diskus Sagt doch erstmal etwas zur Lernhilfe: Seit wann gibt es dieses Projekt? Wie viele Schüler_ innen kommen vorbei? Wer organisiert das?

Lernhilfe Den ersten Standort unserer freien Lernhilfe in Frankfurt gibt es jetzt seit zwei Jahren. Wir haben ihn im Mai 2023 gemeinsam mit den Falken SDJ, einer sozialistischen Jugendorganisation, im Stadtviertel Riederwald eröffnet. Dort findet seitdem immer donnerstagnachmittags eine offene Hausaufgabenbetreuung und Nachhilfe statt, zu der in erster Linie die Schulkinder der nahegelegenen Grundschule kommen, aber auch Jugendliche aus höheren Jahrgangsstufen. Seit vergangenem Herbst kooperieren wir außerdem mit einer Mädchenwohngruppe im Riederwald. Die Schülerinnen, die von dort zu uns kommen, sind zwischen 14 und 18 Jahre alt und besuchen die Haupt- und Realschule. Hier gestaltet sich unsere Lernunterstützung nochmal anders als im klassischen Sinne von Nachhilfe. Im Vordergrund steht dann mehr, die Lust am gemeinsamen Lernen zu fördern und über den Alltag ins Gespräch zu kommen; das hilft einerseits, Orientierung und Struktur in den Alltag zu bringen und andererseits diejenigen sprachlich zu unterstützen, die nur geringe Deutschkenntnisse mitbringen. Im Riederwald sind es vier bis elf Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die jede Woche in die Lernhilfe kommen. Das Betreuungsteam besteht aus acht ehrenamtlich Mitwirkenden. Zu Beginn waren es vor allem Sozialist_innen von den Falken oder der Kampagne für eine sozialistische Partei (KSP), mittlerweile sind mehrheitlich Ehrenamtliche und Personen aus dem Viertel dabei, die von unserem Angebot erfahren haben und sich vor Ort engagieren möchten. Inzwischen haben sich in einigen weiteren Städten wie Leipzig und Darmstadt Lernhilfen gegründet.

diskus Kommt ihr dort mit den Leuten auch über andere Themen als das Lernen ins Gespräch?

Lernhilfe Über politische Fragen und die KSP kommen wir indirekt ins Gespräch, etwa, wenn im Austausch in unserem Betreuungsteam und in Gesprächen mit Eltern Schwierigkeiten und Alltagsprobleme zur Sprache kommen, die sich über die Lernhilfe nur unzulänglich bewältigen lassen. In solchen Diskussionen können wir dann auf die Bedeutung aber auch die Grenzen des zivilgesellschaftlichen Aktivismus im Kleinen verweisen: Denn eine umfassende Bildung, die eine Entfaltung der Fertigkeiten der Einzelnen und deren selbstbestimmte Lebensgestaltung bezweckt, ist unter den Bedingungen einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft nicht möglich. Unsere gesellschaftliche Aufbauarbeit zielt daher über die gegenwärtige Organisation der Gesellschaft hinaus auf eine sozialistische Politik, mit der wir grundlegend etwas an unseren Lebensverhältnissen ändern können. Die Lernhilfe ist Teil der Praxis, mit der wir uns zu Akteuren dieser gesellschaftlichen Veränderung ausbilden. Das kann aus unserer Sicht nur gelingen, wenn wir nicht allein mit Personen aus unserer Orga und Akademiker_innen von außen ein Angebot ins Viertel bringen, sondern wenn wir im Stadtteil selbst Personen gewinnen, die mitarbeiten. Und hier haben wir an unseren laufenden Standorten auch schon sehr positive Erfahrungen machen können.

diskus Könnt ihr uns zu dem ersten Punkt ein konkretes Beispiel aus eurer Praxis geben? In welche Richtung entwickelt sich das Gespräch mit Eltern, Betreuer_innen und Schüler_innen, wenn man im Rahmen der Lernhilfe auf individuell nicht zu lösende, politische Widersprüche stößt?

Lernhilfe An einem Nachmittag im Riederwald betreuten wir ein Grundschulkind, das sehr frustriert mit ihren Hausaufgaben zu uns kam und zunächst keine einzige Aufgabe davon richtig bearbeiten konnte. Als wir uns mit ihr hinsetzten und die Aufgaben durchgingen, merkten wir schnell, dass im Unterricht offensichtlich nur die Zeit gefehlt hatte, der Schülerin eine Regel zu erklären, durch die sie Aufgaben mit Leichtigkeit eigenständig und korrekt beantworten konnte. Wir unterhielten uns danach in unserem Team: Eine Betreuerin, pensionierte Grundschullehrerin, hatte dieser Fall sichtbar mitgenommen, weil er für sie exemplarisch dafür war, wie die Schule dazu beiträgt, die Freude am Lernen zu behindern, anstatt sie zu fördern. Sie berichtete von der Zeit als sie die Leitung ihrer Grundschule übernommen hatte und täglich mitbekam, wie Lehrer_innen aufgrund zu großer Klassen und dem streng nach Fächern aufgegliederten Stundenplan überfordert waren, und wie solche Hürden im Unterrichtsalltag dazu führten, dass nicht auf die individuellen Bedürfnisse der einzelnen Schüler_innen Rücksicht genommen werden konnte. Über solche Missstände wurde im Kollegium aber kaum als etwas gesprochen, das auf tiefliegende Probleme in unserem Bildungssystem verweist und wogegen man gemeinsam eintreten könnte. In unserem Betreuungskreis waren wir uns einig, dass wir mit der Lernhilfe, wenn überhaupt, nur vereinzelt gegen solche Defizite angehen können und dass es einer grundlegenden Umgestaltung der Bildung bedürfte, um bessere Lernbedingungen im Interesse der Kinder und Jugendlichen zu schaffen. Bei solchen Gelegenheiten ergibt es sich also wie von selbst, über strukturelle Ungleichheiten und Ausschlüsse zu sprechen.

diskus Die Lernhilfe will also ein soziales Projekt sein, aber doch auch ein politisches. Welches Potential seht ihr darin?

Lernhilfe Einerseits ist vielen von uns natürlich auch das soziale Moment von Bildungsarbeit ein zentrales Anliegen: Uns geht es an den konkreten Lernorten immer auch darum, den Menschen vor Ort zu helfen und mit ihnen gegen den Druck der gesellschaftlichen Verhältnisse anzugehen, den viele spüren, gerade wenn sie aus migrantisierten und sogenannten bildungsfernen Schichten kommen. Unser Anliegen ist es dabei, Jugend- und Bildungsarbeit solidarisch und von unten zu organisieren. Anderseits ist uns auch die Herausforderung bewusst, nicht einfach bei Nachbarschaftshilfe stehenzubleiben, sondern über den Kontakt zu Initiativen, politischen Akteuren und Menschen vor Ort Räume aufzubauen, die unabhängig von staatlichen und kommerziellen Angeboten funktionieren und in denen wir uns gegenseitig beibringen, unsere Bildung, unser Lernen und Zusammenleben selbst in die Hand zu nehmen.

Wir knüpfen mit der Lernhilfe an das historische Vorbild der Arbeiterbildungsvereine an, die Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1920er Jahre ein wichtiger Bestandteil der Arbeiter_innenbewegung und ihrer Verankerung in der proletarischen Bevölkerung waren. Dabei wird vielleicht nicht auf den ersten Blick klar, was solche nicht-kommerziellen Bildungsangebote mit dem Ermöglichen sozialistischer Politik zu tun haben: Im Vordergrund steht hier erst einmal nicht wie bei Miet- und Arbeitskämpfen, kollektive Macht aufzubauen, um gemeinsam Interessen durchzusetzen und für eine Verbesserung der Wohnund Arbeitsverhältnisse zu kämpfen. Jedoch kann es durch die Projekte gelingen, im Kleinen solidarische Gemeinschaften des Miteinander- Lernens zu stiften, was gerade in unserer atomisierten Gesellschaft wichtig ist, um überhaupt wieder Räume für eine gemeinsame politische Praxis zu schaffen. Und gerade solche Momente, in denen die Grenzen dieser Arbeit im Kleinen konkret erfahrbar werden, können dabei mobilisierende Wirkung entfalten und dazu beitragen, dass auch Personen, die zunächst mit dem Anliegen der Nachbarschaftshilfe bei uns eingestiegen sind, sich im Aktivismus mit uns zu Sozialist_innen bilden. Der Aufbau einer sozialistischen Partei erfordert demnach nicht, dass wir »linke Parolen« zu den Leuten tragen. Stattdessen braucht es eine aktive Zivilgesellschaft, die der Nährboden und Rückhalt jeder echten sozialistischen Politik ist.

diskus Und wie lautet euer Zwischenfazit dazu?

Lernhilfe Bis jetzt ist die Lernhilfe ein guter Einstieg in die Viertel. Durch unsere Praxisarbeit dort konnten wir schon viel über die Sozialstruktur, das Leben und die Probleme erfahren, mit denen sich die Bewohner_innen, vor allem die Eltern und Kinder aus der Arbeiter_innenschaft, und insbesondere Personen mit Migrationshintergrund herumschlagen müssen. Wir erhalten viel positive Rückmeldung von Eltern und Bildungseinrichtungen, die Arbeit ist also sehr sichtbar vor Ort und wird von den Menschen und Einrichtungen wertgeschätzt. Die größte Herausforderung sehen wir aktuell darin, genug Mitstreiter_innen zu gewinnen, um unsere Angebote weiter auszubauen und dem vorhandenen Bedarf gerecht zu werden. Im Optimalfall soll die Lernhilfe zu einem Ort werden, an dem Arbeit vergemeinschaftet wird, sodass es den Einzelnen Last von den Schultern nimmt, statt ein Ehrenamt zu sein, für das man sich extra Zeit nehmen muss.

diskus Bis hierhin klingt es beinahe so, als gäbe es – jenseits der Rekrutierung von Mitstreiter_innen – kaum wirkliche Probleme in eurem Projekt. Aber seht ihr nicht beispielsweise die Gefahr einer schrittweisen Entkopplung des (wie ihr es nennt) zivilgesellschaftlichen Aktivismus der Lernhilfe vor Ort von dem übergreifenden politischen Projekt der KSP? Kann es trotz aller Bemühungen nicht schnell passieren, dass die erstere zu einer entpolitisierten sozialen Dienstleistung wird?

Lernhilfe Die Entkopplung von Lernhilfe und KSP ist tatsächlich so gewollt. Am liebsten wäre es uns, wenn sich die Lernhilfen bundesweit zu Orten entwickeln, an denen die Menschen selbständig zusammenkommen, um gemeinsam zu lernen. Es geht darum, zu ermöglichen, dass sich Menschen das gesellschaftliche Feld der Bildung wieder aneignen. Das wäre zunächst also tatsächlich »entpolitisiert«. Gleichzeitig soll es aber das gerade Gegenteil einer »Dienstleistung« sein. Es stimmt, dass die Lernhilfe momentan noch stark nach dem Modell funktioniert, dass Studierte oder Studierende zu Kindern oder jungen Erwachsenen eines Viertels gehen, um ihnen zu »helfen«. Das soll jedoch nach und nach weniger werden und es gibt hier auch schon vielversprechende Ansätze: Mittelfristig geht es darum, gemeinsam zu lernen.

Wir sind der Ansicht, dass es eine solche zivilgesellschaftliche Organisierung braucht, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, irgendwann eine sozialistische Partei zu gründen, die dann innerhalb dieser Zivilgesellschaft werben kann. Eine solche Partei könnte dann sagen: »Die Lernhilfen organisieren Bildung besser als die staatlichen Schulen. Wir brauchen eine ganz andere Schule, einen ganz anderen Staat und die Menschen zeigen bereits in ihrer Praxis, dass wir solche veränderten gesellschaftlichen Strukturen aufbauen können!« Wir müssen deshalb wegkommen von der Idee, dass die Lernhilfe selbst schon »politisch« in dem Sinne sein soll, dass es dort unmittelbar um linke Inhalte geht. Die Lernhilfe funktioniert dann perfekt, wenn die Leute dort voneinander Lesen, Schreiben, Mathe oder Geschichte lernen.

Aber weil ihr nach weiteren Problemen gefragt habt: Die ergeben sich in der Alltagspraxis natürlich immer. Wir sind beispielsweise auf unsere Kooperationspartner_innen angewiesen, die uns freundlicherweise Räume und Lernmaterial zur Verfügung stellen, da wir dafür keine ausreichenden eigenen Mittel haben. Hier ergeben sich natürlich auch Konfliktpotenziale. Bislang gab es keine größeren Schwierigkeiten, aber die Falken, mit denen wir im Riederwald kooperieren, mussten natürlich erst intern diskutieren, wer wir überhaupt sind und ob es Nachteile haben könnte, mit uns zusammenzuarbeiten. Oder ganz basal: Wenn mal jemand verschläft, der oder die den Schlüssel hat, haben wir ein Problem. Diese Abhängigkeit lässt sich aber auch produktiv wenden: Wir haben kein fertiges Hochglanzangebot, sondern wir laden dazu ein, gemeinsam Probleme anzugehen und lernen daraus für die weitere Arbeit, wenn mal etwas schiefgeht. Gerade in solchen Fällen, in denen ein neuer Standort im ersten Anlauf daran scheitert, dass wir keine geeigneten Räume dafür finden, kann so auch die Erfahrung gemacht werden, dass es in unserer Gesellschaft an kollektiv nutzbaren Lernräumen fehlt.

diskus In unserer Ausgabe geht es um die neoliberale Hochschule, aber auch um außeruniversitäre Bildung. Auf der Website der KSP sprecht ihr von gesellschaftlichem Aufstieg durch Bildung. Welchen Stellenwert gebt ihr schulischer und universitärer Bildung? Und in welchem Verhältnis seht ihr Bildung und gesellschaftliche Emanzipation?

Lernhilfe Schon Wilhelm Liebknecht hat 1872 in einer Rede vor dem Dresdner Arbeiterbildungsverein Wissen ist Macht – Macht ist Wissen hervorgehoben, dass Bildungsprozesse immer eingebettet sind in die jeweiligen materiellen Bedingungen einer Gesellschaft und dass sie entsprechend auch vielfach den Machtinteressen der Herrschenden dienen. Wenn wir also Verhältnisse herstellen wollen, in denen es die Spaltung zwischen Herrschenden und Beherrschten nicht mehr gibt, ist es aus unserer Sicht zentral, die materiellen und intellektuellen Bedingungen zu schaffen, damit die Menschen selbst über die Organisierung ihrer Lebens- und Arbeitsverhältnisse bestimmen können.

Die bildungspolitischen Reformen der vergangenen Jahrzehnte bewirken jedoch ganz im Gegenteil immer größere Ungleichheiten in den Bildungsmöglichkeiten und darüber hinaus auch eine einseitige Ausrichtung von Bildung auf Kompetenzerwerb, um gegen den viel beklagten »Fachkräftemangel« anzugehen und die neue Generation auf ihre Rolle als Arbeitskräfte fürs Kapital vorzubereiten. Die Aufgabe von Bildung wird damit auf ihre Allokations- und Selektionsfunktion reduziert, der Zuweisung eines bestimmten Ortes in der Gesellschaft und damit der Sicherung von Klassenverhältnissen. Dadurch werden bestehende soziale Ungleichheiten reproduziert und Bildungsprozesse auf eine Weise strukturiert, die eigenständigem und kritischem Denken kaum noch Raum lässt. Die zu befürchtenden Kürzungen im Bildungsbereich infolge der sogenannten »Zeitenwende« und der schwarz-rote Koalitionsvertrag weisen in die selbe Richtung.

Wenn wir uns mit dieser Entwicklung nicht einfach abfinden wollen, uns gleichzeitig aber bewusst ist, keinen Einfluss auf die politischen Entscheidungen der Bundesrepublik zu haben, gilt es aus unserer Sicht, Orte zu schaffen, an denen wir eine andere Bildungspraxis erproben können. Mit der Lernhilfe möchten wir dabei auch gegen die Vereinzelung und praktische Entmachtung der Menschen angehen, die durch die neoliberale Umstrukturierung aller Lebensbereiche und den von Social Media dominierten Alltag befördert werden. Wir wollen von- und miteinander lernen und Bildung nicht nur (im Sinne des »unternehmerischen Selbst«) als Bedingung des individuellen Fortkommens verstehen, sondern als Medium, um für unsere gemeinsamen Anliegen zu kämpfen. In Zeiten sich zuspitzender Krisen, die die Existenzgrundlage von uns allen in rasanter Geschwindigkeit zu unterminieren drohen, wird gerade auch für junge Menschen erfahrbar, dass wir uns gegen die gesellschaftlichen Widersprüche nicht durch individuelle Bildungserfolge absichern können, sondern dass es einer grundlegenden Transformation unseres sozialen Zusammenlebens bedarf.

diskus Und zu guter Letzt: Seht ihr in diesem Ziel einer »grundlegenden Transformation« auch den fundamentalen Unterschied zur herkömmlichen organisierter linker Bildungsarbeit wie man sie etwa von Gewerkschaften und Stiftungen kennt? Oder gibt es noch andere Aspekte, die euch demgegenüber auszeichnen?

Lernhilfe In einem Wort: Ja. Manchmal klingen Linke heute so, als ließen sich die Versprechen gesellschaftlicher Emanzipation innerhalb des Kapitalismus erkämpfen. Das glauben wir nicht. Allerdings haben wir ansonsten gar kein starkes Abgrenzungsbedürfnis: Wir versuchen, in der Praxis mit möglichst vielen bestehenden Projekten linker Bildungsarbeit zusammenkommen.