Die SPD an der Regierung, das war und ist auch noch der Traum von Millionen deutscher Arbeiter. Die SPD hatte es mit einer hauchdünnen parlamentarischen Mehrheit und einem liberalen Koalitionspartner 1969 geschafft. Sie übernahm die Regierung zu einer Zeit, in der Korrekturen der bisherigen Innen- und Außenpolitik notwendig geworden waren und in der die bis dahin regierende CDU sich als unfähig erwiesen hatte, das staatliche Steuerungs- und Krisenmanagement jenen Ansprüchen anzupassen, die die herrschenden Kapitalfraktionen an den Staat stellten. Mit einer Politik der Reformen sollte ein Modernitätsrückstand aufgeholt werden, der bereits zu einer bedrohlichen Verschärfung gesellschaftlicher Widersprüche geführt hatte. Außenpolitische Frontbegradigungen sollten dem deutschen Kapital Märkte eröffnen, auf die nicht länger verzichtet werden konnte.

Die bis 1969 regierende CDU, die über zwanzig Jahre schon die politische und ideologische Stabilität garantierte, hatte sich so sehr in die Legitimation des bisher Bestehenden verstrickt, daß es ihr unmöglich war, sich an die veränderten Bedingungen und Anforderungen nach der Restaurationsphase sofort und reibungslos anzupassen.

Die katastrophalen Verhältnisse an Schulen und Universitäten, in den Krankenhäusern, auf dem Wohnungsmarkt, die ungleiche Einkommens- und Vermögensentwicklung, die fortschreitende Verarmung der Städte und Gemeinden und die damit verbundene sprunghafte Verteuerung kommunaler Dienstleistungen, die Zerstörung der Lebensbedingungen durch eine anarchistische kapitalistische Produktion schienen nur mit dem sozialdempkratischen Programm überwindbar. Noch vor dem offenen Aufbrechen einer das gesamte System erschütternden Krise erhielt die SPD 1969 eine Chance und zugleich die Aufgabe, jene Schäden zu reparieren, die in der Phase der Stabilisierung des westdeutschen Kapitalismus entstanden waren.

Die SPD sollte die politischen Entscheidungen durchsetzen, durch die das Aufholen des Rückstandes der Produktivkräfte unterstützt und die an einigen Stellen brüchig gewordenen Massenloyalität wieder gesichert werden sollte.

Es kann nicht übersehen werden, daß der allergrößte Teil der westdeutschen Arbeiterklasse diesen Wahlerfolg und die Bildung der Regierung Brandt/Scheel auch als ihren politischen Erfolg angesehen hatte. Wer daran Zweifel hegte, mußte sich spätestens durch die spontanen Aktionen in den Tagen des von der CDU/CSU geplanten kalten Staatsstreichs auf dem Wege des konstruktiven Mißtrauensvotumseines Besseren belehren lassen. Für diese Regierung wurden bei jeder Tarifauseinandersetzung Opfer gebracht, die Ostpolitik dieser Regierung fand in der Arbeiterschaft Unterstützung, die persönliche Integrität des Parteivorsitzenden und Bundeskanzlers ermöglichte wieder eine Identifikation mit der Partei-Führung.

Selbst wenn diese Regierung nicht an korrumpierten und korrumpierbaren Abgeordneten gescheitert wäre, hätte sie die Unmöglichkeit, ihre Versprechungen einlösen zu können, eingestehen müssen. Die bescheidenen Ansätze einer Steuerreform und Reform des Bodenrechts stießen auf so massive Widerstände, daß letztlich nur noch dort reformiert werden konnte, wo alles beim Alten blieb. Die Arbeiterschaft konnte mit dieser sozialdemokratischen Reformpolitik am Beispiel des geänderten Betriebsverfassungsgesetzes ihre eigenen Erfahrungen machen. Sogar Forderungen der Gewerkschaften, die selbst noch nicht einmal Grenzen der kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse im Betrieb überschritten, blieben bei dieser „Reform der Betriebsverfassung" auf der Strecke. Das neue Gesetz hält ebenso wie das alte von 1952 an der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat und an der betrieblichen Friedenspflicht fest. Die Ausweitung der Rechte des Betriebsrates und der Individualrechte des Arbeiters ändern nichts an den Regeln, unter denen der Interessengegensatz im Betrieb ausgetragen werden kann. An keinem anderen Beispiel läßt sich der Charakter sozialdemokratischer Reformpolitik für die Arbeiterschaft so klar erkennen wie an diesem Gesetz. Das langwierige Feilschen um klägliche Änderungen einzelner Paragraphen offenbarte darüberhinaus, wo dieser Politik objektive Grenzen gesetzt sind.

Die SPD konnte der Massenloyalität der Arbeiterschaft sicher sein, so lange sie als Oppositionspartei nur ein scheinbar den Interessen der Arbeiterschaft entsprechendes Programm zu vertreten hatte und dieses Programm für unterschiedliche Interpretationen freien Raum ließ. Sowohl sozialistische Arbeiter als auch jene, die sich mit der bestehenden Wirtschaftsordnung identifizierten, konnten von dieser SPD erwarten, daß durch eine sozialdemokratische Regierung gerade so viel anders werden würde, wie sie für notwendig hielten. Da die Partei darauf angewiesen war, sich für einen Wahlerfolg die Loyalität und die politischen Erwartungen ganz unterschiedlicher politischer Richtungen zu erhalten, konnte ihr nicht daran gelegen sein, Widersprüche des sozialdemokratischen Programms zu klären. Sie mußte sogar daran interessiert sein, „linke" Interpretationen ihrer eigenen Strategie bzw. die Diskussion einer „linken" Strategie auf dem Boden ihres Programms zuzulassen, um auch jene Kräfte noch an die SPD zu binden, die Sozialisten sein wollten, sich aber aus den unterschiedlichsten Gründen zu einer sozialistischen Alternative zur SPD nicht durchringen konn-

ten .Die „Linken" in der SPD erfüllten daher für die SPD eine wichtige Funktion: Sie integrierten ein politisches Potential, das auf Möglichkeiten einer sozialistischen Politik wartete und das von diesen „Linken" auf Veränderungen in dieser Partei vertröstet werden konnte. Sich selbst gegenüber rechtfertigte sich diese „Linke" mit der fehlenden Alternative. Daß es ihre Aufgabe war, eine solche auch zu verhindern, mußte von ihr solange geleugnet werden, als ihnen die SPD erlaubte, sich in dieser Partei zu organisieren und in ihr politisch tätig zu werden.

Hat die SPD als Oppositionspartei sich die Massenloyalität der Arbeiterschaft erhalten können und — weil sie selbst darauf angewiesen war - den „Linken" in der SPD zu ihrer politischen Lebenslüge verholten, so wird das Verhältnis zwischen SPD und der Arbeiterschaft in dem Umfange von irrationalen Bindungen befreit, als sich durch die Erfahrung mit sozialdemokratischer Reformpolitik der objektive Interessengegensatz zwischen den Interessen der Arbeiterschaft und dieser Politik offenbart.

Das bisher blinde Vertrauen, es werde anders, wenn die SPD einmal an der Regierung sei, ist bereits bei einem großen Teil der Arbeiterschaft geschwunden. Der Erfahrung, daß nichts anders werden konnte, wird die Erkenntnis folgen müssen, warum sich durch sozialdemokratische Politik an den kapitalistischen Macht- und Herrschaftsverhältnissen nichts ändern kann. Zu dieser Erkenntnis wird die Arbeiterschaft nicht fortschreiten können, wenn die SPD in der Opposition die alten Illusionen wieder aufrechterhalten kann, von denen sie über Jahrzehnte hinweg gelebt hat. Die Arbeiterschaft muß die Möglichkeit haben, aus der Erfahrung mit sozialdemokratischer Politik zu lernen, um Erwartungshaltungen überwinden zu können, die diese Arbeiterschaft in einer irrationalen Abhängigkeit an die SPD gebunden haben. Es hilft einer sozialistischen Bewegung in der Bundesrepublik wenig, wenn in einer theoretischen Diskussion der Charakter der SPD analysiert wird, diese Analysen sich jedoch mit einem politischen Lernprozeß der Arbeiterschaft nicht verbinden lassen.

Der Charakter sozialdemokratischer Politik muß von der Arbeiterschaft in einer von ihr selbst durchgehaltenen Auseinandersetzung mit der SPD erkannt werden. Diese Auseinandersetzung beginnt bereits mit einer politischen Begründung für die Wahl der SPD bei den nächsten Bundestagswahlen: Wer nicht mehr SPD wählt, weil er sie schon immer gewählt hat und die SPD eben „seine Partei" ist, sondern weil eine Strauß-Barzel-Regierung verhindert werden soll, hat bereits einen ersten Schritt aus dieser irrationalen Abhängigkeit getan. Wer SPD wählen kann, weil das politische Kräfteverhältnis in der Bundesrepublik ihn dazu zwingt, und wer sich durch seine Wahlentscheidung nicht mehr mit jener Partei identifiziert, die er gewählt hat, der hat zu den bürgerlichen Parteien dieses parlamentarischen Systems bereits ein taktisch begründetes Verhältnis gefunden. Diese Taktik kann aber nur in einer Strategie begründet werden, deren Schwerpunkt in der Reorganisierung der Arbeiterbewegung an den Erfahrungen im Klassenkampf liegt.

Edgar Weick