem von der organisierten radikalen Linken getragen –, die in Seattle und Genua neue Hoffnung entfacht hatte, zerschellte mit 9/11 und dem folgenden War on Terror, in dem für emanzipatorische Perspektiven kein Platz mehr blieb.

In den 1920er Jahren hätte das Ausrufen einer möglichen anderen Welt niemanden auf die Straße locken können. Dass eine andere Welt möglich war, stand außer Frage. Was in Frage stand war vielmehr, welche Welt – die Welt welcher der um die Zukunft streitenden Fraktionen – es genau sein würde und vor allem wann sie endlich einträte: noch vor der nächsten Mietzahlung oder doch erst im kommenden Jahr. Heute ist die Parole der Altermondialist_innen ebenfalls nicht mehr zu hören. Nicht weil andere Welten so viel näher gerückt wären, sondern weil die bestehende Welt an Stabilität und Plausibilität eingebüßt hat. Es ist offenkundig, dass die Regierenden unwillens und unfähig sind, Antworten auf die ökonomischen, ökologischen und sozialen Probleme der Zeit zu geben, die noch in der Lage wären, einen Großteil der Bevölkerung einzubinden. In dieser Situation der Schwäche des herrschenden Blocks erleben wir auch das Erstarken der extremen Rechten, die Wiederkehr des europäischen Faschismus. Aber wir erleben zugleich, etwa in Kroatien, Polen oder Frankreich, einen breiten gesellschaftlichen Widerstand gegen den Angriff von rechts und seine Unterstützung durch die Mitte der bürgerlichen Gesellschaft. In der US-Amerikanischen Generation der unter 30jährigen findet der Sozialismus mehr Zustimmung als jemals zuvor. Sure, Sozialismus bedeutet jetzt mehr Sozialdemokratie als etwa in den 1970ern, aber die Diskrepanz zu den frühen 2000ern bleibt gravierend. Selbst in Deutschland war im letzten Jahr eine Bewegung der Solidarisierung mit Geflüchteten zu sehen, die es in den 1990er Jahren so nicht gab. Klar, Deutschland bleibt – nicht zuletzt aufgrund des gespenstischen Fortlebens der antikommunistischen Tradition – das Auge des Orkans der europäischen Krisenpolitik und die deutsche Depression der hiesigen Linken findet darin eine ihrer Berechtigungen. Ob allerdings angesichts täglicher rassistischer Angriffe der Rückzug ins persönliche Umfeld eine sinnvolle Strategie ist, hängt davon ab, wie viele Geflüchtete, Sammelunterkünfte und Naziaufmarschplätze sich in diesem persönlichen Umfeld finden. Der Blick über den nationalen Schüsselrand lohnt jedenfalls. Die großen Proteste etwa, die im April und Mai 2016 Frankreich belebten, richten sich gegen ein Arbeitsgesetz, das gemeinhin als nachholende Agenda 2010 verstanden wird, sie gelten also dem Versuch, in Frankreich deutsche Verhältnisse einzuführen. Aufgrund der internationalen Verflechtung durch nationale Konkurrenz können sie vermutlich nur wirklich erfolgreich sein, wenn sie auf Deutschland übergreifen.

D: Um noch einmal auf deine vorherige Antwort einzugehen: Auch du relativierst die Rede von der befreiten Gesellschaft vorweg, obwohl aus deinen Texten eine große Leidenschaftlichkeit für die Frage nach der Revolution spricht. Ist die Zeit für die Frage nach der befreiten Gesellschaft vorbei? Sicher ist die Revolution zu erwarten unrealistisch, aber müssen wir deswegen das Träumen von ihr aufgeben und nach nur befreiteren Verhältnissen verlangen?

B: Ich ›relativiere‹ die Rede von der befreiten Gesellschaft nicht im Interesse eines abgespeckteren, realistischeren, reformorientierteren Programms, sondern weil ich dem Singular majestatis dieser Figur misstraue. Das gleiche gilt im übrigen für ›Die Revolution‹. Diese Konzepte stehen in der Gefahr, radikale soziale Transformation und ihre Resultate aus dem historischen Prozess rauszuschreiben und in metaphysische Konzepte zu verwandeln. Revolution wird so oft zu einer theoretischen Figur in Form von ›Ereignis‹ oder ›Bruch‹ stilisiert, die sich als solche vielleicht messianisch erwarten, aber unmöglich historisch analysieren, praktisch vorbereiten oder gar machen lassen. Die Rede von einer befreiten Gesellschaft oder dem ganz Anderen, das sich ›nach der Revolution‹ finden lassen soll, dient dazu, systemtransformierende Politik unter nicht revolutionären Bedingungen zu denken, steht aber in der gleichen Gefahr, die Bedingungen der Niederlage zu perpetuieren. Ich bin in der Geschichte der Russischen Revolution auf ein geheimnisvolles Phänomen gestoßen, das ich ›postrevolutionäre Depression‹ genannt habe: die Traurigkeit von Kommunist_innen darüber, dass die siegreiche Revolution vorbei ist. Diese Niedergeschlagenheit artikulierte sich nicht in einer Unzufriedenheit mit den bisherigen Ergebnissen der Revolution, sondern in einer nostalgischen Sehnsucht nach der vergangenen Revolution. Obwohl die Revolution in der Vorstellung dieser Revolutionäre gesiegt und bereits einen Teil dessen erreicht hatte, wofür sie unternommen worden war, wurde sie zurückgesehnt. Dieses revolutionäre Begehren war also mehr ein Begehren nach Revolution als ein Begehren nach einer revolutionierten Welt. Im bolschewistischen Imaginären und weit darüber hinaus bis in die Gegenwart konnotierte die Revolution Aufruhr, Aufregung, Aggression und Spaltung, die Postrevolution Frieden, Gleichheit, Einheit, Harmonie. Für diese befreite Welt brauchte es deshalb auch die Neuen Menschen, denn die alten waren offenkundig nicht dafür gemacht, in ihr zu leben. Es sollte deshalb nicht verwundern, wenn ihr Interesse, diese Welt wirklich zu erreichen, nicht allzu groß ist.

Von einer befreiteren, gleicheren, solidarischeren Welt zu sprechen halte ich nach der Erfahrungen der tragischen Revolutionsversuche des 20. Jahrhunderts demgegenüber für die erste Präzisierung eines revolutionären Maßstabs. An ihm scheiterten die meisten von ihnen. Der Stalinismus war nicht einmal weniger schlimm als der Zarismus, sondern noch schlimmer.

Aber statt über die missverständliche Vieldeutigkeit dieser großen Begriffe zu debattieren, können wir auch versuchen, wieder konkreter und präziser zu werden, um uns besser zu verstehen. Was versteht ihr denn unter der befreiten Gesellschaft?

D: Es ist klar, dass die Abstraktion hinter den großen Begriffen Gefahr läuft, bloße Mystifikation zu erzeugen und genau jenen Effekt hervorzubringen, der die konkreten Ziele der Revolution hinter dem Begehren der Revolution verschwinden lässt. Der erste Impuls bei dieser Frage ist wohl die Flucht in die Negation, die befreite Gesellschaft ist dann das, was heute noch nicht ist. Als Konsequenz dieser Negation wird einer konkreten Formulierung der befreiten Gesellschaft schnell der Vorwurf des Utopismus gemacht. Ganz ohne eine Vorstellung dieser scheint es aber auch nicht zu gehen. Der erste Schritt hin nicht nur zur befreiten Gesellschaft, sondern auch zu einer Vorstellung von ihr, scheint also das Wiederfinden dessen zu sein, was wünschenswert erscheint.Trotzdem bleibt der Verweis, dass eine Vorstellung von der befreite(re)n Gesellschaft auf den Umbruch der Verhältnisse als Ganzes gerichtet, sprich mit dem Verweis auf eine gesellschaftliche Totalität verbunden sein muss, die dazu tendiert, jeden Kleinschritt der Emanzipation reibungslos in sich aufzunehmen und zu ihrer eigenen Reproduktion zu wenden. Dabei muss man sich selbst oft zusammenreißen, dass sich diese Haltung nicht in bloßen Zynismus verkehrt, dem eigentlich jene resignierte Position zugrunde liegt, die den linken Entwürfen im Ende der Geschichte den Gar ausgemacht hat. Wir merken, dass es daran fehlt, eine konkrete Verbesserung als wünschenswert denken zu können. Zudem sind wir unsicher darüber, ob das eine individuelle Aufgabe ist oder ob die individuell-subjektive Disposition nicht schon zu verkorkst ist, um von einer anderen Welt träumen zu können, die ja nie nur die eigene sein kann, sondern eine der bedeutungsvollen Sozialbeziehungen sein muss, sprich kollektiv ist. So haben wir auch Gestern Morgen gelesen, als eine Spurensuche nach der vergangenen Fähigkeit des revolutionären Träumens, das das kollektive Träumen einer Klasse war, die ihre eigene Auflösung in der Überwindung der Verhältnisse mitträumt.

Deine Frage rührt daher direkt an den Ursprung unseres Bedürfnis nach einer Auseinandersetzung mit dir und deinen Überlegungen. Denn tatsächlich fühlen wir uns unfähig, die befreite Gesellschaft als Konkretes vorzustellen. Wir scheinen uns selbst in der Situation zu befinden, das Begehren erst (wieder) erlernen zu müssen. Dafür war dein Konzept der Trauerarbeit sehr inspirierend, denn wir merken an uns selbst, dass wir nicht nur die Revolution, sondern auch das Träumen von ihr verloren haben. Um mit dieser Situation des Verlusts des Verlusts einen Umgang zu finden, sich mit der postrevolutionären Depression konstruktiv auseinanderzusetzen, möchten wir auf dein Konzept des kommunistischen Begehrens zurück kommen. Ließe sich dieses Begehren als eine Arbeit an der eigenen Subjektivität vorstellen, oder ist es nur als ein kollektiver Prozess zu haben?

B: Ich möchte aus euren Überlegungen ein paar Aspekte herausgreifen. Zunächst das Problem der Negation. Diese lässt sich im Sinne des Bilderverbots verstehen, also im Sinne der Behauptung, dass über das Aussehen einer anderen Welt nichts gesagt werden kann noch darf. Als solche ist sie meiner Einschätzung nach in den letzten Jahren weitgehend geschliffen worden. Sie konnte den Gegenargumenten nicht standhalten.

D: …könntest du das ein bisschen ausführen?

B: Das Bilderverbot basiert auf der Vorstellung, die utopische Beschreibung einer anderen Welt könnte zum Masterplan werden, welcher der Zukunft autoritär vorschreibt, wie sie sich zu gestalten habe. Damit würden die Beschränkungen der Gegenwart auf eine möglichst andere Gesellschaft ausgedehnt. Das ist eine völlige Selbstüberschätzung der Rolle von Intellektuellen. Diese können lediglich Vorschläge unterbreiten, ob sie angenommen werden hängt aber von ihrer Attraktivität und Plausibilität ab. Zudem ist die Vorstellung historisch falsch. Die autoritären Kommunist_innen, die Bolschewiki, waren als Anhänger des wissenschaftlichen Sozialismus anti-utopisch. Gerade sie, die über keine ausgearbeiteten Bilder einer zukünftigen Welt verfügten, setzten ihren planlosen Plan gewaltsam durch. Nach den Erfahrungen des Stalinismus lässt sich das Bilderverbot nicht mehr halten, weil es den Traum nun nicht mehr nur als Werbung braucht, sondern auch um zu zeigen, inwiefern er sich vom Alptraum von dessen Scheitern unterscheidet.

D: Okay, danke, weiter im Text...

B: Die Aufforderung zur Negation lässt sich aber auch so verstehen, dass die bestehende Welt den negativen Maßstab der gewünschten bildet, dass die utopische Gesellschaft sich also daran messen lassen muss, wie sehr sie die gegenwärtige negiert. Auch diese Perspektive aber bliebe sehr problematisch. Sie stellt eine Selbstbeschränkung in Form negativer Fixierung dar, die es verunmöglicht, die entscheidende Frage zu stellen: welche Momente der alten Gesellschaft wir abschaffen, welche wir erhalten wollen. Es war schließlich nicht alles schlecht im Kapitalismus. Damit ist zugleich das Problem der Totalität angeschnitten. Ich würde der Formulierung widersprechen, dass die ›gesellschaftliche Totalität‹ jeden kleinen Schritt von Emanzipation ›reibungslos‹ in sich aufnehmen kann. Tatsächlich verlaufen die Kooptierungs- und Integrationsprozesse oft äußerst reibungsvoll. Der Neoliberalismus etwa ist nicht einfach ein konservatives Projekt, das die kapitalistische Herrschaft lediglich ausdehnt, vertieft und verfeinert. Er ist stattdessen in seiner Durchsetzung eine Reaktion auf den emanzipatorischen Aufbruch von 1968, von dem er viele Aspekte übernimmt, um sie mit Eigentum und Profit zu versöhnen oder in deren Dienst zu stellen. Das Bürgertum rettet seine hegemoniale Stellung um den Preis seiner gravierenden Transformation. Die kapitalistische Reproduktion wird gerettet, die weiße, patriarchale und heteronormative stark in Mitleidenschaft gezogen. Nur deshalb greifen Parteien, die eine neoliberale Wirtschaftspolitik mit einer wertekonservativen bzw. reaktionären Kultur- oder Gesellschaftspolitik rekombinieren, heute vom rechten Rand an. Sie sind – mit Ausnahme etwa der AKP in der Türkei – nicht hegemonial.

Wenn wir heute ein Begehren nach dem guten Leben artikulieren, tun wir es nicht in einem leeren Zeitraum. Wir greifen – bewusst oder unbewusst – auf ein Archiv an Wünschen zurück, das seit Jahrhunderten gefüllt wird, insbesondere zu revolutionären Kulminationspunkten wie 1917 und 1968. Deswegen müssen wir zugleich die Brechungen und Verzerrungen reflektieren, die diese Aufbrüche in den konterrevolutionären Rekuperationen von Stalinismus und Neoliberalismus erlitten haben. Vor allem aber dürfen wir, um eure Frage zu beantworten, wissen, dass das Träumen nie nur individuell ist. Das, was an Traumbildern zur Verfügung steht, das, was gewünscht werden kann, ist immer gesellschaftlich produziert, zirkuliert und distribuiert. Das trifft auch auf den massenhaften Traum vom individuellen Glück zu. Der Traum von Liebe, Familie, Karriere, die Sehnsucht danach, anerkannt, eingeladen und zitiert zu werden, der Wunsch nach biologischer Kindernahrung, exklusiver Einrichtung, stylischen Schuhen und Rädern sind gesellschaftliche Erzeugnisse. Unter Bedingungen des neoliberalen Differenzkapitalismus lautet die Anforderung gesellschaftlicher Normalität zugleich, zu sein wie alle und einzigartig: Sei wer du bist und fall nicht aus dem Reihe. Der ständige Wunsch nach Distinktion, nach Abgrenzung und Besonderheit ist selbst ein Zeichen von Anpassung. Worum es dagegen zunächst geht, ist ein kollektives disinvestment in diese Wunschökonomie des privatisierten Glücks. Scheiß auf private happiness.

D: Der ›massenhafte Traum vom individuellen Glück‹ ist doch dann aber etwas anderes als der Traum von einer glücklichen (anderen) Welt. Sicherlich ist ersterer gesellschaftlich produziert und ideologisch in die Reproduktion der Verhältnisse eingebunden; indem er einen auf sich selbst zurückwirft steht er im Widerspruch zum revolutionären Träumen. Das Begehren nach Glück und den hippen Goodies ist ja das private Echo der gesellschaftlichen Produktion, an die man auch in der Reflexion nicht mehr heranzureichen scheint. Es bleibt also auch hier der notwendige Schritt, sich von diesem individuellen Alltagsbewusstsein – in diesem Falle der ›Wunschökonomie des privatisierten Glücks‹ zu distanzieren…

B: Ich stelle in Workshops häufig zwei Fragen: 1. Wie siehst du deine Zukunft in 20 Jahren – schlechter, gleich oder besser? 2. Wie siehst du die Zukunft der Gesellschaft in 20 Jahren – schlechter, gleich oder besser? In aller Regel ist die Mehrheit optimistisch was ihre individuelle Zukunft, pessimistisch, was die kollektive Zukunft angeht. Geschichtsphilosophisch ist daran zunächst das Auseinanderfallen selbst auffällig. Der Zusammenhang von Allgemeinem und Besonderem, von Ich und Welt, ist – als ein Effekt der sozialistischen Niederlagen – zerschnitten. Als nächstes fällt – spätestens in der Gruppenerfahrung – der Irrsinn dieses gespalteten Bewusstseins auf: Wenn es der Welt schlechter geht, dann wird es der Mehrheit der sie bevölkernden Individuen nicht besser gehen. Der Glaube, es individuell schaffen zu können, ist vielleicht die mächtigste praktische Ideologie des neoliberalen Kapitalismus. Es ist ein Irrglaube.

D: Aber wie sieht dann das kollektive disinvestment aus? Und wie ließen sich die verschiedenen Formen des Unbehagens am Kapitalismus – die sich ja vielfältig in der Gesellschaft finden lassen – für dieses kollektive disinvestment zusammenbringen? Reicht die Feststellung, das man ›so‹ nicht leben möchte aus? Und beginnt nicht genau hier die Dringlichkeit sich über konkrete politische Konzepte zu einigen, weil man ansonsten Gefahr läuft ein inhaltsloses ›Dagegen‹ zu produzieren, was leicht in Ressentiments verfällt?

Bedeutet dann die Trauerarbeit (anders als die Aufarbeitung der verlorenen Kämpfe und Träume) die kollektive Traurigkeit als Gegenpol zur falschen individuellen happiness?

B: Nein. Die kollektive Traurigkeit ist der Gegenpol zu individueller Depression und Resignation. Individualisierung ist der zentrale Vergesellschaftungsmodus des neoliberalen Kapitalismus. Er spiegelt jedes objektive Verhältnis, sei es sozial oder sachlich, organisiert oder zufällig als Gegenstand subjektiver Verantwortung zurück: als Erfolg oder Versagen, Ohnmacht oder Schuld. Alles liegt an der Einzelnen: Ernährung, Gesundheit, Lieben, Wohnen, Arbeiten, Aussehen, Einkommen, Glück und Unglück. Hilflos und vereinzelt ist das neoliberale Individuum überfrachtet mit Anforderungen und auf die Hoffnung zurückgeworfen, sich irgendwie durchzuwurschteln. Resignativer Rückzug in die individuelle Leere liegt da nahe. In der geteilten Trauer hingegen wird auch der Traum eines möglichen zärtlicheren Umgangs mitgeteilt.

Ohnehin, und unter den beschriebenen neoliberalen Bedingungen noch mehr, ist die Zusammenkunft nicht nur ein Dagegen, sondern bereits ein Dafür. Ob sich eine Hausgemeinschaft gegen eine energetische Modernisierung konstituiert, ein Stadtteil sich gegen Gentrifizierung organisiert oder Menschen sich über ihre je unmittelbaren Interessen hinaus zusammenschließen um einander zu unterstützen – die Vereinzelung wird überwunden und das gesellschaftliche Leben als gesellschaftliches erfahrbar. Es ist ein großes Versäumnis emanzipatorischer Theorie, dass sie Solidarität fast immer auf einen Effekt oder ein Mittel reduziert hat. Sie entsteht im Kampf und wird für den Kampf gebraucht: united we stand, divided we fall. Die Gefahr besteht darin, die Versammlung instrumentell zu fassen. Wie Menschen in einer Zweck-WG zusammenleben, weil ihnen für die Single-Wohnung das Geld und für das Reihenhaus mit Garten die Restfamilie fehlt, machen sie im Zweckbündnis zusammen Politik, weil ihnen die Macht fehlt, alleine ihre Privatinteressen durchzusetzen. Eine temporäre Überwindung der zivilisatorischen Aversion in strategischem Interesse. Das ist das Modell von Game of Thrones oder House of Cards.

Das Modell von Pride aber lehrt uns etwas anderes. Wenn eine LGBT-Gruppe beschließt, streikende Miner zu unterstützen und sich die Gewerkschaft der Kohlearbeiter_innen am Gay Pride beteiligt, dann ist das mehr als nur praktisch oder nützlich, notwendig oder effizient. Die affektive Rührung, die der Film hervorruft, lässt daran keinen Zweifel: Solidarität ist selbst Zweck. Wir verwenden unsere Zeit um einander anders kennen zu lernen, um Zeit und Raum zu teilen, um zusammen zu sein. Kapitalismus verbindet Menschen einzig indem er sie trennt. Über den Modus der Indifferenz und der Konkurrenz. ›Man‹ ist einander egal, oder steht miteinander im Wettbewerb – an Arbeitsplatz, Nationalgrenze und Gartenzaun. Jede hat ihre eigene Facebookglotze. In diese Richtung zielen auch die aggressiven Werbekampagnen von Deliveroo und Foodora, die uns alle noch mehr zu Stubenhocker_innen machen wollen. Dagegen lautet die Nachricht der Assembleas, die in allen Bewegungen der letzten Jahre entstanden: Lass uns draußen treffen.

D: In deinen Antworten auf unsere skeptischen Fragen zum Zustand der Linken fällt dein grundsätzlicher Optimismus auf. In Anbetracht der sich in weiten Teilen durch eine Geschichtslosigkeit auszeichnenden Bewegungen, die momentan das Bild prägen, wirkt er doch etwas überraschend. Ist deine Arbeit als ein Versuch zu verstehen, darauf zu reagieren? Um also noch ein letztes Mal auf deinen Begriff der kollektiven Trauerarbeit einzugehen: Ließe sich dieser für die Bewertung gegenwärtiger linker Praxis fruchtbar machen?

B: Sind die aktuellen Bewegungen geschichtslos? Könnte, wenn wir in einigen Teilen der radikalen Linken eine Rückkehr moralistischer und identitärer Politiken beobachten, das geschichtliche Wissen darum, dass es sich hier um eine Wiederholung von autonomen Politikstilen aus den späten 1980er Jahren handelt, etwas an diesem Comeback ändern? Ich bezweifele es. Vielleicht aber kann die Erinnerung daran, dass etwa in queerfeministischen oder anarchistischen grassroots-Bewegungen bereits offenere und lustvollere Politikformen entwickelt wurden, das Archiv eines anderen Angebots bereithalten. Das Angebot einer asubjektiven und nichtnormativen Politik, die weniger auf Abgrenzung als auf Ansteckung, weniger auf Anklage gegenüber dem Bestehenden als auf Lust an Veränderung basiert. Das Angebot einer Politik, die statt nach der reinen Position zu suchen fragend voranschreitet und die statt auf Subjekte und deren Gewissen auf die Gestaltung von Beziehungen zielt. Prinzipiell denke ich, dass die Linke, zumal die radikale, sich zu viel mit sich selbst und ihrem eigenen Zustand beschäftigt. Immer wieder verliert und zerteilt sie sich in den Auseinandersetzungen zwischen Kleingruppen und Strömungen um die richtige Lehre. Immer wieder entstehen Gruppen, die sich darauf zu spezialisieren scheinen, ›in die Linke zu intervenieren‹ und mit moralischer Empörung beklagen, dass diese sich nicht genug oder gar nicht mit Feminismus oder Antisemitismus oder Rassismus oder Marxismus oder Ableismus oder Ökologie beschäftigt. Sie übersehen dabei, dass unter den prekarisierten Bedingungen der projektbasierten Arbeitsteilung auch innerhalb der Linken die Ressourcen begrenzt sind. Viele Lücken sind weniger durch Ignoranz als durch Überarbeitung begründet. Gestern Morgen handelt von der Linken in einem historischen Zustand der Macht, als sie auf einem Fünftel bis einem Drittel des Globus ihren streitbaren Einfluss geltend machen konnte. Unter den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen jedoch verbleibt die Auseinandersetzung in der radikalen Linken in einem Feld der Marginalität. Das ist angesichts der Stärke der Reaktion gefährlich.

Wenn wir aber den engen Rahmen der organisierten oder identifizierten radikalen Linken verlassen, bin ich mir nicht sicher, ob eure Diagnose der Geschichtsvergessenheit überhaupt stimmt. An den Bewegungen der letzten Jahre lässt sich vor allem ihr Glaube an parlamentarische Parteien – etwa Syriza – kritisieren, der nicht durch historische Erfahrungen gedeckt ist. Aber als Menschen ab 2011 begannen, Plätze zu besetzen, sich zu versammeln, um sich gegen ihre schlechten Lebensverhältnisse zur Wehr zu setzen, hätten sie easily auf die Idee kommen können, sich Anführerinnen zu geben, diese vor die Fernsehkameras zu schicken und sie mit der Macht eines Zentralkomitees auszustatten. Sie hätten, um die Geschlossenheit der Bewegung zu sichern, ein Programm ausarbeiten und Abweichlerinnen ausschließen können. Sie hätten mit anderen Worten den autoritären Sozialismus wiederaufführen können. Haben sie aber nicht. Stattdessen waren sie um radikaldemokratische, inklusive und hierarchiearme Politikformen bemüht. Hier hat scheinbar, ohne dass es dazu das dezidierte historische Wissen der Akteurinnen bräuchte, ein historischer Lernprozess stattgefunden, der Hoffnung macht.

 

Das Gespräch führten Freya Kurek und Alex Struwe.