In den letzten Jahren machte die niederländische Privatstiftung Mars One von sich reden, mit nicht weniger als der zeitnahen Besiedlung des Mars. Weltweit sollten mutige EntdeckerInnen rekrutiert werden (und entsprechend der Werbebotschaft der Mission: »We are all explorers.«), deren körperliche Gesundheit und ein englisches Sprachniveau von A2 ausreichen würden um den nächsten großen Schritt der Menschheitsgeschichte anzugehen. Nach eigenen Angaben sind etwa 200.000 Bewerbungen eingegangen. Sicherlich handelt es sich dabei um PR-Kommunikation, die Frage bleibt aber bestehen, was einen Menschen dazu bewegt, die Gesamtheit und sogar Möglichkeit seiner bedeutungsvollen Existenz hinter sich zu lassen, seine Familie und Freunde, seinen Lebensraum und alles was ihm hätte wichtig sein können zu verabschieden und einen one-way trip zu einem menschenfeindlichen Wüstenplaneten anzutreten, der weder Atemluft noch sonstige Lebensgrundlage bietet, kalt, karg, düster, um dort in einer Art rudimentären Sklavenkolonie den Rest seines Daseins zu fristen. Die sehr grundlegende Antwort lautet: Entfremdung.

In den Vorbemerkungen zu Hannah Arendts Studie über die Bedeutung des Menschseins findet sich ein Hinweis auf diese »neuzeitliche Weltentfremdung«, sie bestehe in »der Flucht von der Erde in das Universum und der Flucht aus der Welt in das Selbstbewußtsein« (Arendt 2002: 15). Es sind faktisch die zwei Seiten derselben Medaille: Die Abkehr von der Welt in der Zuwendung zur Tiefe der eigenen Persönlichkeit (von der romantisierten Selbstfindung bis zur Selbstverwaltung im Neoliberalismus) ist gewissermaßen die Grundlage dafür, die Welt auch materiell verlassen zu können. Jenes Individuum – man erinnere sich, es galt mal als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse –, welches in sich nichts weiter finden kann als die Weltlosigkeit, träumt sich in der Leere des Alls eine neue Verbundenheit zur eigenen Spezies zurecht, beispielsweise als selbstlose PionierIn im Dienste der Menschheit. Hier zeigt sich ein idealistischer Kurzschluss, in dem das vollkommen auf sich selbst zurückgeworfene Individuum über sich selbst zur Menschheit zurückfindet. Die konkret nicht mehr zu erfahrende Möglichkeit der menschlichen Solidargemeinschaft kehrt in Form der abstrakten Mystifikation einer Menschheit zurück und versorgt das erbärmliche Einzelsubjekt mit der Ersatzbefriedigung für den Verlust seiner Welt: Heldentum, Märtyrertum, Opfer und Resilienz. Passenderweise bedient es damit jene selbsterfüllende Prophezeiung, die zuallererst die Grundlage der Weltfremdheit bildete. Es findet sich hier die basalste Formel der Ideologie wieder: Der Frieden mit dem, was ist, das gut ist, weil es ist. Amen.

Nur das weltlose Individuum kann man auch genauso gut auf den Mars schießen, wenn es das nicht sogar schon von alleine begehrt. Das ist nicht bloße Todessehnsucht, sondern im Gegenteil gerade der Wunsch, der eigenen Entfremdung entkommen zu können, den man paradoxerweise auf die ständige Reproduktion selbiger Grundbedingung münzt. Die Illustration jenes Mechanismus findet sich in zwei der jüngsten Meilensteine des Blockbusterkinos, namentlich Ridley Scotts Spacedrama Der Marsianer. Rettet Mark Watney (2015) und Christopher Nolans galaktisches Epos Interstellar (2014). Auf ähnliche Weise begegnet uns darin das Porträt jenes raum- und zeitlosen Individuums, das gerade in dieser Weltlosigkeit der Entfremdung zur Transzendenz der Menschlichkeit gelangt. In genau diesem idealistischen Zirkelschluss sind sie ideologische Narrative, die nicht etwa eine kritische Distanz zu jenem Zustand anbieten, sondern die Versöhnung des Individuums mit seinem Leiden, auf transzendentalem Niveau. Die Distanz muss man sich folglich selbst erarbeiten, indem man die Evidenz des Gezeigten in den Begriffen der Ideologie kritisiert. Das heldenhafte Ideal wird darin zur Wiederholung dessen, wofür man überhaupt erst heldenhaft (sprich opferbereit) sein müsste.

 

Entfremdet... and proud of it

Als Weltraumfilm liegt eine transzendentale Qualität bereits im Genre: Komplexe Sozialgefüge und reale Lebens- und Reproduktionsbedingungen haben im Spaceshuttle keinen Platz, stattdessen schaut man in regelmäßigen Abständen auf den blauen Planeten in Murmelgröße, verkitscht das Gefühl totaler Einsamkeit zu einem erhabenen Erlebnis und sinniert über seine eigene Menschlichkeit, die sich gefühlt erst unter der Laborbedingung der Isolation sezieren ließe. Vor dem Hintergrund jener Transzendenz ist es auch wenig verwunderlich, dass die eigentliche Geschichte des Marsianers schnell erzählt ist: Unerwartet schwere Turbulenzen während einer Marsmission führen zur sofortigen Evakuierung des Planeten, wobei Mark Watney (Matt Damon) vermeintlich tot zurückbleibt. Als klar wird, dass dieser jedoch überlebt hat, bildet sich eine globale Allianz zur Ermöglichung seiner Rettung, während Watney in bester McGywer-Manier allein das Leben auf dem Mars improvisiert. Die Spielfilmlänge von knapp zweieinhalb Stunden wird folglich mit etwas anderem als konkreter Handlung gefüllt werden müssen, und neben Selbstgesprächen (Watney redet mit sich selbst, die NASA redet mit sich selbst über sich selbst etc.) ist es hauptsächlich die Inszenierung des entfremdeten Individuums als Ideal.

Die Eindringlichkeit dieser Disposition wird nicht zuletzt daran deutlich, dass es den Film hindurch wenig von Qualität über dieses Individuum zu erfahren gibt. Mark Watney ist Botaniker, Wissenschaftler, Astronaut, überzeugend willensstark, erfindungsreich und entbehrungsresistent. Und er ist allein. Wir erfahren nichts über etwaige Sozialbeziehungen, die er zu vermissen scheint (stattdessen schaut er sich manchmal befremdet die Familienfotos der anderen Astronauten an), überhaupt bleibt man darüber im Unklaren ob Watney etwas vermisst, ob er Angst hat, verzweifelt ist. Stattdessen beschränkt sich die emotionale Palette auf hier und da mal Ekel vor dem eigenen Kot, den man zum Kartoffelzüchten braucht, einen Wutanfall über das gescheiterte Projekt, ansonsten aber nur jede Menge Coolness und die Entschlossenheit to »science the shit out of this«.

Was Watney allerdings verspürt ist das Bedürfnis, seiner Isolation eine Form der Kommunikation entgegenzusetzen, das sich vermutlich nicht in der pragmatischen Notwendigkeit erschöpft, ein Hilfesignal zur Rettung absetzen zu müssen. Zurecht stellt Watney enttäuscht fest, dass sich mit der anfänglichen Möglichkeit, zeitverzögerte Bilder über eine in den 1970er Jahren gestrandete Marssonde zu versenden, keine komplexe Kommunikation aufbauen lässt. Ein paar Szenen und Experimente mit dem Hexadezimalsystem später kann man sich schließlich in Echtzeit Nachrichten schreiben. Wäre dies nun die Chance gewesen, mit der verlorengeglaubten Welt in jenen Kontakt zu treten, der emotionaler Tiefe annähernd gerecht werden könnte, beschränkt sich Watney auf trockene Witze, ein paar Buddysprüche mit seiner alten Crew und kurze Nachfragen zur Sachlage. Es könnte auch irritieren, wie einem diese Situation – verlassen geglaubt auf dem Mars und nun endlich in Kontakt mit der Heimat – nicht mehr als einen Whatsapp-Chat abnötigt. Nicht mal ein weinendes Emoticon.

Das Fehlen emotionaler Tiefe ist dabei symptomatisch, sie bildet erst die Grundlage für die mystische Aufladung des Einzelschicksals, welches nicht weniger als eine Stellvertretung für die Gattung Mensch per se abgeben soll. Die dafür nötige Formel lautet Äquivalenz, sprich die Entleerung von jeder konkreten Qualität in der Abstraktion. Watneys Entfremdung ist nicht nur die Isolation, die ihm auf dem Mars passiert. Er ist vielmehr das reale Bild eines Menschen, dessen Voraussetzung dafür, mehrere hundert Tage alleine auf dem Mars zu verbringen, bereits Entfremdung ist, und deren Resultat das Immergleiche bleiben muss. Erst in diesem Zustand erreicht dieses erbarmungswürdige Individuum den Rang eines Quasi-Heiligen. Wenn Watney dann für sein kleines Feuerchen, das ihm Wasser aus den vorhandenen Chemikalien brennen soll, das gefundene Kruzifix abspant und entschuldigend zu Jesus selbst spricht, gerade er hätte sicherlich Verständnis für seine Situation, ist die Überidentifikation mit dem Messias plastisch inszeniert. Und tatsächlich, schon wenige Filmzeit später steht für die gesamte Weltöffentlichkeit fest, dass sich am totgeglaubten Astronauten Watney das Schicksal der Welt entscheiden müsse.

Watney selbst nimmt immer wieder Bezug auf diese seine Heldenrolle: In einer der seltenen Selbstreflexionen hält er fest, wie besonders es sei, dass jeder seiner Schritte auf dem roten Planeten, der erste seiner Art sei; wie ihn das Bepflanzen des Planeten in klassischer Lockescher Manier zu dessen Eroberer macht; und nicht zuletzt, wie sein eigenes Überleben, für das er Übermenschliches verrichtet, über seine bloße Existenz hinausweist. Nur einmal bricht sich die Kontinuität seiner Selbstwahrnehmung, wenn ihm scheinbar klar wird, wie weit er nicht nur von der Erde, sondern von seiner eigenen Gattung und ihrer Welt entfernt ist. Ist die Marsoberfläche rechtlich vergleichbar mit internationalen Gewässern – kein konkretes Hoheitsgebiet –, macht ihn das faktisch zu einem Spacepirat, der sich auch zugleich den passenden Bart zulegt. Außer dass in der NASA-Zentrale mal die lakonische Bemerkung fällt, Watney möchte ab jetzt Captain Longbeard genannt werden, trägt diese Dissoziation der Persönlichkeit wenige Konsequenzen. Sie dient nur der Hintergrundfolie des kathartischen Moments, wenn Watney kurz vor seiner Rettung und als letzte Tat auf dem Mars zum Rasierer greift und damit nicht nur die vermeintliche Reintegration zur Spezies, sondern die Erfüllung seiner Prophezeiung vollzieht.

Denn natürlich ist die Rettung der entscheidende Moment der gesamten Erzählung. Sie ist die verkehrte jenseitige Belohnung für Watneys (außer)irdisches Leid – quasi Christi Himmelfahrt rückwärts –, der Ritterschlag des Helden und most importantly die absolute Versicherung, dass der lange Weg durch die Eiswüste der radikalen Entfremdung von der tiefen Verbundenheit zur Menschheit gedeckt ist, die Entfremdung selbst also enden könnte. Watney ist nicht nur ein Mensch, den man für seine Einzigartigkeit lieben und achten sollte (in diesem Falle eher für seine absolute Mittelmäßigkeit), er ist zugleich die Menschheit, inkarniert in der heiligen Kuh des Individuums. Indem er sich selbst rettet, rettet er uns alle und umgekehrt, indem man ihn rettet, rettet man immer auch sich selbst. Kein Wunder also, dass seine Rettung so gut wie nicht zur Disposition steht: keine Kosten und Mühen werden gescheut und zwischenzeitlich hat man das Gefühl, die ArbeiterInnen bei der NASA müssen nicht einmal mehr schlafen, so sehr erfüllt sie ihre Mission. Als dann klar wird, dass die einzige Möglichkeit darin besteht, die Rückkehrercrew, welche gerade erst ihre Evakuierung verkraftet hat, auf eine verdoppelt lange Rettungsmission zurückzuschicken, ist das nicht nur ein ironic twist. Mit dieser Aussicht in der Lagebesprechung konfrontiert, bei der schonungslos die real möglichen und tödlichen Konsequenzen besprochen werden, herrscht nur ein kurzes Schweigen bis zum kollektiven »count me in«. All die Sehnsucht nach Heimkehr verschwindet hinter der Pflichterfüllung. Mit bloßer Kollegialität lässt sich diese Eineindeutigkeit nicht erklären, ihr liegt vielmehr die stille Einsicht zugrunde, dass die eigentliche Versöhnung nicht in der Heimkehr in jene entfremdete Welt liegt, die einem zuallererst die Grundlage für die Weltraumreise legte, sondern in Watneys Rettung. Die transzendentale Qualität dieses Unterfangens wird mit der nötigen Dramatik unterstrichen, dass die Entscheidung dafür noch als Meuterei gegen die NASA inszeniert werden muss, in Differenz zu den vermeintlich unmenschlichen Motiven steht damit die pure Menschlichkeit.

Dies sollte aber in keinem Fall darüber hinwegtäuschen, dass die dargestellten Interessen der NASA im Kontrast zu den mutig selbstlosen AstronautInnen in letzter Konsequenz deckungsgleich sind. Es ist die vielleicht aufschlussreichste, weil wahrste, Szene des Films, in der das erste Mal die Frage nach Watneys Rettung verhandelt wird, die dies in aller Deutlichkeit aufzeigt. In dem internen NASA-Meeting, nachdem man von Watneys Überleben erfahren hatte, sieht man die eigentliche Bedeutung seiner Inkarnation des Schicksals durchscheinen: »Imagine that shitstorm that is going to hit us« ist das Szenario, würde man Watney nicht retten, denn ein toter Astronaut auf dem Mars würde die öffentliche Finanzierung der offensichtlich fragwürdigen NASA-Operationen versiegen lassen. Und, das ist allen Beteiligten sofort klar: die Mission muss weitergehen. Die Wahrheit hinter der Rettung ist der Fortbestand des Unternehmens NASA, das Menschenleben ein Mittel zum Zweck, der Zweck deswegen aber nicht minder heilig.

Aber was genau war noch einmal der Sinn und Zweck der hier vorgelegten Marsmissionen? Es gibt ihn nicht, er ist so leer wie universal. Wir sehen riesige Kommandozentralen gefüllt mit vollbeschäftigt Tätigen, internationale Konglomerate zur Bewältigung der vielen missglückten Raketenstarts, Menschenmassen, die gebannt am Time Square Liveschalten ins All verfolgen, aber was wir nicht erfahren ist der Bedeutungsgehalt, der all diese Menschen miteinander an das Projekt Marsmission bindet. Dieser wird aber nicht einfach verheimlicht, sondern es ist die bloße Wahrheit, dass es bei der Fortführung um nicht mehr geht, als die banale Reproduktion des Systems, deren ideologischer Kitt die abstrakte Anrufung des Menschen als Menschheit darstellt. Die Auflösung des Dramas kann daher auch nichts anderes sein als die affirmative Reintegration Watneys in genau jenes System, das ihn hervorgebracht hat und zu dessen Weiterführung er der ultimative Garant war. Zurück auf der Erde gibt es nur noch eine Szene, in der sich aller Gehalt des entfremdeten Subjekts zeigt: Zurück bei der Arbeit, wenn Watney die tapferen Rekruten der Zukunft darüber aufklärt, was es bedeutet, als Mensch auf dem Mars zu sein. Amen.

 

Der heldenhafte Frieden mit der Entfremdung

Findet sich also beim Marsianer die komplette ideologische Spirale in ihrem Effekt – dem Subjekt – dargestellt, liefert Christopher Nolan quasi die Genese jener funktionalen Subjektivität als pathetisches Heldenepos. Interstellar beginnt daher auf der Erde, in einem globalen Bedrohungsszenario von Naturkatastrophen, failed states und Nahrungsmittelknappheit inmitten dessen sich der ehemalige Astronaut Cooper (Matthew McConaughey) als Farmer und Familienvater verdingt. Frustriert in der verdrängten Selbsterfüllung wird er kurzerhand von einer vermeintlich höheren Spezies über rätselhafte Gravitationsspuren zum Retter der Menschheit auserwählt, ihr mit dem letzten NASA-Shuttle eine neue Heimat zu suchen. Obwohl Coopers Psychogramm eindeutig komplexer und von nolantypischen Plottwists untermauert ist, bleibt die fundamentale Disposition doch eindeutig: die reale Entfremdung auf der Erde (»Früher waren wir Pioniere, jetzt sind wir Sachverwalter«) führt zur Identifikation mit mystischer Abstraktion (»weil ich das Gefühl habe, dafür geboren zu sein ins All zu fliegen«) und schließlich der messianischen Überidentifikation (Rettung der Menschheit, »die auf der Erde geboren wurde, aber nicht hier sterben muss«).

In Coopers Reise durch das Weltall wird gewissermaßen jener Frieden mit der Entfremdung erst durchexerziert, welcher für Watney bereits Existenzbedingung war. In diesem Sinne ist Cooper wesentlich ambivalenter. Denn einerseits ist er der einsame Held, der von Vorsehung seinem Schicksal zugeführt wird, andererseits kann er dies nur annehmen, indem er es mit der konkreten Rettung jener Menschen verbindet, die er liebt. Dass sein Opfer Teil von bedeutungsvollen Sozialbeziehungen sein muss, ist entsprechend die erste Verhandlungsgrundlage für die Mission, als er das geheime NASA-Labor findet, in dem Professor Brand (Michael Caine) an der Erkundung neuer bewohnbarer Planeten hinter einem Wurmloch forscht. Jene Ambivalenz bricht sich in der Verabschiedung von seiner geliebten Tochter Murphy (Mackenzie Foy/Jessica Chastein) Bahn, der er als Vater eigentlich der ‚Geist der Zukunft seines Kindes‘ sein sollte und ihr verzweifelt klarzumachen versucht, »ich kann jetzt nicht dein Geist sein, ich muss existieren«. Coopers tatsächliche Mission wird daher die vollendete Entledigung dieser Bindung an die Welt sein, die im Widerspruch zu seiner Rolle als Auserwählter steht.

Jene ‚Existenz‘, zu der Cooper sich berufen fühlt, bedeutet im Klartext einen lebensbedrohlichen Weltraumflug in eine andere Galaxie, um die vor mehreren Jahrzehnten entsandte Lazarus-Mission zu vollenden, an deren Ende ein neues Zuhause für die Menschheit stehen soll. Was dies für ein Ringen mit der eigenen Entfremdung darstellt, wird spätestens klar, wenn Cooper sich die Videobotschaften seiner Familie anschaut, nachdem die Erkundung des ersten möglichen Planeten und dessen gravitationsbedingte Zeitdilatation ihn, statt ein paar Stunden, 23,5 Jahre gekostet hat: Unter heftigen Weinkrämpfen geschüttelt ziehen diese Jahre auf einem Röhrenmonitor an ihm vorbei, unfähig, daran auch nur den geringsten Anteil zu nehmen, generell vollkommen unabhängig von ihm. Als Ersatz für diesen Weltverlust hat Cooper lediglich die Interaktion mit seinen Mitreisenden, die sich ausschließlich in Metasprache zu unterhalten scheinen, und natürlich das Narrativ der Weltrettung, für die er dieses Opfer bringen muss.

Ständig jedoch wird dieses Motiv in Frage gestellt, indem daran gezweifelt wird, ob Cooper wirklich die abstrakte Menschheit oder doch nur seine Familie retten will. Konkret bedeutet dies die Wahl zwischen den beiden Rettungsplänen, die Professor Brand der Mission zugrunde legte: Plan A sieht die Evakuierung der derzeitigen Weltbevölkerung auf den neuen Planeten vor, Plan B die Züchtung einer neuen Menschenkolonie aus tiefgefrorenen Eizellen. Es wird schließlich klar, dass, obwohl Cooper nur auf der Grundlage von Plan A seine Mission angetreten hatte, dies niemals eine gewollte Option war. Es ging von Vornherein um das abstrakte Fortbestehen der Menschheit, zu dem sich Cooper bekennen muss. Es ist gewissermaßen die Reifeprüfung des Helden, sprich seiner affirmativen Beziehung zur Entfremdung. Den Showdown dafür liefert die Begegnung mit Dr. Mann (Matt Damon, wieder in der Rolle des gestrandeten Astronauten) auf dessen Untersuchungsplaneten. Obwohl der Leiter der Lazarus-Mission Cooper und Co zunächst in ihrer neuen »Heimat« willkommen heisst, war dies nur die Finte, um in der Verschollenheit eine weitere Mission anzulocken, mit der Mann den trostlosen und unbewohnbaren Planeten wieder verlassen kann. Im Mordversuch an Cooper, um das Shuttle zu kapern, offenbart er diese Motivation: »Es ist die Sehnsucht nach anderen Menschen, die uns zu Menschen macht« und die ihn zu solcher Verzweiflungstat bringt. Während Mann also an seiner Entfremdung zugrunde geht, ist selbige der Moment für Cooper um über sich hinauszugehen, sein Schicksal vollkommen anzunehmen. In diesem Moment erwächst in ihm der Entschluss, dass er es sein wird, der durch das schwarze Loch Gargantua fliegen muss.

Und damit erreicht der Film seinen Höhepunkt an Transzendenz, an dem, wie es sich für Nolan-Filme gehört, alles auf einem höheren Niveau zusammengeführt werden muss. Durch Raum und Zeit gespült findet sich Cooper in einem überdimensionalen Tesserakt wieder, dem die Zeit als vierte Dimension dient und von dem aus er zurückkehrt an jene Momente, als er die Gravitationsspuren zur Berufung seiner Mission auffand. In genau diesem überwältigenden Erkenntnismoment findet der Held ultimativ zu sich und darin gewissermaßen über sich hinaus: Es waren keine höheren Wesen, die ihn auserwählten, das Wurmloch platzierten etc. Er selbst war es und es liegt nun an ihm, die Geschicke der Welt final zu lenken. Dafür musste er nicht nur ins All fliegen, er musste wortwörtlich diese Galaxie verlassen, in die absolute Abstraktion, in der er paradoxerweise wieder seiner zurückgelassenen Tochter nahe ist, die er quasi nie wirklich verlassen hatte (das die harte Realität natürlich anders aussah und wir immer wieder die enttäuschte und traumatisierte Murphy gesehen haben, findet auf dieser Ebene der Mystifikation keinen Platz). Schließlich ist die ideelle Verbundenheit in dieser Erleuchtung so stark, dass Cooper der Notwendigkeit einer materiellen Aktualisierung entledigt wurde. Zurück auf der Erde trifft er seine uralte Tochter wieder, die ihn entlässt, er darf jetzt gehen. Und wohin wird er gehen? Zurück an die Arbeit. Wieder: Gehst du nur lang genug durch diese Wüste, steht am Ende das, dessen Verlust dich erst in die Wüste geschickt hat. Das System ist wieder geschlossen. Alles ist gut. Amen.

 

Die Wiederholung des Immergleichen

Es ist damit eine tief eingegrabene ideologische Grundstruktur, die uns über diese zeitgenössischen Heldenerzählungen wieder begegnet: Die Reproduktion dessen was ist, so wie es ist. Dabei ist diese reproduzierte Entfremdung ja gerade nicht die Verzerrung eines Ursprünglichen, sondern der Verlust der Fähigkeit, die Welt als eine gemeinsam praktisch zu verändernde wahrzunehmen. Die Ohnmacht gegenüber den verdinglichten Verhältnissen wird uns schmackhaft gemacht, indem sie als die Voraussetzung erscheint, aus ihr entkommen zu können, wenn auch erst in der abstrakten Dunkelheit des Universums. Der Held, der die Entfremdung auf diese Weise bis ins Letzte mit sich versöhnt, gelangt zu der Mystifikation, die Allgemeinheit der Menschheit zu bedeuten. Real aber ist er nur der Garant des Fortbestehens dessen, dem er entkommen wollte. Dabei ist es sicherlich kein Zufall, dass es weiße, männliche Figuren sind, die hier den Helden und Messias verkörpern, so als hätte man sie auch durch Keanu Reeves besetzen können (der immer nur Jesusadaptionen gespielt hat).

War die Faszination für Science Fiction, inspiriert von der realen Möglichkeit, den Planeten ins Unbestimmte verlassen zu können, der Reiz, eine andere Welt vorstellbar machen zu können, ist sie hier der absolute Garant des Bestehenden. Jene entfremdete Situation, die eine reale moderne Erfahrung ist, spielt darin die doppelte Rolle, dem atomatisierten Individuum zugleich Ursprung seiner seelischen Armut und Ergebnis seiner transzendentalen Bemühung zu deren Überwindung zu sein. Nicht umsonst ist Ideologie jener Zirkelschluss, der in der galaktischen Variante darauf hinausläuft, den Ausweg aus individuell empfundenem Verlust der Teilhabe an einer bedeutungsvollen Welt in der Abreise in die vollkommene Abstraktion zu suchen, die einem bestenfalls die emotionslose Reintegration in die Verwertung oder schlimmstenfalls den Größenwahn eines von Nolan beschworenen Messias beschert. Beides sind die komplementären Seiten des gleichen Subjekts, dem absoluten Individuum.

 

Alex Struwe

 

*.lit

Arendt, Hannah (2002): Vita Activa. Oder Vom tätigen Leben. München.