Vielleicht kann es ewig so weitergehen. Eingeschrieben bleiben, nebenher was Kleines arbeiten, solange das Geld irgendwie reicht. Und dann einfach irgendwann in Rente gehen – Moment, die bekommt man dann gar nicht, oder? Jedenfalls: Vielleicht liegt der Gedanke, dass das Studium irgendwann einmal aufhört, für dich noch in weiter Ferne. Das ist schön. Genieß es.

Vielleicht schaust du aber auch auf ein fast fertig gefülltes Credit Point Konto und bald bleibt nur noch die Abschlussarbeit, egal ob es bis hierhin 3 oder 13 Jahre gedauert hat. Wenn du schon mittendrin steckst, Glückwunsch! Dann kommt die Krise passenderweise zusammen mit dem Druck der Abgabe. Polykrisen sind gerade total im Trend.

»Was für Krisen?«, fragst du, die neue diskus zitternd in den Händen haltend. Die Hände, mit denen du doch erst vor kurzem noch dein Abitur absolviert hast. Eigentlich kennst du die Krise schon von damals, nur ging sie in der jugendlichen Allgemeinaufregung unter, im Sommer nach den letzten Klausuren und zwischen all den ersten Malen (Liebe, Hass, Konsum). Sie ließ sich ganz leicht durch den Beginn eines Studiums vergessen, dank wöchentlicher Barabende und neuen Freundschaften.

Mit den Worten deiner Eltern oder Lehrer heißt die Krise: »Was soll aus dir werden?« Mit denen von Lenin: »Was tun?«

Die Rede ist von keiner geringeren Frage als der nach dem eigenen Lebensweg. Was passiert nach dem Studium? Besonders dann, wenn selbiges auf dem sumpfigen Gebiet der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften lag und man die zögerliche Frage »...auf Lehramt?« immer siegesbewusst mit »Nö.« beantwortet hat. Too cool for school.

Manchmal scheint es wie eine Wahl zwischen »irgendwas machen mit dem man Geld verdienen kann« oder »was Sinnvolles tun« und als müsste man sich nur durchringen, dem eigenen Gewissen zu folgen oder es zu besiegen. Querbeet bewerben und Glück haben ist dann angesagt und oft genug wird das vermutlich auch klappen. Dann steht erstmal das nächste Abenteuer an, als »Community Manager_in, Teilzeit (remote)« in irgendeinem Greenwashing-Unternehmen.

Aber spätestens, wenn man keine neuen Stellenanzeigen findet oder von der Flut derer überwältigt ist, für die man nicht qualifiziert ist, verspürt man vielleicht zum ersten Mal Existenzängste. Zweifel, die man in einem Studium aus ideellen Gründen stets beiseitegeschoben hat, dass man wirklich keinen einzigen hard skill hat, auf dem man aufbauen kann. Das kommt vor, und zwar gar nicht so selten, wenn man mehrere Jahre lang nebenbei für 510 € im Monat einem renommierten Lehrstuhl die Seminarliteratur illegal im Internet beschafft. Gestern noch über die Durchrationalisierung der Hochschule mitsamt seinem Career Center geschimpft und heute darüber, dass selbiges einen nicht fit genug für den Arbeitsmarkt macht.

Eins ist klar: Freiwillig zurück zu den Eltern oder in die Provinz geht es nicht, egal wie viel Wohnraum da schlummert. Soweit kommt‘s noch! Am besten gleich zusammen mit Oma, in das freie Zimmer, weil die so einsam ist, seitdem... Stopp. Kommt, wie gesagt, nicht in Frage.

Doch sind auch für diejenigen, die dort kein Elternhaus stehen haben, Detmold, Duisburg oder Chemnitz selten eine Option, Kulturhauptstadt hin oder her. Selbst wenn der Quadratmeter in diesen Nestern 5 € kostet und sich die lokale Antifa noch so sehr über tatkräftige Unterstützung freuen würde. Es ist nämlich vielleicht nicht (nur) die finanzielle Art von Existenzangst, die uns plagt, sondern auch die um den Verlust der eigenen Identität. Als Studentin. Als Linke. Als jemand, die frei ist. Die den eigenen Interessen folgend jeden Tag freiwillig aufs Neue zu dem Natursteinhaus-Ensemble mit dem großen Garten im Frankfurter Westend radelt, dort alle ihre Freunde trifft und gemeinsam vergünstigt zum Mittag isst (bibben und mensen).

Wenn man erstmal richtig in die Routine des Studierens gefunden hat, vergisst man leicht, dass man sich nie ernsthaft mit dem Gedanken auseinandersetzt, wofür man sich da eigentlich qualifiziert. Und was es bedeuten würde, einen ganz normalen Job zu haben. Wusstest du zum Beispiel, dass »bei Lidl an der Kasse arbeiten« für die meisten Leute, die das tun, gar kein Joke ist?

»Aber was ist das denn dann für ein Leben? Haben die Kassiererin und ich, wir Zwei im selben Boot, nicht beide mehr verdient?«, fragst du, die neue diskus nun erbost ablegend, sicherheitssuchend nach der Tasse greifend und, sie findend, die Wärme der aufgeschäumten Milch schmeckend. Mit den Händen, die noch etwas angestrengt davon sind, dass sie eben eine Woche Kroatien in den Semesterferien gebucht haben; die Flüge waren günstig, das AirBnB ein guter Deal und in der Gegend, die dir die Kommilitonin aus dem Brecht-Seminar empfohlen hat, sollen nur ganz wenige Touris sein, besonders keine Deutschen. Endlich Urlaub, dieses Semester waren mehrere Seminare bereits um 10:15 Uhr und mit den Wochenstunden auf der Arbeit, dem Plenum usw. usf. summiert sich das schnell zu einem Vollzeitjob. Und dass das eine Zumutung ist, hast du in »Einführung in die gewerkschaftlichen Arbeitskämpfe des 19. Jahrhunderts« gelernt.

Wenn sich die Krise also irgendwann breitmacht, dann schämt man sich vielleicht vor der Einsicht, dass sie eben keine rein ökonomische und daher qua eigenem Linkssein durchschaute Krise ist, sondern dass man in Wahrheit auch den Statusverlust fürchtet. Den Abstieg aus der durch die Aufnahme des Studiums in Aussicht gestellten oder bereits durch die Geburt in eine Großbücherregal-Familie geerbten Klasse. (Sagt man da jetzt wieder Klasse?) Man fürchtet, dass einem die Tür des liebgewonnenen Akademikermilieus vor der Nase zugeschlagen wird und man in Zukunft draußen bleiben muss, bei den anderen. Und das, wo man doch bisher immer Anerkennung für das ganze Gelese und Geschreibe bekommen hat, eine Eins vor dem Komma und ein gutes Gefühl im Autonomen Tutorium.

Aber genug der Zweifel. »Was hast du denn Schlaues gemacht, wenn du es schon so sehr durchschaut hast?«, fragst du mich, die neue diskus längst wegen ihres Anti-Intellektualismus verfluchend, jenen tendenziell regressiv schimpfend. Na promovieren! Noch ein bisschen mehr Zeit kaufen, bevor die Krise wieder unter dem Bett hervorkriecht. Darauf pokern, dass Fachkräftemangel und Babyboomer-Renten den Arbeitsmarkt hoffentlich so tief in die Knie zwingen, dass jedem ein Quereinstieg als Straßenbahnfahrerin hinterhergeworfen wird. Mit Tarif und allem. Dann fahre ich euch vom Lesekreis sicher nach Hause und wünsche euch eine Gute Nacht.

»Das Ende der Universitätsutopie ist beileibe nicht das Ende der Utopien. Ein institutioneller Abschnitt unserer Wissenschaftsgeschichte ist vorbei. Vielleicht gewinnen wir einen klareren Kopf, wenn wir nicht länger den Geist einer Institution zu retten versuchen, sondern uns selbst.«

Klaus Heinrich, 1987, Zur Geistlosigkeit der Universität heute