Auszug aus »Die Ästhetik des Widerstands«
Im Hungerjahr Neunzehnhundert Siebzehn trennten sich seine Eltern. Der Siebenjährige kam zum Vater, der Tischler war in der Gefängniswerkstatt in Karlstad am Vänern, die beiden Geschwister wurden der kränklichen Mutter zugesprochen. Ein Zimmer mit Herd bewohnte der Vater, in einem der Holzhäuser am Stadtrand. Da die Arbeitszeit des Vaters von morgens um sieben bis abends um sieben dauerte, war der Junge, außer den Stunden, die er in der Volksschule verbrachte, auf sich selbst angewiesen. Ein paar Scheiben trocknen Brots hatte der Vater ihm hingelegt, dran konnte er nagen. Der Speiseschrank war leer, bis auf ein Glas mit eingemachten roten Beeten. Der Vater wird es nicht merken, dachte der Junge, wenn ich mir eine Beete hole. Er rückte den Tisch zum geöffneten Schrank, hob den Stuhl darauf, erreichte das oberste Fach, stellte dann die Ordnung wieder her. Am selben Abend noch entdeckte der Vater den Diebstahl. Ein paar Tropfen des roten Essigsafts waren ausgeronnen. Der Vater schlug auf den Kopf, das Gesäß des Jungen ein. Sein Schreien war in der Nachbarschaft zu hören. Es wurden damals Kommissionen ausgeschickt, den Ernährungszustand der Kinder zu untersuchen. Als man ihn fragte, woher die blutunterlaufnen Stellen an seinem Körper kämen, sagte er, er sei vom Tisch gefallen. Der wahre Grund aber kam an den Tag, das Kind wurde dem Vater weggenommen und bei einem Pastor in die Pflege gegeben. Doch hier, bei dem wohlhabenden Hausherrn, wurden ihm Übergriffe zuteil, die ihn härter trafen als die Hiebe des Vaters. Prügel war er gewohnt, die gehörten zum Normalen. Zur Ungerechtigkeit und Gewalt wurden erst die Bestrafungen des Pfarrers. Einmal hatte der Junge, nach einer Rauferei auf der Straße, ein liegengebliebnes Halstuch an sich genommen und in die Schulmappe gesteckt, um es am nächsten Tag seinem Besitzer zurückzugeben. Der Geistliche, dem das Tuch zu Gesicht gekommen war, glaubte der Erklärung des Jungen nicht. Er nahm ihn zwischen die Knie, klemmte ihn fest. Der Vater war ein Niedriger, die Behörden konnten ihm beikommen. Der Pfaffe war die Obrigkeit selbst. Wenn er sagte, er habe das Tuch gestohlen, so hatte der Junge ihm zuzustimmen. Anfangs wollte er sich noch wehren, wollte sich weigern, ein Bekenntnis abzulegen, die fetten Knie, die ihn umschlossen, aber ekelten ihn, um der demütigenden Lage zu entkommen, gestand er den Diebstahl ein, den er nicht begangen hatte. Geringer noch als sein Vater, Pflegekind, das durch die Gnade andrer lebte, sühnte er noch einmal das Verbrechen seines bloßen Daseins. Als Lügner und Dieb aus dem kirchlichen Heim entlassen, wurde er einer andern Familie zur Zucht übergeben. Ein Unverbesserlicher, ein Getretner war er. Hinauf nach Charlottenberg, Sunne wurde er geschickt, zu Kleinbauern, die billige Hilfe brauchten. Die Stromtäler Värmlands, die Wälder der Finnmarken an der norwegischen Grenze, das mochten Landschaften sein voller Weite, für ihn waren es Gegenden der Knechtschaft. Während der Jahre bei den Häuslern wuchs die Frage in ihm an, was dies sein könne, ein eignes Leben. Sein letzter Ziehvater, in Karlstorp, auf einem Hof mit vier Kühen, einem Pferd, etwas Federvieh, litt an Gürtelrose, wollte sich jedoch nicht ins Lazarett überführen lassen, denn im Lazarett, da stachen sie einen tot mit dem Messer, Kurpfuscher nur zog er hinzu, unter deren Händen er verreckte, stinkend, mit von Blasen und Beulen verunstaltetem Leib. Dem Bauern trauerte er nicht nach, der war ihm nie gewogen gewesen, die Pflegemutter aber behielt er im Gedächtnis, sie, die aus der Familie eines Propstes stammte, Wiedertäuferin war, hatte ihm zuweilen Freundlichkeit zukommen lassen. Auch durfte er die Bücher lesen, die sie in einem Korb auf dem Dachboden verwahrte. Der Graf von Monte Christo, Tristan und Isolde, das waren Titel, hinter denen sich eine fremde Welt öffnete, doch wenn er dran dachte, was ihn als Vierzehnjährigen hinaus zur Arbeit getrieben hatte, so war es kein Träumen gewesen, sondern rohe Not. Vom Leibeignen wurde er zum Tagelöhner, bei den Flößern am Älv. Die Hölzer hatte er zu vermessen, zwei Bandjungen gehörten zur Schicht, der eine hielt das Meßband ans untre Ende des Stamms, der andre hatte zur obern Schnittfläche zu laufen und das Maß auszurufen, das vom Schreiber in die Liste eingetragen wurde, dann rollte das Stück zum Verketten ins Wasser. Noch konnte er die Rufe hören, Dreizehn Fuß, Dreizehn Fuß zwei drei. Zwei Kronen fünfundzwanzig verdiente er am Tag, das war viel für einen, der immer mittellos gewesen war. Er wurde breit, stark, kaufte sich Tabak, Marke Tigerbrand, fünfundsiebzig Öre kostete das Nachtlogis beim Handelsmann. Einen Sommer lang dauerte diese Tätigkeit, dann mußte er sich wieder nach Arbeit umsehn. Ich muß Arbeit, Arbeit haben, das war das Pochen, das ihn ständig verfolgte. Im Wald, beim Holzfällen, schlug er sich ins Bein, krankgeschrieben erhielt er, dank der Versicherung, mehr als beim Dienst. Drei Kronen fünfzig bekam er pro Tag, sechzig Kronen konnte er zurücklegen und sich davon einen Anzug, ein Paar Schuhe kaufen, um in der Stadt einen Broterwerb zu suchen. Dort aber gab es keine Arbeit für ihn, und zurück aufs Land, in den Wald wollte er nicht. Er war zu jung, um sich auf einem Frachter anheuern zu lassen, als Sechzehnjähriger jedoch, hörte er, konnte man sich um die Aufnahme beim Schiffsjungenkorps bewerben, und weil dazu vormundschaftliche Bewilligung benötigt wurde, hatte er seinen Vater noch einmal aufzusuchen. Der weigerte sich, seinen Namen unter das Schreiben zu setzen, der Junge drohte, die Signatur zu fälschen, er, der Werkmeister in der Tischlerei, sei dann verantwortlich für die Schande, wenn ihm der Sohn ins Gefängnis geliefert würde. Eigentlich hätte er mit dem Alten reden, ihm von seinen Erlebnissen erzählen wollen, nach der Trennung von fast einem Jahrzehnt wünschte er, ihm frei und selbständig zu begegnen. Von Familienbanden war nichts mehr vorhanden, hatte es sie überhaupt je gegeben, so konnten sie längst als vergessen angesehn werden. Doch der Vater wollte von nichts andrem wissen als von der Rolle, die er einmal gespielt hatte, wollte brüllen, um sich schlagen, fand sich aber zurückgedrängt vom Sohn, bekam das Papier vorgeschoben, die Feder in die Hand gedrückt, Zorn verspürte der Junge nicht, eher Mitleid. Nicht nur er, auch die beiden andern Kinder waren dem Gefängnisschreiner verlorengegangen, eine zweite Frau hatte er nicht mehr gefunden, die Mutter seiner Kinder lebte seit Jahren umnachtet in einem Asyl. Der Junge stand wartend, sein Verlangen, aus dieser engen, dumpfen Welt herauszukommen, war so stark, daß der Vater nachgeben mußte. Beim Weggehn vermochte der Junge nicht, sich nach ihm umzuwenden. So kam der Sechzehnjährige nach Marstrand, auf das nach dem Hafen benannte Schulschiff. Im Sommer kreuzte der Dreimaster im Kattegat und Skagerak, im Winter wurde die Batterie in Ordnung gehalten. Ausgebildet zum Artillerieschlosser, Waffenschmied, kam er nach zweieinhalb Jahren zur Stockholmer Marinestation. Neben dem Drill versuchte er, per Korrespondenz, für zehn Kronen im Monat, sich auf das Abitur vorzubereiten, mit Neunzehn aber, zum Korporal befördert, wurde er entlassen, weil man in seinem Spind kommunistische Flugblätter gefunden hatte. Dies war zu der Zeit, als die Arbeitslosigkeit anstieg im Land, als auch Schweden in die ökonomische Krise geriet und der tiefe Riß in der Gesellschaft zutage trat, den die Sozialdemokratische Partei und die Bürgerlichen bisher zu verbergen getrachtet hatten und zu dessen Übertünchung bald wieder angetreten wurde. Er brauchte sich, Neunzehnhundert Dreißig, nicht zu fragen, wie er zum Kommunisten geworden war, eine einzige Folgerichtigkeit hatte ihn in die Partei geführt, eine unaufhörliche Erfahrung des Gegensatzes zwischen Starken und Schwachen, Machthabern und Ausgebeuteten, ein unartikulierter Trieb zuerst, dann ein bewußter Wille, sich gegen das Unrecht zur Wehr zu setzen. Bei den Umgruppierungen des Finanzkapitals wurde auf den Weltmärkten jener Zustand hervorgerufen, den man Depression nannte, niedergedrückt wurden vor allem die bereits Entmachteten. Die Schaffung von Armeen untätiger Arbeitskräfte war dazu angetan, Mutlosigkeit und Demoralisierung im Proletariat zu verbreiten. Wer bei den Produktionsausfällen jetzt noch, auf seine Rechte hinweisend, zu streiken wagte, hatte sofortige, gewaltsame Gegenmaßnahmen zu gewärtigen. Die Zusammenstöße der Arbeiter mit den Streikbrechern, der Polizei, dem Militär kulminierten im Ådalen, und von den Schüssen in den Demonstrationszug führte eine direkte Linie zur verschärften Verfolgung der Kommunisten und zum engern Anschluß der Gewerkschaftsleitung an das Unternehmertum, vertraglich unterzeichnet in Saltsjöbaden, im Dezember Achtunddreißig. Der aus der Königlichen Marine Ausgestoßne fand zu Land, bei einer Arbeitslosigkeit von dreißig Prozent, keine Anstellung mehr. Bis zum Ausbruch des Volkskriegs in Spanien fuhr er, illegal angeheuert, als Leichtmatrose und Maschinist zur See, sah Häfen, die einander gleich waren, las Bücher, aus denen er immer wieder Neues lernte, begann auch selbst, Geschichten, Briefe zu schreiben, gerichtet an solche, deren Namen er nicht kannte, und die überall lebten, und das Schreiben war ebenso selbstverständlich wie das Handwerk an Bord, nicht irgendeinem Verlangen entsprechend, sondern einer Notwendigkeit. Als ich den ruhigen, nachdenklichen Gefährten bei unsern Gesprächen in Cueva la Potita einmal fragte, was ihn, den Bauernjungen aus värmländischen Einödedörfern, aufs Meer verschlagen und zum Internationalisten gemacht habe, so konnte er, mit einem Achselzucken und Lächeln, antworten, es sei wahrscheinlich die Kraft des historischen Materialismus gewesen. Wenn er, der auf langen Seereisen ein wenig Deutsch und Englisch erlernt hatte, mir damals, im Herbst vor der Schlacht um Teruel, von seiner Kindheit berichtete, so vergegenwärtigte er dabei nicht nur mir, sondern auch sich selbst, etwas von einer Welt, die von mittelalterlich anmutender Verdammnis geprägt schien. Die zwanzig Jahre, die seitdem vergangen sind, sagte er, können mir lang erscheinen, weil ich mich selbst von Grund auf geändert habe, doch die Lebensverhältnisse sind in vielem fast noch die gleichen, immer noch sind dort Menschen zu finden, die wie in Urzeiten hausen, die von Unwissenheit und Aberglauben beherrscht werden. Ich erinnerte mich jetzt, da ich Rogeby im Café neben dem Piperschen Gartenhaus gegenübersaß, wie er dem Sterben des Bauern beigewohnt hatte, der sich nicht zum Arzt wagte, sondern es vorzog, sich mit den von einer Hexe zusammengebrauten Salben behandeln zu lassen, die Stube sah ich vor mir, in der die Mutter mit den drei Kindern im Bett lag, und der Vater, angekleidet, eine Jacke zusammengerollt unterm Kopf, auf dem Fußboden daneben, das Zimmer dann, in dem er mit dem Vater lebte, das Zimmer mit dem offnen Herd, der dick gemauerten Esse, dem Reisighaufen, auch hier schliefen sie in den Kleidern, die säuerlich rochen, der Vater lag auf der Küchenbank, der Junge im herausgezognen Kasten, im engen Sarg. Wie er mir den gelblich braun gebeizten Tisch, die groben Bodenplanken, den Hof draußen, mit dem Abtritt, der im Winter oft eingefrornen Pumpe beschrieb, so konnte er auch die Stube schildern, in der sein Ziehherr sich über ihn hermachte. Auf hohem geschnitztem Stuhl saß der Pfarrer, das Pendel der Standuhr fuhr hin und her, eine gestickte weiße Decke lag auf dem Tisch, das Sonnenlicht fiel durch den Spalt der gebauschten Tüllgardinen ein, und an der Wand ließ Jesus die Kindlein zu sich kommen. Sein Verständnis und Mitgefühl für den Vater, den die Enge und Armut verbittert hatte, und für die Mutter, die zerbrochen worden war vom Elend, war ebenso stark wie die Empörung, die er den Machthabern entgegenbrachte.
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Weiss, Peter (1978): Die Ästhetik des Widerstands. Zweiter Band. Suhrkamp, Frankfurt am Main: 95-99.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages.