Erste Annäherung

In der Anfrage zu diesem kleinen Versuch wurde die Frage formuliert, ob und wenn ja wie die postnazistische Konstellation nicht nur für Deutschland, sondern auch für den Kontext der Europäischen Union (EU) prägend sei. Ich beginne diesen Text, ohne selbst eine abgeschlossene Antwort auf diese Frage zu haben, möchte sich dieser Artikel einer Antwort an diese Frage anzunähern – als eine Art Selbstverständigung. Hierbei wird manches zugespitzt, manches springt wahrscheinlich etwas unvermittelt hin und her; deshalb ist dies als Vorbereitung einer umfassenderen Analyse zu begreifen.

Geht man davon aus, dass der Begriff des Postnazismus im Anschluss an Adornos Formulierung des Nachlebens des Nationalsozialismus in der Demokratie zum einen personelle Kontinuitäten, zum anderen aber auch das Fortdauern materieller Strukturen meint, so muss gerade die Materialität im strikten Sinne des historischen Materialismus als geronnene, verdichtete Form gesellschaftlicher Praxis, als über individuell wirksame Routinisierung institutioneller Praxis, unter dem Gesichtspunkt ihres Wandels und ihrer Kontinuität betrachtet werden. Im Prinzip müsste man wohl auch weiter in die Vergangenheit zurückgehen, um die spezifischen Traditionslinien, die eben auch das Entstehen des Nationalsozialismus begünstigt haben, ihr Verhältnis zum NS und dann auch ihr Fortdauern analysieren. Dies würde sich am Beispiel der Verhältnisse der herrschenden Klassenfraktionen zum Staat und der darin liegenden Normierung der Idee des Rechtsstaats lohnen, weil man daran wahrscheinlich sehen könnte, dass zum einen in Deutschland in der Entwicklung einer kohärenten modernen Staatlichkeit der Rechtsstaatsgedanke vor allem gegen das Widerstandrecht gesetzt wurde, und dass diese rechtstaatliche Normierung im Kaiserreich »bestimmender Teil des Herrschaftssystems des Obrigkeitsstaates, Mittel seiner Durchsetzung« (Hoffmann 2009: 282) war. Zentral in der Entwicklung dieser »deutschen Idee der Freiheit« (Leonard Krieger, zit.n.ebd.) war die spezifische Stellung der herrschenden Klassen zueinander; dass die bürgerlichen Klassen eben nicht gegen den Adel standen, sondern diese vielmehr im Bündnis mit Teilen des Kleinbürgertums gegen die sich entwickelnde Sozialdemokratie agierten. Ebenso wären dabei auch innerhalb des Bürgertums die spezifische Stellung des Bildungsbürgertums zum Staat in Deutschland herauszuarbeiten, da mit der Entwicklung des deutschen Staates sich auch, resultierend aus der vormaligen Kleinstaaterei, ein flächendeckendes Netz der Bürokratie entwickelte, das durch das Bildungsbürgertum besetzt wurde. Insofern entstand hier eine merkwürdige Stellung zum Besitzbürgertum, woraus vor allem die Vorstellung resultierte: der Staat sei identisch mit dem Allgemeinwohl – und daher der Hüter dessen gegen den Egoismus usw., was als historisch spezifische Grundlage der dann im (völkischen) Antisemitismus radikalisierten dualistischen Wahrnehmung der Welt (Staat-Volksgemeinschaft-Allgemeinwohl vs. die »Zersetzer« dieser heiligen Trinität) analysiert werden müsste. Jene Normierung des Rechtsstaates als Hort des Allgemeinwohls der Volksgemeinschaft, als Bündnis der herrschenden Klassenfraktionen gegen das organisierte Proletariat und die Juden, im Nationalsozialismus im Führerprinzip dann radikalisiert, bildet damit so etwas wie den Kern der nach dem NS fortdauernden materiellen Strukturen. Führer-Mythos, Leistungsideologie und Antikommunismus waren in der direkten Nachkriegszeit in der formal demokratischen Gesellschaft mit der Kanzlerschaft Adenauers aktualisiert (vgl. ebd.: 520). Doch wie entwickelten sich diese Verhältnisse mit der Europäischen Gemeinschaft – insbesondere unter der Prämisse, dass die Entwicklung in Deutschland einen substantiell unterschiedlich zur westlichen Entwicklung (insbesondere Frankreichs) verlief.

Die spezifische Nachkriegskonstellation in Europa ist daher viel gebrochener und widersprüchlicher, so dass es erstmal nicht sinnvoll scheint, den auf die deutsche Situation gemünzten Begriff des Postnazismus selbst zu europäisieren. Auch wenn die Konstellation in Europa durch den NS insofern geprägt wurde, als die beginnende Blockkonfrontation und die Einbindung Deutschlands in das West-Bündnis zu Beginn noch unter der politischen Prämisse der Kontrolle Deutschlands standen (vgl. Abelshauser 2011: 232). Das Ruhrstatut, in welchem die Kontrolle über die Schwerindustrie festgeschrieben war, führte zu der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1951 und wurde 1952 durch die Montanunion abgelöst., Diese politischen Organe wurden schließlich »zum Herzstück der späteren Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und des europäischen Einigungsprozesses überhaupt« (Hoffmann 2009: 513). Gleichzeitig gestaltete sich der europäische Einigungsprozess allerdings solchermaßen, dass das politische Ziel der Sicherung des Friedens und der Einhegung (West)Deutschlands über die ökonomische Integration vollzogen wurde, wodurch die »wirtschaftstechnokratische […] Integration […], deren autoritäre Tradition im Dunkeln blieb«, dazu führte, dass sich die Europäische Gemeinschaft »apriori als Gemeinschaft ohne Erinnerung« (Stapelfeldt 1998: 43) konstituierten. Damit konnten in der erinnerungslosen Logik der ökonomischen Westintegration, in der Blockkonfrontation und, aufgrund der Teilung, der spezifischen Stellung Deutschlands darin, wiederum Führer-Mythos, Leistungsideologie und Antikommunismus des NS reproduziert werden. Insbesondere war die Grenze zur DDR mehr als nur eine Grenze zwischen zwei Staaten, sondern vielmehr die materielle Grundlage der Pflege des manichäischen Prinzips im Antikommunismus, die Grenze zwischen Gut und Böse (vgl. Brückner 1978: 24). Insofern trug damit die internationale Konstellation wie auch die ökonomische Integration dazu bei, die spezifischen Elemente des Postnazismus zu reproduzieren.

Jene Konstellation kam mit den globalen Umbrüchen 1990 an ein Ende. Mit den 2+4-Verträgen, der Wiedererlangung der vollen Souveränität sowie dem Anschluss der DDR an die BRD forcierte sich der Prozess der weitreichenden Redefinition nationaler Identität in Deutschland. Mit der neuen Stellung in Europa, nicht mehr als Bollwerk gegen den Kommunismus am Rand, sondern als machtvoller Akteur in der Mitte Europas, wurde das politische Anliegen der europäischen Einigung mehr und mehr durchdrungen von der ökonomischen (Ir)Rationalität des Binnenmarktes. Mit dem Vertrag von Maastricht 1992 begann auch eine neue Phase dieser Einigung, die in der Festschreibung der neoliberalen Struktur der EU im Lissaboner Vertrag 2007 kulminierte. Darin wurde eine Konstitution geschaffen, in der sich wiederum das postnazistische Element des Leistungsethos verallgemeinerte, was sich in der Emergenz eines flexiblen Konformismus zeigt, in dem jener quasi zu sich selbst kommt. Hierin wirken durchaus widersprüchliche Elemente: erstens die ordoliberale Tradition, die schon vor dem NS begann den Markt zu mythologisieren, in ihrer darin enthaltenen Vorstellung vom starken Staat allerdings durchaus abwich von denen der NS-Apologeten wie Carl Schmitt (vgl. Jorges 2010). Jene ordoliberale Tradition hat aber auch die Nachkriegszeit und die Vorstellung von sozialer Marktwirtschaft und Leistung stark geprägt. Zweitens konvergierte die Aktualisierung der nationalen Identität in Deutschland mit dem europäischen Einigungsprozess. Die »Wiedergutwerdung der Deutschen« in der Vergangenheitspolitik findet hier ihren Platz: Neue Geschichtspolitik, das Aufnehmen von Auschwitz als Kern der Identität, als negative Folie, durchdringt auch die Europavorstellung – Europa als das Andere, als Menschenrechtsbastion. Diese Vorstellung ist zutiefst vermittelt mit der Verzeitlichung gesellschaftlicher ProzesseUnter Verzeitlichung ist zu verstehen, dass sich das gesellschaftliche Raum-Zeit-Verhältnis zugunsten der Zeit verschiebt. Der Gedanke geht auf Marx zurück, der davon sprach, dass Beschleunigung in Kommunikation und Handel zu einer »Vernichtung des Raums durch die Zeit« (MEW 42: 430) führt. Die kritische Geographie hat das aufgegriffen und die »time-space-compression« (David Harvey) untersucht. Hieraus ergibt sich nicht ein vollkommen deterritorialisierter Kapitalismus, aber eine neue Raum-Zeit-Konfiguration, deren Kernelement die Verzeitlichung von gesellschaftlichen Prozessen ist., die in sich das Umschlagen in eine autoritäre politische Form tragen, die wiederum sehr an Carl Schmitts Version vom starken Staat erinnert. Kann man in der Vergangenheitspolitik in der Phase bis 2006 eine deutliche Veränderung feststellen, die eben in der genannten Vereinnahmung von Auschwitz in die Geschichte besteht, die gleichzeitig dazu dient den NS und Auschwitz als völlig anderes, als historisch exterritorialisiert zu konstruieren, mithin das Schweigen der Nachkriegszeit völlig transformiert, so hat sich gerade in der Verzeitlichung jedoch ein Moment gehalten, das Schweigen, Verdrängung und Leistung miteinander verknüpfte. Hannah Arendt stellte diesen Zusammenhang als erste fest: die »Geschäftigkeit« sei die »Hauptwaffe bei der Abwehr der Wirklichkeit geworden« (1950: 50f.). Lothar Baier sah in der Flucht vor der Vergangenheit in Arbeit in Verbindung mit der internationalen Konstellation, die verhinderte, dass Deutschland wieder territoriale Expansionspläne umsetzen konnte, den Grund für die Eroberung der Zeit (1990). Der Komplex aus Verzeitlichung und neuer Vergangenheitspolitik verdichtete sich, wenn auch nicht linear, in der Wettbewerbskonstitution der EU. Einerseits, da die Beschleunigung und Verzeitlichung der Mehrwertakkumulation als das Konstituens der EU gesetzt wurde, andererseits da sich damit einhergehend die deutsche Form der Vergangenheitspolitik in gewissen Maße – und auch hier nicht widerspruchslos – europäisierte. Das kann als eine vermittelte Verallgemeinerung zentraler Momente der postnazistischen Konstellation in einer deterritorialisierten Form begriffen werden. Gleichzeitig aber, u.a. da mit der De- auch eine Reterritorialisierung einhergeht und sich Politiken nicht ohne Veränderung verallgemeinern, entsteht eine neue Form, in der allerdings alte Elemente vermittelt rekonfiguiert werden. In diesem Konglomerat setzt sich zudem die Krise als permanente, da die ordo/neoliberale Wettbewerbskonstitution in den Selbstwiderspruch gerät, die politische Form solchermaßen ökonomisch durchdrungen zu haben, dass politisches Eingreifen in die Krise sich extrem erschwert hat, was zu einer zunehmenden Autoritarisierung führte.

 

Politische Krise, die Logik der Identität und regressive Kollektivität

»When there is no more room in hell, the dead will walk the earth« (Peter, Dawn of the Dead)

»Von allen Seiten melden sich Nationen und Natiönchen mit ihren Rechten auf Staatenbildung an. Vermoderte Leichen steigen aus hundertjährigen Gräbern, von neuem Lenzbetrieb erfüllt… - auf dem nationalistischen Blocksberg ist heute Walpurgisnacht.« (Rosa Luxemburg, Dawn of the Dead 1918)

Um meine These zu explizieren: Die Autoritarisierung bedeutet einen zentralen Widerspruch, der sich auf verschiedenen Ebenen auswirkt und der einen Umschlag von ökonomischer in politische Krise bedeutet, was wiederum den europaweit zu betrachtenden neuen völkischen Bewegungen zugrunde liegt. Der zentrale Widerspruch ist der, dass die Wettbewerbskonstitution sich selbst die politischen Regulationsmöglichkeiten nimmt und dass die Widersprüche in den Klassenfraktionen (und, vermittelt, den Ländern der EU) sich nicht mehr prozessierbar machen lassen, so dass der Ausweg in autoritäre Formen jene Widersprüche nur noch mehr verstärkt. Es ist eine Situation, in der – im Sinne Gramscis – das alte nicht stirbt und das neue nicht zur Welt kommen kann (vgl. GH: 354). Hierbei hat sich insbesondere in der Griechenlandkrise gezeigt, dass die neoliberale Ordnung nicht mehr hegemonial ist, sondern sich nur noch dominant und mit Zwang (hauptsächlich durch Deutschland ausgeübt) durchsetzen kann. Dies verknüpft sich mit weiteren Krisenerscheinungen: die historisch spezifische Verknüpfung von Demokratie und Kapitalismus löst sich in der Autoritarisierung langsam auf, in der Hegemoniekrise verliert die EU auch Legitimität, die politischen Institutionen sind so strukturiert, dass subalterne Interessen sowieso nur sehr gefiltert in die Verdichtungsprozesse einfließen, wobei gleichzeitig die politische Herrschaft über die Gesamtheit der gesellschaftlichen Form in eine Krise gerät (vgl. Poulantzas 1973: 72). Das drückt sich aus in einer »tiefen Krise der Parteienvertretung und der tiefen ideologischen Krise« (ebd.: 71), die ebenfalls zu beobachten ist. Indem sich die EU langsam in gewissem Sinne Schmittianisch entwickelt – Entscheidungen werden in Verordnungen jenseits der eigenen Legalität durchgesetzt (vgl. Oberndorfer 2012) – werden die Widersprüche nur weiter verschärft und zunehmend in Kämpfen auf der Straße ausgetragen. In diesen Kämpfen nun reartikuliert sich ein weiteres Moment der postnazistischen Konstellation: die Vorstellung, dass der Staat identisch mit dem Allgemeinwohl wäre, und zwar in der völkischen Vorstellung der Einheit des Volkswillens mit dem Staat. Insbesondere in den neurechten Parteien und Bewegungen kann man dies beobachten. Die sogenannte Flüchtlingskrise, die ja eher eine Rassismuskrise ist, wirkte dabei als Beschleuniger auf verschiedenen Ebenen. Auf der Ebene der Parteien konnte man feststellen, dass die Situation dermaßen instabil ist, dass die Verschärfung des Asylrechts im Asylpaket I kein Kompromiss war, der die Debatte beendete, sondern direkt von den Parteien, die das selbst verabschiedet hatten, umgehend wieder in Frage gestellt wurde. Auf der Ebene der Straße wurde das dann so rezipiert, dass die Parteien nicht mehr das Volk vertreten würden, sondern als Handlanger der EU (und am Ende der USA) eine ›Umvolkung‹ vorbereiten würden. Gerade in der Frage des Umgangs mit den Geflüchteten haben es die neurechten völkischen Bewegungen grundlegend geschafft, die Kämpfe um die Bearbeitung der Krise in eine Logik hineinzuziehen, die ich die Logik der Identität nennen würde. Hier wurde es geschafft, die tatsächlich autoritäre Struktur der EU in die völkisch-nationale und identitäre Formel zu übersetzen, dass die nationalen Gemeinschaften durch die transnationale Struktur der EU angegriffen und zersetzt werden würden. Die »Errungenschaft« dabei ist, dass dies diskursfähig wurde und es damit geschafft wurde, die in politischen Autoritarismus gegossene ökonomische Irrationalität als Widerspruch zwischen ›dem Volk‹ und der ›EU-Diktatur‹ zu setzen, womit eben auch eine emanzipatorische Bearbeitung der Krise unmöglich wird. Insbesondere, dass Teile der organisierten Linken die Auseinandersetzung in dieser Logik führen, bedeutet eine Verschärfung des Regressiven. Das ist deshalb besonders fatal, da in dieser Logik die doppelte Dialektik der Modernisierung im Neoliberalismus nicht mehr entschlüsselt werden kann. Diese besteht darin, in der Durchdringung der Gesellschaft alte Bindungen aufzulösen, von Familienbindungen bis hin zu territorialen Formen, und hierbei durchaus eine emanzipatorische Komponente hat, was sich gleichzeitig in dieser Form aber selbst dementiert und neue Freiheit in autoritärem Zwang auflöst. Darin wiederum sind Angriffe auf die Subalternen enthalten (Reallohnsenkung, Prekarisierung etc.), die, sobald sie in der Logik der Identität bearbeitet werden, genau denen den Boden bereiten, die für eine weitere Verschärfung dieser Angriffe stehen (der AfD und ähnlichen Parteien/Bewegungen). Das antimoderne Moment des Nationalsozialismus ist mit seiner brutalen und gewaltförmigen Modernisierung einhergegangen – eine Verbindung die sich gegenwärtig genau in der Identitätslogik der rechten Bewegungen wiederholt, wenn auch in einer neuen Konstellation. Es kommt dabei zu etwas, das schon Gramsci beobachtet hatte, dass die »alten Intellektuellen und moralischen Führer der Gesellschaft spüren, wie ihnen der Boden unter den Füßen schwindet, sie merken, daß ihre »Predigten eben »Predigten« geworden sind, das heißt realitätsfremde Dinge, bloße Form ohne Inhalt, Maske ohne Geist; von daher ihre Hoffnungslosigkeit und ihre reaktionären und konservativen Tendenzen: weil die besondere Form von Zivilisation, von Kultur, von Moralität, die sie repräsentiert haben, sich zersetzt, rufen sie den Tod aller Zivilisation aus, aller Kultur, aller Moralität, und verlangen repressive Maßnahmen vom Staat oder konstituieren sich als Widerstandsgruppe abseits vom wirklichen historischen Prozeß, derart die Dauer der Krise verlängernd, da der Untergang einer Lebens- und Denkweise nicht ohne Krise vor sich gehen kann« (GH: 870f.). Dieses Phänomen trifft man gegenwärtig in unzähligen konservativen Blogs, deren Texte nur so davon triefen, dass ihre heimelige traditionelle Zivilisation mit klaren Geschlechterrollen, mit starken Nationalstaaten, mit klaren Grenzen, mit klaren Rollen für ›die Fremden‹ usw. in der Krise solchermaßen ins Wanken geraten ist, dass Verbindungen von völkischen und konservativen Ideologemen entstehen, die in aller Regel auf eine gewaltsame Herstellung der halluzinierten Homogenität eines imaginierten Alten hinauslaufen. Hierbei entwickelt sich das identitäre Projekt Europa der neurechten völkischen Bewegungen als vermeintliche Kontrastfolie zur bestehenden EU. Das ›Europa der Vaterländer‹, das völkische Konzept homogener Nationen, in deren politischer Organisation der Volkswille unmittelbar in einem autoritären Staat sich ausdrückt, liegt im Zentrum dessen; außerdem entwickelt sich in dieser völkischen Internationale eine europaweite Zusammenarbeit, die als Wiederkehr des Verdrängten aus der deutsch-europäischen Geschichtspolitik begriffen werden kann: als Traditionslinie der Kollaboration, die damals so etwas wie eine europäische Einheit im Antisemitismus konstituierte. Die EU hat sich zwar selbst als das Andere des Nationalsozialismus begriffen, aber in der spezifischen Form der Erinnerung ist das Fortbestehen dieser untergründigen europäischen Dimension der Vernichtungspolitik beschlossen, die nun wieder auftaucht als rechtes, völkisches Projekt Europa.

 

Und nun? Auswege aus der Logik der Identität

Eine emanzipatorische Linke steht nun vor dem Problem, weder die EU verteidigen, noch in der Logik der Identität kämpfen zu können. Vielmehr muss das rechte Projekt Europa in seiner Verbindung zur EU und zur politischen Krise analysiert und kritisiert werden. Sich in den notwendig zu führenden Kämpfen in die Logik der Identität zu begeben, was sich auf linker Seite vor allem in souveränistischen Konzepten äußert, die eine Dichotomie zwischen globalem Kapital und souveränen Nationen aufmachen (so z.B. Wehr 2016), heißt, sich selbst der Mittel zur Kritik zu berauben und die Entwicklung regressiver Kollektivität zu befeuern. Die gegenwärtigen Niederlagen der Linken haben nicht zuletzt gezeigt, dass der Rückzug in einen nationalen Raum keine Option für eine zukunftsöffnende emanzipatorische Politik ist. Die schwierige Aufgabe besteht darin, neue Wege zu suchen, die zur Negation der autoritären und irrationalen Verhältnisse und der darin enthaltenen Krisenverlängerung durch völkische Gewalt führen könnten. Hierfür wäre aber eine Analyse der Krise der EU jenseits identitätslogischer Vorstellungen der erste Schritt.

 

Daniel Keil

 

*.lit

Abelshauser, Werner (2011): Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von 1945 bis zur Gegenwart. Bonn.

Arendt, Hannah (1950): Besuch in Deutschland. Die Nachwirkungen des Naziregimes, in: ders. (1986): Zur Zeit. Politische Essays. Berlin.

Baier, Lothar (1990): Volk ohne Zeit. Essay über das eilige Vaterland. Berlin.

Brückner, Peter (1978): Versuch, uns und anderen die Bundesrepublik zu erklären. Berlin.

Gramsci, Antonio (1991ff.): Gefängnishefte. Hamburg.

Hoffmann, Jürgen (2009): Politisches Handeln und gesellschaftliche Struktur. Politische Soziologie der europäischen und der deutschen Geschichte. Münster.

Joerges, Christian (2010): Europa nach dem Ordoliberalismus: Eine Philippika, in: Kritische Justiz 4: 394-406.

Luxemburg, Rosa (2000): Fragment über Krieg, nationale Frage und Revolution, in: dies.: Gesammelte Werke Bd.4. Berlin: 366-373.

Marx, Karl (1857): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. In: MEW 42.

Oberndorfer, Lukas (2012): Die Renaissance des autoritären Liberalismus? Carl Schmitt und der deutsche Neoliberalismus vor dem Hintergrund des Eintritts der ›Massen‹ in die europäische Politik. in: Prokla 42 (3): 413-431.

Poulantzas, Nicos (1973): Faschismus und Diktatur. Die Kommunistische Internationale und der Faschismus. München.

Stapelfeldt, Gerhard (1998): Die Europäische Union – Integration und Desintegration. Kritik der ökonomischen Rationalität. 3.Bd. Hamburg.

Wehr, Andreas (2016): No border – No Nation? Die Linken und die Nation, Vortrag von Andreas Wehr im Marx-Engels-Zentrum Berlin am 15.01.2016, in: http://www.andreas-wehr.eu/no-border-no-nation-die-linken-und-die-nation.html.

 

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