diskus Als Teil der Gruppe Krisis macht ihr nun seit Ende der 80er Jahre Theorie- und Bildungsarbeit – und das außerhalb des akademischen Betriebs. In einem Interview habt ihr mal erwähnt, dass ihr euch damals entschieden habt, Arbeitslosengeld zu beziehen oder nur nebenbei zu jobben, um eure Zeit voll und ganz dieser Beschäftigung widmen zu können. Wie kam es dazu?

Ernst Lohoff Das war eigentlich gar keine bewusste Entscheidung. Es war eher so, dass wir uns als Gruppe außerhalb der Uni konstituiert haben. Das war damals gar nicht so unüblich, denn es gab halt noch eine außerakademische Linke mit theoretischem Anspruch, die Ausläufer der sogenannten neuen sozialen Bewegungen. Aber es lag auch an unserer inhaltlichen Ausrichtung, mit der wir uns eigentlich schon von vornherein für den akademischen Betrieb disqualifiziert hätten: Uns ging es ja um die Beschäftigung mit Marx und seiner Werttheorie, was damals an der Uni einfach nicht mehr angesagt war. Nachdem das in den 70er Jahren hoch und runter diskutiert wurde und wir total antizyklisch wieder damit anfingen, hat man nur abgewunken. Die Frage mit der Universität hat sich daher gar nicht gestellt für uns – die wenigen Posten, die es gab, waren vergeben und der große Hype ging in eine ganz andere Richtung. Vor allem dekonstruktivistische Theorien waren damals angesagt.

Norbert Trenkle Daneben gab es noch den lebensweltlichen Aspekt. Viele in unserer Generation waren in linken Bewegungen sozialisiert und wollten den Lebensentwurf unserer Elterngeneration nicht leben – 40 Stunden fordistisch im Betrieb, für immer eingebunden sein im gleichen Job über Jahrzehnte. Das war für uns eine Horrorvorstellung. Es war also auch eine Entscheidung dafür, etwas zu machen was für dich einen Sinn hat, wo aber nicht dein Lebensunterhalt dranhängt, sondern wo du versuchst, dich anderweitig durchzuschlagen. Das ging damals noch besser, nicht nur wegen dem Arbeitslosengeld, das leichter zu bekommen war als heute. Du konntest auch von einem Teilzeitjob ganz passabel leben. Natürlich nicht mit einem riesigen Konsum, den haben wir sowieso nicht gewollt, aber du kamst gut über die Runden und das hat gereicht.

diskus Mehr Zeit abseits von der Lohnarbeit für Bildungs- und Theoriearbeit zu gewinnen war also vor allem eine pragmatische Entscheidung. Stand dahinter nicht auch eine inhaltliche Erwägung, die mit der Arbeitskritik von Krisis zusammenhängt?

Ernst Lohoff Die explizite, theoretisch begründete Arbeitskritik haben wir erst später, Anfang der 1990er Jahre entwickelt. Aber sie lag von Anfang an in der Luft. Allerdings war eine arbeitskritische Haltung damals auch kein Alleinstellungsmerkmal unserer Gruppe, sondern relativ weit verbreitet in der Linken. Und ein bisschen war es auch der Zeitgeist, zumindest in einem bestimmten sozialen Segment, wo die sogenannte Krise der Arbeitsgesellschaft auch breit diskutiert wurde.

diskus Würdet ihr sagen, dass es in der Linken damals noch selbstverständlicher war, sich außerhalb der Universität (im erweiterten Sinne) zu organisieren als heute?

Norbert Trenkle Auf jeden Fall! Da gab es ein ganzes Spektrum von linken Zeitschriften, die durchaus einen hohen theoretischen Anspruch hatten, darunter auch solche, die zumindest teilweise versuchten über die traditionelle Linke hinauszugehen. Zum Beispiel die »Kritik und Krise« der Initiative Sozialistisches Forum (ISF) aus Freiburg, die Zeitschrift »links« des Sozialistischen Büros oder »Autonomie« und »Wildcat« aus dem operaistischen Spektrum.

diskus Ist das denn ein Anspruch, der sich heute noch so einlösen lässt? Ihr habt ja schon gesagt, dass sich die Bedingungen für eine halbwegs fundierte Theoriearbeit abseits der Lohnarbeit verändert haben. Inwiefern ist es heute noch realistisch, die Arbeitslosigkeit für bessere Theoriearbeit zu nutzen?

Ernst Lohoff Da ich noch immer mit dem Sozialstaat zu tun habe, kann ich auch aus eigener Erfahrung sagen, dass sich die Bedingungen endlos verschärft haben. Die Spielräume damals waren sehr viel größer, denn da stand der große neoliberale Schub noch bevor. Außerdem ist das nicht nur eine objektive Frage, sondern hängt auch damit zusammen, in welchem Kontext du dich selbst bewegst, also wieder die lebensweltliche Komponente.

Norbert Trenkle Gerade in den 80er Jahren war es wirklich ein verbreiteter Lebensentwurf, zu sagen: »Ich schaue, wie ich mich durchschlage, versuche es über Sozialknete und mache ansonsten, was mich interessiert«. Das konnten auch kulturelle oder soziale Projekte sein oder irgendwelche individuellen Interessen. Jedenfalls gab es einen bestimmten sozialen Kontext, in den man eingebunden war.

Ernst Lohoff Zum 30. Geburtstag hat man in unseren Kreisen normalerweise ein Buch gekriegt, ich habe den Autor vergessen, das hatte die schöne Überschrift »Über die Nutzlosigkeit, erwachsen zu werden«. Da ging es darum, irgendwie herum zu jobben ohne sich mit der Arbeit zu identifizieren und sonst die Sachen zu machen, die einem wichtig sind. Die Einstellung gegen das Leistungskonzept war schon sehr präsent und hat eine gewisse Stimmung wiedergegeben in diesem Gesellschaftssegment.

diskus Hat dann die Art und Weise, so Theoriearbeit zu machen, auch mit vorgegeben, was euch inhaltlich beschäftigt?

Ernst Lohoff Negativ gesprochen hat es uns Freiheitsspielräume gegeben, die wir sonst nicht gehabt hätten. Wenn wir im akademischen Betrieb gewesen wären, hätten wir nicht so grundsätzlich Marx neu durchkauen können. Da sind alle gerade ganz woanders hingegangen und die übrig gebliebenen Marxisten hielten es fast durchgängig für Blödsinn, was wir machten. Was wir da angefangen haben, war also zunächst einmal ein völliges Minderheitenprogramm, etwas, das uns völlig isoliert hat. Das wäre im akademischen Betrieb vollkommen resonanzfrei geblieben.

Norbert Trenkle Im Gegenteil sogar! Nicht nur resonanzfrei, sondern es gab auch eine sehr starke Abwehr im akademischen Betrieb. Unsere Texte waren schon bekannt und zirkulierten auch dort. Es gab so bestimmte Bücher, insbesondere Robert Kurz‘ Der Kollaps der Modernisierung, das wurde quasi notgedrungen auch breit diskutiert im akademischen Apparat. Aber alle anderen Sachen, das meiste, das wir sonst so publiziert haben, wurde aktiv abgewehrt. Das passte einfach nicht in die Zeit. Denn der eine Trend war der Poststrukturalismus und das andere waren die übrig gebliebenen Linken, die versuchten, den traditionellen marxistischen Ansatz mit Gramsci, Poulantzas oder postmodernen Elementen aufzupeppen und wieder salonfähig zu machen. Da passten wir überhaupt nicht ins Konzept. Und was natürlich auch durchgängig abgewehrt wurde, war unsere Krisentheorie, also unsere Diagnose, dass der Kapitalismus an seine absoluten Grenzen stößt. In den 90er Jahren erschien das zunächst völlig unplausibel, weil es da gerade losging mit dem weltwirtschaftlichen Boom, der durch die Akkumulation des fiktiven Kapitals getragen wurde.

diskus Hat sich an dieser Abwehr bis heute etwas geändert? Zumindest oberflächlich betrachtet gab es ja an den Universitäten ein Stück weit ein Revival von Marx. Zumindest in Form von soziologischen Ungleichheitsanalysen, in denen sich wieder häufiger auf Marx bezogen wird. Habt ihr das Gefühl, dass es mittlerweile eine stärkere inhaltliche Offenheit gibt?

Ernst Lohoff Es ist teilweise eine Generationsfrage. Die alten marxistischen Knochen haben den Abwehrreflex verinnerlicht. Bei den jüngeren Leuten sieht es aber anders aus. Übrigens hat Krisis selbst auch eine gewisse Akademisierung durchgemacht, denn die jungen Leute, die in den letzten Jahren dazugekommen sind, bewegen sich vorwiegend im universitären Rahmen. Daran merkt man schon, dass unsere Theorie jetzt nicht mehr so antizyklisch ist, sondern der aktuellen historischen Situation entgegenkommt, in der man Orientierung sucht. Das gilt erst recht im nichtdeutschen Raum: Da wurden wir sowieso immer schon eher im akademischen Bereich wahrgenommen, weil es so ein breites Spektrum von außerakademischen Theorieprojekten in den meisten anderen Ländern nie gegeben hat. In Lateinamerika zum Beispiel waren sie immer völlig baff, dass wir nicht an der Uni sind und dort lehren. Das wurde dort stillschweigend vorausgesetzt.

diskus Eben ist die Akademisierung von Krisis schon angeklungen. Diese Entwicklung betrifft vermutlich die Linke insgesamt. Wie verändert sie konkret eure Arbeit? Welche Gefahren seht ihr? Es liegt ja nahe, dass die Akademisierung auch etwas am Charakter der Theorie verändert.

Norbert Trenkle Gefahren gibt es sicher. Es ist aber einfach so, dass der außerakademische Theorieraum doch sehr prekär geworden ist und sehr ausgedünnt wurde. Daher ist es verständlich, dass theorieaffine Leute versuchen, sich im akademischen Betrieb einzurichten. Aber auch da sind die Zwänge ja nicht weniger geworden. Es gibt einen Anpassungsdruck, eine Publikationskonkurrenz und allerlei formale Verpflichtungen. Aber sicher gibt es auch gewisse Freiräume die man nutzen kann. In den letzten 15 bis 20 Jahren, war sogar Kapitalismuskritik wieder in einem gewissen Rahmen an den Unis möglich, anders als in den 1990er Jahren. Ich glaube aber, dass wir gerade an einem Wendepunkt sind, wo sich durch den rechten Vormarsch die Bedingungen wieder deutlich verschlechtern werden. Man sieht es in den USA gerade ganz akut, aber zeitverzögert wird das auch hier ankommen.

diskus Meine persönliche Beobachtung ist, dass sich mit der Akademisierung auch die Haltbarkeit von linken Organisationen und Zusammenhängen verkürzt hat: Häufig ist es so, dass Arbeitskreise, Zeitschriften, oder politische Gruppen zwischen Studierenden entstehen und dann, sobald diese Leute keine Studierenden mehr sind, auch wieder zerbrechen. Das war vermutlich in Zusammenhängen die nicht so eng an die Lebenswelt der Universität gekoppelt waren nicht so. Was macht man mit dieser Analyse? Braucht es eine »De-Akademisierung« der Linken? Oder ist das eher ein Schritt zurück als nach vorne?

Ernst Lohoff Na ja, also ich sehe die Akademisierung erst einmal als Reflex auf die Schwäche der sozialen Bewegungen: Es gibt diesen außerakademischen Raum der theoretischen Arbeit eben nicht mehr. Nun haben wir eigentlich ein Doppelproblem: Dieser staatsgeschützte Raum der Universität birgt bereits Widersprüche für linke Theoriearbeit, aber jetzt bricht selbst der zunehmend weg. Das liegt neben dem Aufschwung der Rechten auch an den Sparmaßnahmen der letzten Jahrzehnte. Die Rahmenbedingungen für linke Theoriearbeit können sich nur durch die Entstehung einer neuen sozialen Bewegung wieder verbessern. Dann könnte das Erkämpfen von Freiräumen selbst eine politische Forderung sein. Aber diese soziale Bewegung gibt es im Moment eben nicht. Insofern fällt mir jetzt nichts Optimistisches zu dem Thema ein. Vielmehr habe ich die Befürchtung, dass sich die Frage nach der Akademisierung linker Theoriearbeit in einigen Jahren gar nicht mehr stellen wird. In den USA wird der Wissenschaftsbetrieb bereits abgewickelt.

diskus Ich glaube aber, dass die Notwendigkeit einer außerakademischen Bildungsarbeit in der radikalen Linken heute wieder vermehrt gesehen wird. Beispielsweise orientieren sich manche wieder an klassisch-sozialistischen Theoriebeständen der zweiten und dritten Internationale. Das zeigt sich auch an den Organisierungsformen: Entweder man geht direkt zum Parteiaufbau über oder es wird mittels zivilgesellschaftlicher Projekte versucht die Grundlage einer neuen Klassenpolitik zu schaffen. Ihr hingegen sprecht ja dauernd von einer »sozialen Bewegung«, innerhalb der Bildungsarbeit stattfinden müsste, aber ich nehme stark an, dass ihr damit etwas anderes als Klassenkampf und Parteiaufbau meint?

Norbert Trenkle Natürlich denke ich, dass die außerakademische Bildungsarbeit, im Sinne einer Kritik der kapitalistischen Gesellschaft, ein wichtiger Bestandteil jeder sozialen Bewegung ist, die mehr sein will als nur eine Einpunktbewegung. So allgemein gesagt, ist das natürlich richtig, allerdings besteht die Frage, in welcher Form man diese Bildungsarbeit macht und mit welcher Orientierung. Den Parteiaufbau halte ich für einen völlig verfehlten Ansatz, weil das ganze Konzept der Partei überhaupt nicht mehr in die heutige gesellschaftliche Situation passt. Außerdem werden ja in der Regel nicht nur die alten Organisationsformen aufgegriffen, sondern eben auch die Inhalte der traditionellen Linken. Das halte ich für eine Sackgasse.

Ernst Lohoff Ja, mein Problem ist diese historische Analogisierung. Du hast in jeder größeren Bewegung verschiedene Elemente: Du hast ein Element sozialer Selbstorganisation und ein Element von allgemeinen gesellschaftlichen Forderungen. Beispielsweise hatte der Kampf um den Acht-StundenTag in der alten Arbeiterbewegung, über Jahrzehnte und länderübergreifend eine synthetisierende Funktion. Und du hattest eben auch eine alternative Welterklärung, also auch eine eigene Theorie. Nun gibt es heutzutage mit der Frage, wie diese beiden Dinge zusammenkommen können, ein massives Problem. Die alte Arbeiterbewegung stützte sich auf ein Sozialmilieu von Menschen mit ähnlichen Arbeits- und Lebensbedingungen, die in der bürgerlichen Gesellschaft nicht vollwertig anerkannt waren. Das verband sie und war Grundlage für gemeinsame Kämpfe und eine gemeinsame Weltdeutung. Anders als damals ist der Ausgangspunkt heute aber eine extreme Individualisierung. Das Verbindende ist also nicht schon gegeben, sondern muss erst geschaffen werden. Mir fehlt im Augenblick auch noch ein bisschen Fantasie, wie das funktionieren kann, aber ich denke, es wird ein Stück weit von den politischen Forderungen ausgehen müssen: Die synthetisierende Wirkung muss durch politische Forderungen erzeugt werden. Diese Forderungen müssen auf einen polarisierenden gesellschaftlichen Konflikt im Rahmen der kapitalistischen Krisenentwicklung zielen.

diskus Ihr meint also linke Organisierung sollte nicht von einem gemeinsamen sozialen Milieu oder einer gemeinsamen Alltagserfahrung ausgehen, sondern von politischen Forderungen oder Interpretationsmustern die an ein bereits bestehendes Krisenbewusstsein ansetzen können?

Norbert Trenkle Natürlich muss jede soziale Bewegung auch an Alltagserfahrungen anknüpfen. Nur macht es eben einen Unterschied, wenn die Alltagserfahrung aus Individualisierung und allgemeiner Konkurrenz besteht. Dann muss die Anstrengung erstmal darauf gerichtet werden, überhaupt wieder solidarische Zusammenhänge zu schaffen – das ist dann selber schon Inhalt der Politik. Es geht letztlich um die Entwicklung neuer Beziehungsweisen. Das ist etwas anderes als die Alltagserfahrung in einem gemeinsamen Milieu, die durch die Massenarbeit geprägt ist. Das ist aber nicht nur eine organisatorische Frage, sondern es ergeben sich auch andere Forderungen und Zielsetzungen daraus.

diskus Nochmal zurück zu Krisis: Wie kann dann kollektive Theoriearbeit heute noch funktionieren?

Norbert Trenkle Das ist eine schwierige Frage. So wie wir uns konstituiert haben und wie wir Theorie entwickelt haben, funktioniert es heute zumindest nicht mehr. Wir versuchen deshalb eine Kontinuität herzustellen, indem wir auch viel Bildungsarbeit, in Form von Online-Formaten, Sommercamps und Seminaren machen. Dieses Bildungsangebot richtet sich momentan vor allem an ein theorieaffines Publikum. Aber wie sich das Projekt Krisis weiterführen lässt ist wirklich eine schwierige Frage, auf die ich jetzt keine Antwort habe. Ich denke, es wird nur im Rahmen einer hoffentlich sich formierenden neuen sozialen Bewegung überleben.

Ernst Lohoff Wobei wir natürlich auch mit der Theorie ein Stück weit dazu mitwirken sollen und müssen, dass sich so eine Bewegung formiert. Theorie darf nicht nur so eine L‘art pour l‘art -Veranstaltung sein, sondern muss in letzter Instanz ein Veränderungsprogramm darstellen. Wie sich das konkret übersetzt, ist schwierig, weil all die Probleme, über die wir geredet haben, die stellen sich natürlich auch jetzt intern. Die Lebensentwürfe, die Norbert oder ich da hingelegt haben, die sind biografisch für die meisten, die heute dabei sind, nicht realistisch. Heute wechselt die Besetzung der Gruppe schneller als früher und es gibt nicht mehr den starken Verbindlichkeitsgrad. Das hat Vor- und Nachteile.

diskus Das klingt nicht sehr optimistisch...

Norbert Trenkle Es gibt leider auch viel Rückentwicklung, Regression in der Linken selber, die ich in der Weise nicht erwartet hätte. Vor allem die Reorientierung am traditionellen Klassenkampf-Marxismus bis hin zum stumpfen Stalinismus. Da fragen wir uns schon, was haben wir eigentlich erreicht? Man kommt sich ein bisschen vor wie in so einer Schleife: Wir haben uns damals abgearbeitet an den traditonellen Marxisten. Für uns, die aus den neuen sozialen Bewegungen kamen, waren die aus der Steinzeit, wir haben mit Genuss gegen die angekämpft. So hat sich unsere Gruppe damals konstituiert und jetzt, 40 Jahre später, kommt das wieder. Das ist schon etwas frustrierend.

Ernst Lohoff Vor allem die Renaissance des Klassenkampfdenkens finde ich extrem ernüchternd. Ich habe 1989 mit Robert Kurz zusammen einen Text geschrieben, mit dem Titel »Der Klassenkampf-Fetisch«. Heute wird das wieder ganz selbstverständlich vertreten, als hätte es die Kritik nie gegeben.

diskus Ich bin mir aber unsicher, ob die Dominanz postmoderner Weltanschauungen, die es vor der Rückkehr des traditionellen Marxismus in der radikalen Linken gab, so viel progressiver war. Aber natürlich ist es fragwürdig, wie progressiv ein Marxismus sein kann, der nur daraus besteht, alte Glaubenssätze aufzuwärmen. Spontan fällt mir dazu ein Beispiel ein: Bei der Kommunistischen Organisation (KO) – eine der wiederbelebten K-Gruppen – kann man jetzt den »Studiengang Kommunismus« studieren. Es gibt sogar verschiedene Module, in denen man dann lernt den Marxismus-Leninismus richtig »anzuwenden«. Davon abgesehen, dass sich die Akademisierung der Linken hier ironischerweise schon in der Begrifflichkeit zeigt, klingt das nach einem sehr instrumentellen Theorieverständnis: Wirklichkeit erkennt man, indem man sich die überlieferten Glaubenssätze nur genug reinprügelt.

Norbert Trenkle Ein zentraler Kritikpunkt von uns in den 80er Jahren, sowohl am traditionellen Marxismus als auch an den neuen sozialen Bewegungen, war auch dieser instrumentelle Theoriebezug. Man nimmt nicht die Theorie selbst ernst als eine Sphäre der Reflexion über die Gesellschaft. Sondern man greift einfach nur Denkfiguren aus dem Theoriekorpus heraus und wendet sie plump an, so wie du das gerade beschrieben hast. Das war schon unsere Kritik damals in den 80er Jahren, sowohl an der Linken als auch an den sozialen Bewegungen. So gesehen hat unsere Position nicht an Aktualität eingebüßt.