Ist für die Revolution ein Kollektiv notwendig?

Welches Verhältnis besteht zwischen Individuum und Kollektiv der Revolution?

Welche Rolle spricht man einer wie auch immer gearteten Avantgarde für die Revolution zu?

Wie zeigen sich objektive Widersprüche in subjektiven Krisen?

Wie können subjektive Krisen aber auch objektiv begründete Partikularinteressen Möglichkeiten der Politisierung sein, die jeweils über sich hinaund so weitereisen?

Ist das Kollektiv – falls es in der Revolution anwesend ist – nur im Moment der Revolution revolutionär oder muss das revolutionäre Kollektiv schon vorher entstehen?

Wie wird das Verhältnis von partikularen Kämpfen und allgemeiner Befreiung gedacht?

Beim Versuch, uns eine Position zu diesen Fragen zu erarbeiten, kamen wir auf die Idee, eine Diskussion mit einigen Theorie- bzw. Polit-Gruppen zu organisieren und zu dokumentieren. Da sich diese Idee aber als organisatorisch nicht umsetzbar erwies, haben wir kurzerhand zwei fiktive Personen ins Gespräch gebracht. Sie vertreten keine Gruppenposition (und sei es wiederum eine fiktive), sondern sprechen für sich selbst.

Rotfront!

diskus: Mangelt es ganz allgemein an linken Alternativen zur Krise? Dreht sich linke Politik letztlich immer nur um Krisenmanagement ohne Versuche starke eigene Akzente zu setzen?

Toni: Zunächst ein ganz klares Ja auf die erste Frage. Es mangelt derzeit ganz allgemein an linken Alternativen zur Krise. Ich würde daraus aber nicht schließen, dass sich linke Politik immer nur um Krisenmanagement drehen muss. Vielmehr würde ich in meiner politischen Praxis gerade hier ansetzen und versuchen, die Kämpfe, die wir als Linke momentan zwangsläufig zu bestreiten haben – all die Abwehrkämpfe gegen Rassismus, Sozialabbau und weltweite Verelendung, gegen Umweltzerstörung, und so weiter und so fort . – ich würde meinen, dass diese Kämpfe zusammengedacht werden müssen und dass dann auch ein starkes und eigenständiges linkes Projekt daraus entstehen kann. Erst in der Auseinandersetzung mit den reaktionären Antworten auf die Krisen des Kapitalismus können sich eigene Akzente bilden. In der Gruppe, in der ich organisiert bin, versuchen wir nicht eigene ›Aufstände‹ anzuzetteln, sondern tragen bestehende Bewegungen mit. Die Akzente, die wir als Gruppe darin selbst setzen, verstehen wir mehr als Richtungsweisung – die manchmal aufgegriffen wird und eine Auseinandersetzung stärkt – und in anderen Fällen leider auch nicht. Wir vertreten kein geschlossenes Konzept, das wir versuchen anderen aufzudrücken. Sondern wir versuchen, unterschiedliche Ansätze im Kampf gegen wahrnehmbare Kristallisationspunkte des kapitalistischen Wahnsinns zu vereinen bzw. aneinander zusammenwachsen zu lassen – das halte ich für die richtige Variante gegenüber einer verbohrten Standpunktpolitik, die es dann vielleicht schafft, ›eigene Akzente‹ zu setzen, aber in der Marginalität versinkt. Das heißt nun nicht, dass diese Kämpfe unabhängig wären von der gesellschaftlichen Formation, in der sie entstehen, natürlich nicht, es bleiben fürs Erste Abwehrkämpfe, da möchte ich mir auch nichts vormachen oder mich naiv stellen, aber es bleibt doch ein Rest, der darin nicht aufgeht, etwas Überschießendes, indem wir uns unseren Protest schlicht und einfach nicht in Gänze von den herrschenden Verhältnissen diktieren lassen. Wir können die Welt gerade nicht nach Belieben verändern, aber wir können kleine Risse schaffen und an ihnen weiterarbeiten, sie vervielfältigen und zusammenbringen.

Kim: Zurück zur Ausgangsfrage. Es mangelt nicht an linken Alternativen zur Krise. Es mangelt vor allem an einem Verständnis der Krise überhaupt. Das ›Verständnis‹ der Krise beschränkt sich meist auf Floskeln wie die, dass ›der Kapitalismus‹ selbst doch die Krise ist, als sei damit schon alles gesagt. Die Krise ist dann nicht die Ausnahme, sondern die Regel, weil man es mit einem ›System‹ zu tun hat, das insgesamt krisenhaft oder krisenanfällig sei. Daher die Rede vom ›kapitalistischen Normalvollzug‹ und so weiter In der ›Krise‹ ist dann alles noch eine Nummer doller, verschärft sich. Das ist grundsätzlich zutreffend. Aber es ist nicht viel gewonnen, wenn man dabei stehenbleibt und sich weder einen Begriff von den sich verändernden Produktionsverhältnissen macht, noch einen Begriff von dem, was die Krise vom ›Normalvollzug‹ unterscheidet. In den letzten Jahren ist zwar vereinzelt der Versuch unternommen worden, die Krisenursachen zu verstehen und eine Auseinandersetzung darüber anzustoßen, aber meist steht die Krise nach wie vor unter dem Paradigma der Eröffnung von ›Handlungsmöglichkeiten‹. Und mein Eindruck ist der, dass man sich mit einem solchen Primat der Praxis von vornherein das Begreifen der Verhältnisse verbaut. Wenn das Verhältnis zur Theorie nur instrumentell ist – wir brauchen nur so viel Theorie, wie absolut nötig, um unsere Events zu untermalen –, dann macht das die Begriffsarbeit unmöglich. Das lässt sich schon sehr treffend als Krisenmanagement bezeichnen. In massenhaften Einzelfällen gibt es den Leuten wahrscheinlich sogar eine sehr wichtige Perspektive. Wenn du in Spanien oder Griechenland lebst, alles verloren hast und dann merkst: okay, es gibt Leute, denen das nicht egal ist, und wenn du darauf dann reagieren kannst. Emanzipatorisch ist das aber eher zufällig – wenn überhaupt. Ein Wort noch zu diesen Versuchen, Akzente zu setzen, wie du es genannt hast, Toni. Das halte ich ebenfalls für unsinnig und möchte noch hinzufügen, dass das im besten Fall als Lifestyle funktioniert, weil damit die Theorie nicht an der Wahrheit ausgerichtet wird, sondern an der Szene. Und dem würde ich entgegnen, dass man seine Position im Kampf um Emanzipation doch nicht anbietet, weil sie schicker als die anderen ist. Es geht darum, die historische Lage zur Realisierbarkeit der Revolution erkennen zu können und entsprechend zu handeln.

diskus: Ihr habt das Moment der Verbindung von verschiedenen Kämpfen angesprochen. Wie denkt ihr das Verhältnis von partikularen Kämpfen und allgemeiner Befreiung? Und daran anknüpfend, welches Verhältnis besteht zwischen Individuum und Kollektiv – oder sagen wir Klasse – der Revolution?

Toni: Zur ersten Frage: Die beiden hängen für uns sehr eng miteinander zusammen. Genau darin besteht ja die Bedeutung dessen, was ich mit dem Zusammendenken, der Verbindung von Kämpfen vorhin angesprochen habe. Man denke an Situationen, in denen nur wenige Kilometer voneinander entfernt zwei Betriebe bestreikt werden, aber die Streiks werden nicht zueinander in Beziehung gesetzt, und dadurch werden sie im Keim erstickt. Da liegt ein zentrales Problem. Die einzelnen Initiativen, Gruppen, Parteien und so weiter, die ein irgendwie geartetes emanzipatorisches Projekt verfolgen, agieren nicht gemeinsam, sondern vereinzelt, manchmal auch direkt gegeneinander. Das lassen sie sich vom kapitalismus-immanenten Imperativ der Konkurrenz vorschreiben. Die politische Strategie, die ich hier skizziere, zielt deswegen darauf ab, die Kämpfe, die hier und da immer mal wieder aufflackern, zu verbinden. Wir können dem Kapitalismus nur dann etwas anhaben, wenn wir Arbeiter*innen in großer Zahl zu spontanen, unberechenbaren Aktionen zusammenbringen. Der große Sprung, die Revolution also, ist nichts, das sich ohne weiteres ereignen wird. Hierfür müssen die vielen kleinen Revolutionen, die sich in den alltäglichen Kämpfen ausdrücken, vereint werden. Zur zweiten Frage: Ich betreibe keine Wahrsagerei, sondern im besten Falle mache ich mit anderen zusammen Politik, und deswegen kann ich den befreiten Zustand und auch die Revolution, die zu ihm führt nicht im Voraus ausmalen. Die Vorstellung, die ich davon habe, basiert erstmal nur auf dem, was ich in den herrschenden Verhältnissen vorfinde. Und da finde ich ganz viel Vereinzelung, Isolation. Sowohl auf Seiten der Individuen – die sind sozial isoliert, lauter Einzelkämpfer_innen – als auch auf Seiten der politischen Akteur_innen und vor allem in der radikalen Linken. Und diese Isolation, diese Vereinzelung müssen wir überwinden, denke ich. Nur so wird die Linke politisch handlungsfähig, nur so kann sie etwas erreichen, und wie nebenbei wird im Prozess dieser solidarischen Organisierung dann etwas aufscheinen, Solidarität nämlich, was im Widerstand gegen das Bestehende auch den Weg über dieses hinaund so weitereist. Da müssen wir hin. Ich will die Differenzen, die es innerhalb der radikalen Linken gibt, nicht wegdiskutieren, und auch ihre Ohnmacht nicht, aber ich halte doch daran fest, dass wir keine einheitliche Linie brauchen, um gemeinsam zu kämpfen. Zum Beispiel brauchen wir keine allein gültige theoretische Erklärung der globalen Krise oder der vielen Krisen im Plural, auf die wir uns alle einigen können, um dagegen gemeinsam zu intervenieren. Ich denke, dass Theorie- und Begriffsarbeit notwendig sind, aber dass sie nicht jene Solidarität ersetzen können, die erst im gemeinsamen Kampf entsteht. Mindeststandards sind natürlich trotzdem absolut notwendig: Wir müssen uns darüber verständigen, dass es nicht um den Kampf gegen ein dubioses Finanzkapital geht, sondern gegen den Kapitalismus in seiner Gesamtheit, inklusive der materiellen Bedingungen seiner Produktion und Reproduktion, die es zugunsten einer demokratischen Kontrolle zu überwinden gilt. Das schaffen wir nicht ohne Theoriearbeit und auch nicht ohne solidarische Praxis. Tatsächlich liegt hier für uns eine DER zentralen Fragen: Wie können wir es schaffen, Bündnisse mit diversen Akteur_innen zu entwickeln und zu unterstützen, was auch heißt: unterschiedliche Positionen einbeziehen – ohne andererseits unsere eigenen Positionen zu verwässern, sie vielmehr ständig weiterzuentwickeln? Und es heißt noch mehr: Wie können wir die Bedürfnisse und Ängste der Menschen zum Beispiel vor Armut, sozialem Abstieg, und so weiter ernstnehmen, sie zugleich aber immer dort, wo es nötig ist, ihres ideologischen oder reaktionären Charakters überführen und sie der radikalen Kritik unterziehen? Ich gehe davon aus, dass diese Fragen nur in einer gemeinsamen Diskussion geklärt werden können und da muss man dann auch Niederlagen einstecken und sich manchmal eben auch zurücknehmen.

Kim: Ich würde hier gerne einhaken. Ich denke, ihr unterschätzt massiv welche Gefahren – und das ist noch harmlos ausgedrückt – damit verbunden sind, dass ihr um jeden Preis ›Bündnisse mit diversen Akteur_innen‹ schließen möchtet. Diese Bündnisse sind inhaltlich überhaupt nicht bestimmt. Genaugenommen, doch: Sie sind bestimmt, aber nur durch die Gegnerschaft gegen die ›Vereinzelung‹, die ihrerseits aber unbestimmt bleibt, und wenn ihr versucht, einfach alle einzubinden, die sich einer solchen Veranstaltung gegen die Vereinzelung in den derzeitigen Verhältnissen anschließen würden, und zwar ganz abstrakt, dann landet ihr tatsächlich bei nichts anderem als einer abstrakten Vergemeinschaftungs-Ideologie, die nichts anderes ist als die Kehrseite der Vereinzelung, für individuelle Bedürfnisse ist da kein Raum. Das heißt im Umkehrschluss ja nicht, dass eine Bestimmung oder Positionierung im Begriff unbeweglich festgehalten wird, aber – und das verstehe ich auch unter Solidarität – man sollte den Leuten klarmachen auf was sie sich einlassen und sie nicht im Trug der wabernden Massenbetroffenheit ihre jeweiligen Welterklärungen spinnen lassen. Dafür ist das Projekt Emanzipation doch viel zu prekär, als dass man es sich erlauben könnte, der Konterrevolution so fahrlässig den Weg zu bereiten. Wenn ihr heute sagt, dass ihr auf eine kollektive Begriffsarbeit verzichten möchtet, euch keine gemeinsame und möglichst verbindliche Position erarbeiten möchtet – denn dann könnten ja Leute aus der revolutionären Masse raund so fort allen oder von vornherein abgeschreckt werden –, dann vermeidet ihr ein unmittelbar bevorstehendes Problem, aber handelt euch im Gegenzug ein ganz wesentliches Problem für die Revolution ein. Um nicht zu sagen: dadurch wird die revolutionäre Bemühung von vornherein zum Scheitern verurteilt. Nicht, dass am Ende noch jemand versucht, ein Klassenbewusstsein auszubilden. Doch genau darauf kommt es aber an: ein Klassenbewusstsein aufzubauen – nicht abstrakt, sondern konkret in der Kritik der bestehenden Verhältnisse, die zugleich die Bewegung ist, die diese Verhältnisse umwirft. Und das schaffe ich nur, indem ich meine Positionen gemeinsam mit anderen erstreite und letztlich auch alle wissen, worüber sie eigentlich reden. In eurem blinden Vertrauen auf die spontane Erhebung der gutmütigen Massen traut ihr diesen Massen doch alles und zugleich gar nichts zu. Die Massen werden den Knoten schon von alleine lösen, aber Theoriearbeit leisten, nein, das können sie nicht. Dabei ist das doch das Gegenteil von der Demokratie, die ihr einfordert. Es käme darauf an, nicht jede in Pseudogewissheit zu lassen, dass die anderen es am End‘ genauso oder genauso wenig wissen wie man selbst, oder dass die inhaltlichen Differenzen bloß Nebensache seien, die sich in Luft auflösen, wenn der Kapitalismus dann auf einmal wie durch ein Wunder verschwunden ist. Sondern genau diese Differenzen müsste man in einem Prozess der Begriffsarbeit und der Verständigung austragen. Auch weil es ziemlich naiv wäre zu denken, dass man sich jetzt um die Inhalte nicht zu kümmern braucht, weil man die Wogen ja dann ganz einfach glätten kann, wenn das Wunder erst einmal geschehen ist. Ohne dass man sich überlegt, was man da für einen Prozess anstößt, den man nachher vielleicht nicht mehr so einfach bändigen oder lenken kann.

diskus: Ist das Kollektiv nur im Moment der Revolution revolutionär oder muss das revolutionäre Kollektiv schon vorher entstehen? Wie lauten gegebenenfalls die Kriterien, durch die sich schon vorher Aussagen über den revolutionären Charakter des Kollektivs treffen lassen?

Toni: Zur zweiten Frage. Die Aussagen über den revolutionären Charakter des Kollektivs, die ergeben sich ebenfalls aus den angesprochenen Kämpfen. Negative Aussagen durchweg, wohlgemerkt. Denn es sind immer Kämpfe GEGEN etwas, gegen Armut, Ausbeutung, Ausgrenzung, Herrschaft überhaupt. Aber dadurch ergeben sich auch Konsequenzen für das revolutionäre Kollektiv. Um es ganz einfach zu machen: Es lässt sich sagen, wer nicht zu diesem Kollektiv gehören kann, weil er oder sie nicht die gleichen Kämpfe teilt. Nazis, Rassist_innen und die Anhänger_innen anderer reaktionärer Ideologien gehören nicht dazu, so einfach ist das. Da wir uns ja bisher eher in den immer-gleichen Kreisen bewegt haben bzw. die bekannten Plattitüden wiederholt haben, würden wir an dieser Stelle gerne selbst eine Frage stellen bzw. einen neuen Impuls setzen. Wir stellen nämlich fest, dass das mit dem Klassenbewusstsein, von dem hier die Rede war, bisher nie geklappt hat und es sich im Gegenteil doch als gefährlich erwiesen hat, von vornherein auf ein revolutionäres Subjekt Klasse zu schielen. Auch wenn man Offenheit behauptet, das heißt, selbst wenn man behauptet, Theorie erst in der Kritik der Verhältnisse entwickeln zu wollen – wenn man diesen Anspruch nicht ernstnimmt und bloß Standpunktdenken betreibt statt Kritik im Handgemenge, dann schleppt man doch möglicherweise dieses alte ›Erbe‹ irgendwie mit. Dann läuft man Gefahr, sich die vermeintliche Kritik doch vorgeben zu lassen von der Suche nach dem Klassenbewusstsein, das man doch angeblich aus der Kritik an den Verhältnissen erst entwickeln möchte. Auch deswegen wäre es wichtig, den eigenen Offenheitsanspruch wirklich ernst zu nehmen, und das hieße wiederum: auf bestehende Kämpfe und Politisierung in diesen Kämpfen zu setzen.

Kim: Ich wollte meinen Punkt – dass wir uns ein Klassenbewusstsein erarbeiten müssen – nicht so verstanden wissen, dass die Klasse ein feststehendes revolutionäres Subjekt ist und als solches irgendwie eine Art privilegierten Erkenntnisstandpunkt hat. Das würde – und da sind wir uns ja offenbar alle einig – auf Standpunktdenken hinauslaufen, womöglich auf eine Art revolutionäre Identitätspolitik, einen Proletenkult, durch den sich das revolutionäre Subjekt über die Revolution hinaus erhält, anstatt sich in der klassenlosen Gesellschaft selbst aufzuheben. Deswegen bin ich auch völlig damit einverstanden, auf bestehende Kämpfe zu setzen, das heißt: immanente Kritik zu betreiben, statt einen Standpunkt zu beziehen, der auf eine abstrakte Utopie geht, der den Verhältnissen letztlich äußerlich ist, und der dann jeweils auf ein austauschbares revolutionäres Subjekt projiziert werden kann: Klasse, Multitude, Blockfreie Staaten, oder was auch immer. Nur um auch das noch einmal zu wiederholen: an bestehende Kämpfe anzuknüpfen, kann doch nicht heißen, einfach an irgendwas irgendwie anzuknüpfen; sondern – um im Bild zu bleiben – der Anknüpfungspunkt muss mit Bedacht gewählt sein; und das Anknüpfen selbst ist auch eines, das eine theoretische Reflexion über die Verhältnisse miteinschließt. Dass das Praxis nicht ausschließt, sondern im Gegenteil die Bedingung gelingender Praxis ist – geschenkt.

Toni: Dieses Theorie-Praxis-Problem scheint doch der Punkt zu sein, auf den diese ganze Diskussion immer wieder hinausläuft. Und in unserer Diskussion HEUTE stört mich ganz besonders, dass Theoriearbeit, auf die ich verwiesen habe, als solche nicht ernstgenommen zu werden scheint. Da kann ich nur ganz aufrichtig und ernstgemeint wiederholen, dass ich selbst und viele andere aus meinem Umfeld Theoriearbeit leisten und auch weiterhin leisten wollen. Mein Verhältnis zur Theorie ist eben kein instrumentelles, das kann ich mit Sicherheit sagen; das heißt es geht mir eben nicht nur darum, Dreizeiler für unsere Flyer zu produzieren, die eine möglichst große Menge an Leuten für das nächste Großevent mobilisieren. Diesen Vorwurf denke ich mir hier gerade nicht aus, weil ich mich missverstanden geben will; sondern vorhin war tatsächlich von einem Primat der Praxis die Rede – ich kann das leider nur sinngemäß wiedergeben – dass man sich mit einem solchen Primat der Praxis von vornherein das Begreifen der Verhältnisse verbaut. Daran stört mich Zweierlei. Primat der Praxis scheint hier zu heißen, dass jemand Praxis-um-jeden-Preis betreiben möchte, wider jede bessere theoretische Einsicht. Und das ist bei mir und bei meinen Genoss_innen nicht der Fall. Zweitens möchte ich aber auch von euch erfahren, ob nicht auch ihr letzten Endes eine Art Primat der Praxis verfolgt, denn hoffentlich – Frage an euch! – würdet auch ihr unterschreiben, dass Theorie nicht Selbstzweck sein sollte, sondern dass sie auf revolutionäre Praxis ausgerichtet ist – in welcher Form auch immer.

Kim: An der Stelle haben wir zunächst tatsächlich keinen Dissens. Der Teufel steckt allerdings im Detail. Ich würde zwar nicht sagen, dass Theorie Selbstzweck ist; aber was sich als ›Zweck‹ der Theorie erweisen wird, das zeigt sich eben in der offen angelegten Theoriearbeit selbst, die zunächst nichts Anderes ist als der Versuch, die Verhältnisse zu begreifen. Wenn man von vornherein setzt, dass die Theorie auf ›Praxis‹ ausgerichtet ist, dann muss man wirklich sehr aufpassen, dass man sich da nicht schon auf eine bestimmte Form der Praxis einengen lässt, zum Beispiel auf bestimmte Events. Klar: Wenn Praxis Befreiung heißt, dann ja, dann sind wir uns einig. Theorie ist nicht etwa desinteressiert oder eine Angelegenheit freischwebender Intelligenz, sie ist motiviert vom Interesse an einer befreiten Gesellschaft. Aber sie hält an einem objektiven und verbindlichen Wahrheitsanspruch fest und ist nicht bereit, diesen Anspruch zugunsten der unmittelbaren Kommunizierbarkeit oder der unmittelbaren Ausrichtung auf Praxis zu verkaufen.

 

Lu L. & Felirious F.