Die Verhältnisse, die der Student heute im Fachbereich Humanmedizin antrifft und unter denen er seine Ausbildung absolvieren will, unterliegen einem wesentlidi komplexeren Bedingungsgefüge als in anderen Fachbereichen. Die Struktur und Funktion des Klinikums, das praktisch weitgehend unabhängig vom Hochschulbetrieb in gleicher Weise wie andere Krankenhäuser funktioniert, gehen als massive Trägheitsfaktoren in die politische Arbeit, in Lehre und Forschung ein. Sie lassen die Auseinandersetzungen nidit nur im studentischen Bereich sondern audi in großen Teilen der Selbstverwaltung als randläufig erscheinen: ihre Ergebnisse gewinnen nur sehr vermittelt Einfluß auf die tägliche Arbeit der meisten Mitglieder des Fachbereichs; deren Arbeitsbedingungen ändern sich kaum und ohne erkennbare Zielsetzung.

Dieser Zustand ist konstitutionell für den Fachbereich Humanmedizin und steht in Gegensatz zu der Entwicklung der Berliner Fachbereiche Humanmedizin, die durch das dortige Hochschulgesetz nicht wie in Hessen eine Sonderstellung gegenüber den anderen Fachbereichen einnehmen.

Das Hessische Universitätsgesetz vom Mai 1970 unterscheidet zwischen dem Fachbereich Humanmedizin und dem Klinikum der Johann-Wolfgang-Goethe-Universtität; es konstituiert neben der Selbstverwaltung des Fadibereichs den Vorstand des Universitätsklinikums, der unabhängig von den Kollegialorganen, denen Hochschullehrer, Assistenten und Studenten sowie ein „niditwissenschaftlicher* Bediensteter angehören, zuständig ist für alle Belange der Krankenversorgung.

Dem Vorstand gehören 3 Hodischullehrer sowie der leitende Verwaltungsbeamte des Klinikums an.

Entscheidend für die oben formulierte Entwicklung zeigt sich nun weniger die Tatsache, daß der Klinikvorstand alle wesentlichen Fragen über die kollegiale Selbstverwaltung hinweg verhandeln könnte, als vielmehr deren Gegenseite, daß die kollegiale Selbstverwaltung für einen bestimmten Bereich keinerlei Kompetenz hat.

Diese Trennung der Kompetenzen belegt zugleich die Erkenntnis, daß das Hessisdie Hochschul- und Universitätsgesetz in erster Linie dazu diente, die Konflikte der Ordinarienuniversität, die sich in der Entwicklung der Studentenbewegung 1967—69 eskalierten, zu lösen, ohne zugleich tiefergreifende Veränderungen über die Befriedung akuter Mißstände hinaus vorzunehmen.(l) Der Frankfurter Fachbereich Humanmedizin ist den Intentionen dieses Gesetzes exemplarisch und in wohl einzigartiger Konsequenz gefolgt. Die Organe der Selbstverwaltung, die Fachbereichskonferenz, der alle ca. 125 Hochschullehrer, 77 Assistenten, 48 Studenten und 5 „nichtwissenschaftliche“ Mitarbeiter angehören, der Fachbereichsrat aus 10 Hochschullehrern, 6 Assistenten, 4 Studenten und 1 „nichtwissenschaftlichen“ Mitarbeiter (2) sowie die 4 gesetzlichen Ausschüsse für Lehr- und Studienangelegenheiten, Forschung, Haushalt und Personal und gleichermaßen deren zahlreiche Unterkommissionen mit engen Arbeitsgebieten, z. B. Hörsäle, Zulassung, Akademische Krankenhäuser und nicht zuletzt der Strukturausschuß — dieser komplexe Apparat also, der sowieso nur wenigen Eingeweihten durchsichtig ist, hat in weit über 1000 Abstimmungen die Angelegenheiten der Forschung und der Lehre sowie der Organisation des Fachbereichs verändert oder bestätigt. Die 21 Mitglieder des Fachbereichsrats, der außer der Satzung alle Fragen des angedeuteten Katalogs verhandelt hat, haben mit erheblichem Arbeitsaufwand Kliniken in Zentren verwandelt, Abteilungen alter Art durch Abteilungen neuer Art ersetzt, Haushaltsanträge beschlossen, Haushaltsmittel verteilt, Assistenten für Professuren vorgeschlagen, neue Professoren berufen usw. usw. Jetzt nach l'/ä Jahren zeichnet sich massiv die Isolierung jener kleinen Gruppe von etwa 100 Aktiven in Rat und Ausschüssen ab, die Irrelevanz der meisten ihrer Beschlüsse, die aus der Sicht der Station x der Klinik y gerade an die Stelle eines „Chefs“ (Kilnikdirektor) mehrere „Chefs“ (Abteilungsleiter) gesetzt haben. Die Tatsache des Chefs blieb unberührt genauso wie die Inhalte, die gelehrt die Forschungsprojekte, die bearbeitet werden. An der Tatsache der Trennung von Privat- und Kassenpatienten hat sich genausowenig geändert wie daran, daß ein Kritiker dieses Systems wie der Frankfurter Assistenzarzt Hans Mausbach keinen Arbeitsplatz erhält.

Dies alles kennzeichnet die Situation einer Reform, für die niemand mobilisiert worden ist und die auch niemanden wirklich mobilisiert hat; denn auch die Widerstände gegen sie formierten sich eher aus psychologischen Motiven wie Angst oder ordinarialem Stolz, als aufgrund irgendwelcher tiefgreifenderer Veränderungen.

Im Bereich der Studentenschaft hat dieser Prozeß schwerwiegende Folgen: zum einen sind politisch aktive Studenten in die Gremien des Fachbereichs gegangen und haben dort die Entwicklung vorangetrieben, ohne ihren Charakter durchschaut zu haben, zum anderen sind die meisten Studenten des Fachbereichs desinformiert oder desorientiert durch das komplexe System der Selbstverwaltung, deren Irrelevanz nur bei der Organisation des Unterrichts zu Semesterbeginn und bei isolierten Auseinandersetzungen (1971 im Präparierkurs, 1970 im Biochemie-Praktikum) durchbrochen wurde.

Diese Demobilisierung weiter Teile der Studentenschaft hat im letzten Semester zu einer scharfen Auseinandersetzung innerhalb der Studentenschaft geführt. Organ der verfaßten Studentenschaft im Fachbereich Humanmedizin ist die Fachschaft Medizin; sie besteht aus 12 gewählten Studenten, die die Studenten des Fadibereichs vertreten. Durch die Konstituierung von Studentenvertretungen in den Fachbereichskonferenzen, die formal unabhängig von den Fachschaften sind, ergeben sich folgerichtig Auseinandersetzungen innerhalb der Studentenschaft. Dies gehört wohl ebenfalls zu den „Tücken“ des Hessischen Hochschulgesetzes, das effektiver auf die Schwächung der Studentenschaft gerichtet ist, als etwa das Berliner Hochschulgesetz, das mit der Abschaffung der Fachschaften zugunsten der Vertretungen in den Kollegialorganen keine Spaltung der Interessenvertretungen zur Folge hatte.

In der Fachschaft Medizin wurden nun im Sommersemester bei der Fachschaftswahl zwei Tendenzen deutlich:

— die eine, getragen von der Gruppe „ProMed“, deren Aktivität stark in den Gremien der Selbstverwaltung des Fachbereichs verankert ist, und dem rechtsgerichteten ADS („Fortschrittliche Medizin“) zielt ab auf eine Gleichschaltung der Fachschaft mit den Gremien: Listenwahlen über mehrere Tage (ähnlich den Wahlverfahren zu Parlamenten) sollen bei längerer Wahldauer mehr Studenten an die Wahlurnen bringen. Dies Verfahren hat aber die Konsequenz, daß sich die Wahl auf das Ankreuzen anonymer Listen beschränken kann;

— alternativ dazu forderten die linken Gruppen im Fachbereich ein direktes Wahlverfahrcn, das audi der Satzung der Studentenschaft entspricht; danach soll die Wahl auf einer Vollversammlung stattfinden, bei der alle Anwesenden Gelegenheit haben, sich mit den kandidierende» Gruppen oder Einzelpersonen zu besdiäftigen und eine wirkungsvolle Vertretung zu wählen. Dies Verfahren soll die Stärke der verfaßten Studentenschaft sichern, die gerade darin liegt, daß die Vertreter reale und aktuelle Tendenzen in der Studentenschaft artikulieren, daß sie in engem Kontakt mit Vollversammlungen der Studentenschaft die gesamte Studentenschaft politisch handlungsfähig machen.

Die Alternativen sind klar, und bereits bald nach Semesterbeginn wird eine Vollversammlung der Studentenschaft entscheiden müssen, ob die Fachschaft wie ein bürgerliches Parlanient gewählt wird oder ob direkte Demokratie innerhalb der Studentenschaft zur aktiven politischen Vertretung aktueller und längerfristiger studentischer Interessen betrieben wird Diese Entscheidung ist umso gewichtiger als sie vor dem Hintergrund der Situation im Fachbereidi stattfindet, wo sich die Selbstverwaltung mit ihren Funktionären — wie bereits gezeigt — weit über die Köpfe der Betroffenen hinweg entwickelt hat. Gerade hier kommt es darauf an, daß die Studentenschaft den Handlungsspielraum gegenüber den Gremien behält und ausbaut, der sie in die Lage versetzt, durch Aktionen aller von bestimmten Problemen des Studiums und der Berufsperspektive (Arbeitssituation in den Kliniken) Betroffenen, auf die Selbstverwaltung Einfluß zu nehmen.

Michael Krawinkel (SHB/SF)

(1) Zur Einschätzung solcher Reformen als Anpassungsreformen des kapitalitischen Staates und zum Charakter mobilisierender Reformen vgl. auch „diskus-Materialien 1 zur Strategieentwiddung“, erschienen im diskusVerlag, Dez. 1971.

(2) Konstitutionell im Sinne der Abtrennung des Bereichs der „Krankenversorgung“ von der kollegialen Selbstverwaltung ist auch die faktische Ausschaltung des als „nicht-wissenschaftlich“ diskreditierten Personals, das die größte Gruppe der Mitglieder des Fachbereichs, nämlich etwa zwei Drittel bildet. Der Vertretung seiner Belange werden 5 von 250 Sitzen in der Fachbereichskonferenz zugeteilt, was sie faktisch von jeder Mitbestimmung ausschließt.