
Intro
O_o Liebe diskus, wir brauchen ja noch ein Editorial fürs Heft. Wie siehts aus: Habt ihr irgendwelche Ideen?
°-° Also mir fällt das ehrlicherweise schwer. Wir haben uns für dieses Heft zwar lange damit beschäftigt, wie linke Politik und höhere Bildung zusammenhängen, was los ist an den Universitäten und was sich ändern soll. Doch bis jetzt habe ich ehrlich gesagt immer noch keine Antworten auf diese Fragen, ja nicht einmal Annäherungen an Antworten. Im Gegenteil, eher bin ich noch verwirrter als vorher. Was mich dabei besonders nervös macht, ist die Frage, ob wir nicht schon mit der Wahl des Themas eine stillschweigende Voraussetzung treffen, die vielleicht gar nicht besteht. Nämlich, dass Bildung und Emanzipation notwendig zusammengehören, dass Theorie schließlich in der Praxis münden soll. Warum eigentlich? Es könnte doch auch sein, dass Theorie entweder vollkommen instrumentell ist und einen gesellschaftlich vorgegebenen Zweck verfolgt, den sie selbst nicht nochmal überdenken kann; oder dass sie, wenn sie diesen Zweck doch reflektiert, gar nicht an ihr Ende kommen kann mit all dem Nachdenken. Wie kann ich mir je sicher sein, dass ich diesen Zweck gefunden habe, oder dass ich ihn auch morgen noch für wahr halten werde? Verbietet sich an der Uni nicht genau so eine Sicherheit?
O_o Was meinst du damit? – Was heißt das denn?
°-° Ich spaziere von Seminar zu Seminar und finde immer weitere Gründe immer weitere Theorien abzulehnen oder anzunehmen. Ab und zu verändert sich meine Ansicht völlig – mal bin ich Poststrukturalist, dann Kantianer und dann wieder Marxist – aber so wirklich Auswirkungen auf mein politisches Engagement hat das nicht, im Gegenteil. Entweder ich hänge in der Bib, den Kopf zwischen Büchern, oder ich mache Politik. Beides gleichzeitig funktioniert nicht. Aber warum ist die Uni dann überhaupt ein so besonderer Ort für die politische Praxis?
-_- Ich glaube, was du ansprichst, bringt die Sache nur auf verkehrte Weise auf den Punkt: Die meisten Menschen, die sich heute noch als Linke bezeichnen (zumindest in Westeuropa), stecken im Bannkreis der Universität. Sie haben dort studiert, viele sind dort zum Arbeiten geblieben, andere verdienen ihr Geld mit ähnlichen Formen der Kopfarbeit. Und gleichzeitig wollen sie diesem Bannkreis entgehen: Sie suchen nach den »normalen« Menschen und nach der Praxis, mit der man der eigenen Ohnmacht entkommen soll. Denn auch nach intensiven zwölf Semestern Studium und unzähligen Lesekreisen zu Foucault, Kant und Marx hat sich die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht verändert; die richtige Theorie ist vielleicht gefunden, die falsche Wirklichkeit aber geblieben. In gewisser Weise ist dein Argument also sehr akkurat: Es drückt das in der akademischen Linken zunehmend penetrant werdende schlechte Gewissen aus, das besagt: Weniger nachdenken, mehr machen!
>.> Und das ist falsch, oder wie?
-_- Ich bezweifle, dass dieser Praxisfetisch die Linke in den letzten 30 Jahren weitergebracht hat. Die Bewegungslinke hat ihren Zenit langsam überschritten, wirklich neue Formen der Organisierung hat man bisher nur begrenzt gefunden. Will man diese Entwicklung verstehen oder gar ändern, müsste man sich doch viel eher darüber Gedanken machen, wie es zu dieser Situation gekommen ist, sich mit der Geschichte der Linken auseinandersetzen; konkret: danach fragen, wieso die Linke heute eine »akademische« ist. Eine solche ernsthafte Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte sehe ich aktuell nicht. Das blinde Losstürzen in die Praxis ist ja nur die abstrakte Negation der eigenen Situation, sozusagen die andere Seite der Medaille, nicht ihre Aufhebung.
°ĵ° Aber di–
-_- Und noch ein Punkt: Ich glaube schon, dass die theoretischen Auseinandersetzungen in der Linken reale Auswirkungen auf ihre politischen Organisationsformen hatten. Die Verschiebung von Marx zu Foucault hat sich doch auch in die Praxis übersetzt – da hieß es dann: Mikropolitik statt Klassenkampf.
°ĵ° Aber die Frage nach der Entkoppelung von Theorie und Praxis an der Uni heute trifft denke ich trotzdem einen ganz zentralen Punkt. Die Gefühle von Ohnmacht und Beliebigkeit, die aus dieser Anmerkung sprechen, spiegeln doch gerade einen objektiven Moment, und zwar jenen, dass Geistes- und Sozialwissenschaften zu studieren, heute zumindest im Westen eine private Angelegenheit derjenigen geworden ist, die aus irgendwelchen wiederum oft selbst recht privaten Gründen ein Interesse an Gesellschaftskritik ausgebildet haben und es sich obendrein leisten können. Marx lesen ist im Angesicht des Niedergangs der Linken also notwendig privat geworden – es folgt keinerlei Praxis mehr daraus. Auch Kant lesen bietet im Angesicht der globalen Gegenaufklärung kaum Anknüpfungspunkte an eine reale Praxis. Selbst Foucault lesen wird nur von der Gegenaufklärung mit wirksamer politischer Praxis verbunden. Die Praxis, die politische Initiative, liegt gerade so gut wie überall rechts. Dem privaten, von der eigenen Lebenswelt und der politischen Weltlage völlig entkoppelten Residuum radikaler emanzipatorischer Gesellschaftskritik steht deshalb oft ein Bedürfnis nach Praxis entgegen. Praxis lässt sich mit radikaler emanzipatorischer Gesellschaftskritik kaum mehr machen, dazu fehlt zunehmend die materielle, reale Grundlage in den Verhältnissen.
8-) Aber versuchen wir selbst als »linke« Zeitschrift nicht auch irgendwie, Praxis zu machen?
°ĵ° Die diskus ist doch das beste Beispiel. Wir sitzen hier am alten Campus Bockenheim und versuchen irgendeine Frankfurter Tradition wachzuhalten, deren historische Wirkmächtigkeit längst den Zenit überschritten hat. Die Uni ist ins Westend weitergezogen. Wer hat früher wohl alles diskus gelesen und wer tut das heute noch? Wir versuchen doch bloß zu retten, was zu retten ist und sind dabei selbst Teil der Verfallsform. Sorry, das ist jetzt sehr negativ gesprochen.
>.> Wenn ich das so höre, sträubt sich irgendwie was in mir. Ich glaube eigentlich nicht, dass »die meisten Menschen, die sich heute als Linke bezeichnen«, wirklich »im Bannkreis der Universität stecken«. Ich glaube das sagt mehr über uns selbst aus, als dass es ein unverzerrter Blick auf »die Linke« wäre, wer auch immer damit gemeint sein soll. Wer von uns geht denn regelmäßig auf Punk-Konzerte …
._. Ich!
>.> ... oder zu Plena von linken Gruppen abseits des Unibetriebs? Was ist denn mit Antifa und mit Städten, die nicht Frankfurt sind? Klar, da sitzen dann auch viele Leute mit Campushintergrund, aber das sind deshalb ja keine Uni-Linken. Wir sollten aufpassen, nicht von uns auf den Rest der Welt zu schließen und durch schlaue Worte so klingen zu wollen, als wären wir das Maß aller Dinge. Das ist doch irgendwie auch nur noch Jargon – »Praxisfetisch«, »Niedergang«, »abstrakte Negation«.
°ĵ° Aber wieso denn, wenn es doch so ist?
>.> Man kann auch viel Wahres lesen und trotzdem beim Reden sagen, was man meint. Das ist halt dummerweise ziemlich schwer, denn dann muss man gut verstanden haben, was das eigentlich bedeutet, diese großen Wörter. Und irgendwo an echte Erfahrungen im Alltag anknüpfen können. Wäre das nicht die Aufgabe einer Zeitschrift wie diskus? Ich finde, dieses Gespräch fing sehr schön an, persönlich und zweifelnd, statt hier mit Allgemeinplätzen aufzutrumpfen.
-_- Das ist ja fast die Suche nach den einfachen Leuten, die ich anfangs beschrieben habe. Haben analytische Begriffe etwa keine Berechtigung, muss alles direkt leicht verdaulich und verständlich sein?
>.> Jede Wissenschaft darf natürlich ihre Fachsprache haben, auch die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Aber das Politische sollte auch mal ohne auskommen dürfen, finde ich. Gegenfrage: Wollten wir mit diesem Heft nicht ursprünglich mal pöbeln und darüber berichten, dass wir den akademischen Betrieb sau lahm und angepasst finden? Also berichte doch mal, (._.), wie ist es überhaupt jenseits der Uni? Du meintest doch, dass du regelmäßig auf Punkkonzerte gehst.
._. Auch da haben sehr viele Leute irgendeine Verbindung zur Uni, gerade in Antifagruppen. Ich glaube aber auch, dass es gar nicht in erster Linie darum geht, ob Linke auch außerhalb der Uni Sachen machen, das ist ja irgendwie klar... Ist die Frage nicht eher, wo und wie das Bewusstsein der Linken geprägt wird? Und da spielen die akademischen Arbeiterinnen eben doch eine wichtige Rolle. Das führt zu den Anschlussfragen: Was passiert mit der an der Uni ausgedachten Theorie auf ihrem Weg in die Köpfe der Menschen? Wie kommt sie dahin? Was haben die akademischen Arbeiter mit politischer Praxis (und an sich mit der Welt) außerhalb der Uni zu tun? Was macht die akademische Praxis mit den Texten, die ihr entspringen? Und wieso können sich eigentlich nicht alle Menschen an Universitäten bilden?
°ĵ° Aber was folgt denn jetzt aus all deinen Fragen für das Verhältnis von Universität und politischer Praxis?
._. Was an der Uni das Reizvolle ist und gleichzeitig so nervt, ist doch: Der Laden läuft, weil alle etwas werden wollen müssen. Wenn man beim ganzen An-Sich-Selbst-Arbeiten aber mal ein bisschen Spielraum findet, sollte man sich daran erinnern, dass es einmal um mehr ging als um individuelle Selbstverwirklichung. Zum Beispiel darum, das Falsche ins Bewusstsein zu heben, um es abzuschaf–
>.> Jargon!?
._. –fen. Nein, aber der Punkt ist doch, dass es dafür natürlich mehr als kluge Texte braucht. Es wäre noch kein Praxisfetisch, wie -_- meint, wenn sich das, was man theoretisiert, auch in gewisser Weise im eigenen Tun und in einer Haltung zur Welt widerspiegelt. So wie es umgekehrt kein Theoriefetisch ist, wenn man sich grundlegend darüber Gedanken macht, was zu tun ist. Beides gehört zusammen. Statt im Angesicht der Ohnmacht Zynikerin oder Macherin zu werden, sollte es darum gehen, die Spannung zwischen dem hohen Anspruch und der Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten nicht zu verdrängen. Vielleicht ist es doch einen Versuch wert, sich den Bildungsbegriff genauer anzusehen und ihn nicht den Bildungsbürgern zu überlassen. Den Hinweis auf dessen emanzipatives Potenzial und die Spannung, die er beinhaltet, haben wir ja in Idas Text zu Heydorn im Heft. Oder in gewisser Weise auch bei Finja, die die Uni als Ort emanzipativer Praxis nicht aufgeben will.
O_o Danke für den Werbeblock, aber ich habe aufgehorcht bei »werden wollen müssen«. Das ist doch auch der springende Punkt, wenn man sich heute fragt, wie sich linke Theorie lesen – und danach leben? – und gleichzeitig im akademischen Betrieb arbeiten können – ohne zugrunde zu gehen – vereinbaren lässt. Wenn man die meiste Zeit damit zubringt, sich um das Einwerben von Drittmitteln zu kümmern und Paper zu schreiben und damit die Themen, die einen umtreiben, »verkaufbar« zu machen, geht da nicht etwas Wichtiges verloren? So eine Vorstellung von »Reformuni«, »gegen das Establishment« – das klingt vielleicht aufgesetzt, aber ihr wisst, was ich meine: Das war da doch früher mal radikaler, nicht so eingehegt in die bestehenden Verhältnisse. Aber klar, die Verhältnisse haben sich auch geändert. Also sowas wie arbeitslos melden und Theoriearbeit machen, wie es bspw. die Krisis-Leute mach(t)en, lässt sich ja heute gar nicht mehr umsetzen, vom Bürgergeld kann man zumindest nicht mehr leben.
-_- Ach ja, es bleibt uns nur die Lohnarbeit, schon klar…
O_o Naja, wenn es nicht die politische Bildungsarbeit, die soziale Arbeit, das Volontariat im Verlag oder gar der Human Ressource Bereich in irgendeinem feschen, progressiven Startup wird, – die PMC lässt grüßen – dann eben akademische Arbeiterin. Und nun? Marx lesen und sich darüber Gedanken machen, wie diese beschissene Welt endlich ein Stück besser werden kann? Naja. Eher die Frage, wie sich der gerade anbahnende kritische Gedanke in einem Paper verarbeiten lässt. Und vor dem Einschlafen dann die Frage, ob die Publikationsliste mittlerweile lang genug ist, um die nächste Stufe auf der akademischen Leiter erklimmen zu können. Hat man da vielleicht auf S. 212 im Kapital eine spannende Verbindung zum Herr-Knecht-Verhältnis (Hegel) gefunden, worauf noch niemand kam und man damit jetzt endlich die originelle Dissertation schreiben kann? Ok, jetzt aber schlafen, um morgen früh auf Seite 213 weiterzulesen. Und am Ende wird mittlerweile eh nach den eingeworbenen Drittmitteln entschieden, wer die Stelle – also Mittelbau oder Professur – bekommt und nicht nach der originellen Verbindung von Marx und Hegel. Also nicht der kritischste Kopf, sondern der beste Drittmittelantragsschreiber. Irgendwie traurig.
8-) Aber immerhin, man kann im akademischen Betrieb noch ein wenig nach eigenem Interesse arbeiten und bekommt sogar Geld dafür.
O_o Klar, noch bestehen immer mal solche Möglichkeiten, sonst hätten wir uns ja alle schon längst davon verabschiedet. Aber so richtig näher kommt man dem guten Leben so ja auch nicht wirklich, oder doch?
8-) Ich möchte nochmal auf °-°s Erzählung vom Anfang eingehen: »Entweder ich hänge in der Bib, den Kopf zwischen Büchern, oder ich mache Politik. Beides gleichzeitig funktioniert nicht«, weil ich den Zwiespalt und die Widersprüche, in die man sich dabei begibt, kenne. Spannend wäre, die Frage zu erkunden, warum das so ist. Wie schaut das Politikmachen aus? Ist das wirklich frei von theoretischer Auseinandersetzung und Reflexion? Oder ist die Zeit und Energie, die in den Zusammenhängen, die wir als »Praxis« labeln, so gering, dass dabei nur wenig rumkommt? Oder sind die Aufgaben, derer die Praxis sich stellen muss, so groß, dass die Ressourcen anders verwendet werden? In vielen politischen Projekten gibt es ja schon den Versuch, Theorie- bzw. Bildungsarbeit ernsthaft zu betreiben und bei Themen auch in die Tiefe zu gehen. Natürlich ist das nicht dasselbe wie wissenschaftliche Arbeit, aber man könnte aus der Praxis-Perspektive fragen, ob die nicht besonders zielgerichtete theoretische Auseinandersetzung an der Uni überhaupt immer so sinnvoll und gewinnbringend für die Emanzipation ist.
°ĵ° Wie bitte?
-_- Aber dieser Praxisfetisch führt doch eben genau zur Aufgabe eines emanzipativen Anspruchs, weil er nicht auf ihre Voraussetzungen reflektiert!
8-) Naja, zumindest in der Rolle als Studierende sieht es ja so aus: Seminare wechseln von Semester zu Semester, es ist immer ein bisschen Zufall, ob man sich im Rahmen von Seminaren mit einem Thema länger beschäftigen kann oder gar das nächste Seminar daran anschließt oder sich Inhalte doppeln. Da sehe ich auch Vorzüge außeruniversitärer Bildungsarbeit, die sich im Vorfeld Inhalte und Ziele der Auseinandersetzung überlegt und auch im Nachhinein evaluieren kann, wie gut es lief und was es gebracht hat, wo man noch tiefer hineingehen und in welche anderen Richtungen man schauen will.
._. Den Punkt, den du aufwirfst, ob Bildung nicht außerhalb der Uni sogar stringenter, oder besser, oder freier gemacht werden kann, finde ich schon auch wichtig – wie häufig halten Seminare nicht das, was sie versprechen!
°-° Damit sind wir dann ja eigentlich wieder bei unseren Ausgangsfragen: Was wollen wir (noch) als Linke an der Uni und welche Bedeutung hat sie für die Linke derzeit?
8-) Ja. Ich denke, erstmal ist das ein Ort, den viele in ihrer Biografie durchlaufen und an dem wegen größerer Zeitressourcen auch mehr Luft ist, sich politischen Themen zu widmen. Ich erlebe es als Studentin nicht so sehr meinem Willen, sondern mehr zukünftigen Zufällen geschuldet, ob ich nach dem Studium an der Uni bleiben kann. Das heißt: Von linken Studierenden bleiben dann halt ein paar als Lehrende an der Uni und manche wenige schaffen es sogar, daraus längerfristig einen Beruf zu machen. Ohne die Frage, was wir an der Uni wollen, beantwortet zu haben, stellt sich mir deshalb sofort die Frage: Wer ist das denn eigentlich, die Uni-Linke: die Studis oder die Lehrenden? Oder beide gemeinsam?
°-° Ich glaube genau diese Frage danach, wer die Uni-Linke eigentlich ist, trifft bereits die Voraussetzung, die ich eingangs provokant hinterfragen wollte. Nämlich, dass es einen irgendwie gearteten, relevanten Zusammenhang von wissenschaftlicher Theorie und (linker) politischer Praxis geben kann. Auch der Vorwurf des Praxisfetischs, der ja – Frankfurter Denkmustern treu bleibend – direkt als erstes in den Raum gestellt wurde, ergibt nur Sinn, wenn man bereits eine Verbindung der beiden Seiten »einkauft«, bei der dann entweder die Theorie oder die Praxis unnötig viel Oberwasser hat. Aber ich bin mir eben unsicher, ob diese Verbindung überhaupt besteht. Eine Theorie auf ihre Validität zu prüfen, ist erstmal eine andere Tätigkeit, als auf eine Demonstration zu gehen. Natürlich findet beides im Kontext einer bestimmten Gesellschaftsform statt, die etwa die Theoriebildung dahingehend beeinflusst, welche Hypothesen überhaupt kritisiert werden, welche Daten dafür herangezogen werden etc. – eine Gesellschaftsform, gegen die man dann auf der Straße protestieren kann. Aber dieser Protest setzt doch genau diejenige kritische Selbstreflexion mindestens für den Moment aus, die das Kernmerkmal angemessene Theoriebildung ist.
._. Wie meinst du das?
°-° Ich meine, dass ich in der Praxis – Überraschung – erstmal einfach mache. Sobald ich auf die Gründe reflektiere, die dieses »Machen« motivieren, fange ich an zu zögern, zu theoretisieren. Dann »mache« ich also gerade nichts mehr, zumindest in dem aktionistischen Sinne, den wir hier veranschlagen. Aber wenn sich Praxis und Theoriebildung in dieser Weise widersprechen, sollte man dann nicht die Theorie davor bewahren, voreilig von der Praxis unterbrochen zu werden, genau wie man umgekehrt die Praxis davor retten sollte, bis zum Stillstand über sich selbst zu reflektieren? Damit stoße ich natürlich ins Wespennest der kritischen Kritiker.
°ĵ° Nein, das stimmt natürlich, man handelt, wenn man es psychoanalytisch ausdrücken möchte, immer in gewisser Weise auch aus unbewussten Momenten und Motiven ins Unbekannte hinein – nie völlig aufgeklärt und mit endgültiger Klarheit. Ohne das herrscht Stillstand. Aber es braucht eben auch Zeit, um das dann in der Analyse auf der Couch wiederum einzuholen, um im Bilde zu bleiben.
._. In °-°s Ausdruck »angemessene Theoriebildung« steckt doch das ganze Problem drin. Ich glaube, er zeigt an, dass der emphatische emanzipative Anspruch ziemlich verschwunden ist. Es ging bei Theorie und Praxis nicht um die psychoanalytische Couch, sondern einmal darum, das Privateigentum an Produktionsmitteln abzuschaffen, dass niemand mehr hungern muss und den Verein freier Menschen zu machen. Müsste eine Theoriebildung, die diese Ziele nicht verwirft, nicht die Verhältnisse transzendieren, statt sie nur »angemessen« zu erfassen? Um nicht utopistisch zu sein, müsste sie dazu aber in Verbindung stehen mit politischen Bewegungen oder sich eben vorerst pessimistisch auf das Flaschenpostsenden beschränken. Was davon derzeit angesagt ist, bleibt zu diskutieren. Bei unserem Gespräch habe ich jedenfalls den Eindruck, dass wir eine tatsächliche lebendige Verbindung von Theorie und Praxis eigentlich noch nie erlebt haben. Was nicht bedeutet, dass sie nicht möglich ist.
O_o Also warten wir vorerst ab. Jetzt haben wir allerdings immer noch kein Editorial, oder doch?