Augsteins Spiegel-Bild

Am 17. Juli 1972 versprach Augstein seinem Leservolk, daß „angesichts der Zusammensetzung" der „jetzigen Chefredaktion der SPIEGEL parteipolitisch unabhängig bleiben wird". Alle, die es hörten, waren zufrieden. Die politischen Ambitionen des ersten Redakteurs (er über sich selbst) sollten nicht beeinflussend auf die Berichterstattung des Nachrichtenmagazins wirken. Seine Leser konnten weiterhin hoffen, daß das von dem damaligen Chefredakteur H. D. Becker beschriebene Story-Prinzip, „das sozusagen von oben her, von höherer Warte die Neuigkeiten miteinander verflicht und in ein erkennbares Beziehungssystem bringt", erhalten bleibt, daß der Spiegel seine politische Aufgabe, „seine Leser über politische Probleme, Sachverhalte und Zusammenhänge so klar, so gründlich und so schnell zu informieren, daß ihnen von keiner Regierung, keiner Partei und keinem Propagandisten ein X für ein U oder eine Schwäche als Stärke, eine Heuchelei als Tugend oder ein Unrecht als Recht vorgegaukelt werden kann", künftig in diesem Sinne wieder wahrzunehmen trachtet Zufrieden die einen, weil sie weiterhin wertfreie Information bezogen. Beruhigt die anderen, weil sie einen engagierten SPIEGEL nicht mehr zu fürchten hatten. Ver gessen waren bei Herausgeber und Chefredaktion die unruhigen SPIEGEL-Jahre. überholt die „Kraftprobe", die mit „der Amputation des linken Standbeines" beendet wurde. Verdrängt die Forderung nach demokratischer Mitbestimmung. Die begonnene „Repolitisierung" durch den Chefredakteur Gaus war erfolgreich zur Strecke gebracht worden. Der „Systemkritiker" und Keynesianer Augstein konnte das Fähnlein des letzten aufrichtigen Liberalen in seine Hände nehmen. Nach einjähriger Pause konnte er die Frage, ob er mit der RAF gebombt habe, mit einem klaren „nein" beantworten. Von Industrieohr zu Industrieohr klang sein „Mea Culpa" über die mittleren und großen Sünden gegen die Grundregeln der Informationsfreiheit! (Mitbestimmungstitel, Vermögensbildungstitel, Hochschulserie, Lehrlingstitel und Konzernartikel). Augstein hatte es geschafft. Er war Bundestagskandidat und das geplante unternehmerfreundliche Konkurrenz-Magazin von Grüner oder Springer endlich zum Scheitern verurteilt. Augsteins „Revolver-Journalismus" feierte fröhliche Urständ.

Die Ideologie des Spiegel unterscheidet sich keineswegs von der der Bildzeitung. Sie „ist nichts weiter als eine skeptische Allwissenheit, die an allem zweifelt außer an sich selbst" (Enzensberger). Was das Magazin allwöchentlich verkauft, ist nicht die objektive, sondern.die Vogelperspektive auf eine Welt, in der - bei soviel Distanz - die Herrschenden und die Beherrschten, die Unterdrücker und die Unterdrückten als äquivalent, als gleich schlecht und gleich lächerlich erscheinen. Dieser Vogel-Blick auf die Welt vermittelt dem SPIEGEL-Leser das Gefühl der Allwissenheit der Allmacht durch Information. Wie bei BILD wird eine totale Identifikation des Lesers mit der Perspektive des SPIEGELS erreicht.

Bis 1969 waren die SPIEGEL-Berichte für jeden erkennbar an Jacobis Formgesetz und an Augsteins Glaube, daß Männer Geschichte machen, gebunden. Studentische oder intellektuelle „Unbeherrschtheit“ wurde von den meisten Redakteuren kaum registriert. Nur die Redakteure Vater, Gremliza und Bayer wiesen nach den Osterunruhen 68 Blessuren auf. Zu wenige, um über die Geschehnisse und ihre Ursachen intern zu diskutieren. Als die APO kam, wußten Augstein und Jacobi, wo ihr Platz war. Sie wollten „sowohl den einzelnen wie die Gemeinschaft vor totalitären Ansprüchen in jedem Gewand" schützen. Den rechten und linken Extremismus setzte man dem Modell Ulbricht/Hitler gleich. Hauptobjekt der „Spiegel"-Kritik mußten nach dieser Devise nicht die Herrschenden sein, sondern diejenigen, die die Herrschenden radikal kritisieren. Augsteins SPIEGEL war zu vornehm, die Anti-Apo-Hysterie der Springer-Blätter mitzumachen. Er attackierte die Studentenbewegung mit subtileren, SPIEGEL-gemäßen Mitteln, ausgerichtet an seiner Zielgruppe (Verlagsdirektor H. D. Bekker: „Wir machen keinen SPIEGEL für Straßen bahnschaff ner").

Am 22. April 68 wußte der SPIEGEL unter der Leitung M. W. Henschels und Augsteins folgendes über die Unruhen zu berichten: „Es war Gründonnerstag 1968 - von den vier Evangelisten als jener Tag überliefert, an dem Jesus im Gärten Gethsemane von Judas mit dem falschen Bruderkuß den Hohepriestern verraten und ausgeliefert wurde.

Um 16.35 Uhr fielen vor dem Hause Nummer 140 auf dem Kurfürstendamm zu Berlin aus der Pistole des Anstreichers Bachmann drei Schüsse. Sie trafen Rudi Dutschke.

In der biblischen Geschichte schlug in der darauffolgenden Nacht ein zorniger Jünger dem Häscher seines Herrn spontan mit dem Schwert ein Ohr ab. In Deutschland schlugen in jener Nacht die Jünger Dutschkes spontan ohne Schwert mit Steinen zurück. Die radikalen Studenten gingen auf die Barrikaden .., Unbeirrt und unbelehrt marschierten die Deutschen wieder vertrauten Abgründen entgegen. Ideologie statt Politik, Fanatismus und Aufruhr kennzeichneten den Protest der radikalen Studenten gegen das Establishment des gebrochenen Rückgrats. Kungelei statt Politik, Hysterie und Knüppelsucht bestimmten die Reaktion der Republik auf das Utopia der Jugend ... Es kam zu Straßenschlachten, wie sie Westdeutschland seit der Weimarer Republik nicht mehr kannte. Auf der Strecke blieben zwei Tote, über 400 Schwer- und Leichtverletzte . .." Während der Artikel die Frage, auf wessen Konto die Toten gingen, nicht beantwortete, verriet Augstein in seiner Kolumne „Knüppel frei?” die Schuldigen.

Die zwei Toten der Ostertage gehenauf das Konto des SDS, daran gibt es kei-nen Zweifel. .. . Wenn der SDS programm-gemäß fortfahren will, Straßen und Druck-eingänge mit Gewalt zu blockieren, wirddie Polizei gewaltsam räumen; dann wer-den Steine und Bohlen fliegen, und zumSchluß wird niemand mehr wissen wollen,ob der Tote von einem Polizeiknüppel odervon einem Pflasterstein getroffen wurde.

Unbeirrt lehrte der Liberale seine Leser Hier endet das Verständnis für dieLernprozesse des SDS und seine „Guerilla-Taktik". Der lange Marsch in den Bürger-krieg, die Revolution in Scheibchen, malhier ein Toter, mal da ein Toter, muß auf-gegeben werden.

.. . Das Verhalten der Polizei war brutal und skandalös. Es wird zur Regel werden, wenn der SDS darauf beharrt, daß erberechtigt und fähig ist, Druckschriften denWeg zu verlegen.

Bis Mitte 69 versuchte der SPIEGEL jede Gelegenheit wahrzunehmen die verhaßten, „Polit-Utopisten" und „Radaubrüder" als die Demokratiefeinde Nummer 1 zu kennzeichnen. Landauf- und landabwärts mußte die terroristische Gefahr erkannt werden Da hilft kein Flehen mehr und keinBitten, Trennendes in die Schublade zu tunund Gemeinsamkeit zu suchen. Es gibtdiese Gemeinsamkeit nicht mehr, wie esübrigens zwischen Revolutionären und deretablierten Macht natürlich ist.

Durch den Angriff auf die Linke erhoffte sich der SPIEGEL dreifachen Vorteil: „Er pflegt sein nonkonformistisches Image, er kommt den Interessen seiner Anzeigenkunden entgegen, und er schmeichelt den Vorurteilen der priviligierten Mehrheit seiner Leser." Aus diesem Grunde stand Augsteins Urteil über die Terroristen innerhalb der APO fest. In seiner Kolumne „Prügel für uns alle" vom 10.2. 69 bezeichnete er die Frage, „wer mit der Gewalt angefangen habe" als „albernes Ratespiel". Er sprach für alle als er verkündete: ... Wir wollen das alberne Ratespielnicht mitmachen, wer mit der Gewalt onge-

Befreiungsaktion beteiligt war, im ersten Fluchtauto, dem Alfa Romeo?

Gab es Pläne darüber, in welchem Fal die Waffen eingesetzt werden sollten?

Gab es einen bestimmten Unterschlupf, oder haben Sie häufig das Quartier gewechselt?

Wer hat denn nach ihrer Meinung die verschiedenen Papiere verfaßt?" usw.

Hentschel nahm dem BKA eine Menge Arbeit ab. Fast alle gestellten Fragen waren bisher in den Fahndungen unbeantwortet geblieben. Das BKA versuchte durch den SPIEGEL, die festgefahrene Fahndungsmaschine wieder in Schwung zu bekommen Zu bemerken wäre noch, daß die linken Redakteure von dem Homann-Interview nichts wußten. Während man sich von der Öffentlichkeit noch bestaunen ließ, planten Augstein, Gaus und Engel den nächsten Coup. Ein Interview mit Ulrike Meinhof sollte allem die Krone aufsetzen. Weniger populär waren die Methoden, mit der man die Meinhof für dieses Interview gewinnen wollte. Man ließ sie wissen, daß, wenn das Interview nicht zustande käme, man die dem SPIEGEL zur Verfügung stehenden Adressen von „Kontaktpersonen und Sympathisanten" veröffentlichen würde. Die Fragen an Ulrike Meinhof blieben unbeantwortet, z. B.

1. Warum geben Sie nicht auf, warum stellen Sie sich nicht?

4. Sie haben sich, soweit das bekannt ist, vor allem an südamerikanischen Vorbildern orientiert. Akzeptieren Sie heute, daß zwischen den politischen Bedingungen der hochindustrialisierten europäischen Gesellschaften und der Gesellschaften der sogenannten dritten Welt ein Unterschied besteht, der die Revolution als ein politisches Mittel in unserer Gesellschaft - anders als n der dritten Welt ausschließt?

5. Was ist das nächste politische Ziel, das Sie sich in Ihrer jetzigen Situation setzen?

7. Wie lange meinen Sie, sich noch halten zu können? Mit welchem Ende rechnen Sie?

Am 24. 1. 72 erfuhren auch die SPIEGEL-Leser in dem SPIEGEL-Titel „In die Bank und durchgeladen" um welche „Vereinigung" es sich bei der Baader-MeinhofGruppe handelt: Ziel dieser Gruppe ist es, „das Systemder Klassenherrschaft und der Unterdrük-kung in der Bundesrepublik Deutschland"mit allen Mitteln, auch unter bewußter Ver-letzung der Rechtsordnung zu beseitigen.Vorbild für ihre Aktionen sind die Metho-den der südamerikanischen Stadtguerillas.

Das markiert den Anspruch derGruppe, nicht ihre Realität - der Wegführt „von scheinrevolutionären Phrasenüber einen blinden Aktionismus in die -mühsam, aber vergeblich politisch frisierte— Kriminalität.

Der Leser erlebte auf Grund der lebendigen Schilderungen von Banküberfällen alles richtig mit.

Um 9.58 Uhr gab Mahler „das Zeichen zum Aufbruch", dann so Ruhland später im Prozeß bündig: „In die Bank und durchgeladen".

Ruhland und Grusdat, durchgeladeneGewehre im Anschlag, sicherten den Ein-gang. Mahler, den Revolver in der Hand,rannte in die Mitte des Schalterraumes,rief: „Überfall! Hände hoch, ruhig verhal-ten. Es geschieht nichts, es ist nicht IhrGeld."Der Überfall in der Rheinstraße hattenur drei Minuten gedauert. Mahler beimRückzug: „Lösen Sie keinen Alarm aus,sonst schmeißen wir eine Bombe!" Er undGrusdat zündeten im Bankeinqang danneinen Nebeltopf, um den Verfolgern dieSicht zu nehmen In dem gleichen Artikel wurde der erste Sympathisant genannt. Es war Professor Peter Brückner, 49 Jahre alt. Auch dies blieb erhalten Am 31. 1. 72 wurden folgende Namen und Adressen, teilweise auch mit Bild der Öffentlichkeit vorgelegt: Dr. Gerhard Reitschert, Pfarrer Kurt Kaiser. Johannes Bornheim, Michael Schulte, Annelise Bornheim, Monika und Jürgen Seifert, Eicke Falkenberg - um nur einige zu nennen Der SPIEGEL unterschied sich in seiner Berichterstattung nicht mehr von der BildZeitung. Beide förderten die allgemeine Hysterie gegen die Linke in der BRD.

Am 29. 5. 72 charakterisiert der SPIEGEL: in seinem Artikel über die Bombenattentafe die Sympathisanten wie folgt: Die Randschichten regten sich nicht, dieStudenten übten bestenfalls „solidarischeKritik" und allein bei den „Hosenscheißern",den arrivierten Intellektuellen, fanden diegehetzten Guerilleros dann und wann Un-terstützung - Adressen oder Wohnungenfür ein paar Tage.

.. In der Eskalation ist mit demeigentlichen Kern der Aktionen zu rechnen:etwa mit Sprengungen von Wohnblocks,Liquidation einzelner bei den anschließen-den Hilfsaktionen eingesetzter Hilfskräfte(Feuerwehr, Ä'rzte, Krankenpersonal)...

Die inzwischen wahrscheinlich allge-mein herrschende Panikstimmung wirddurch weitere Aktionen wie Anschläge aufSchulen, Anschläge auf Warenhäuser undAnschläge auf öffentliche Verkehrsmittel,insbesondere U-Bahnen und S-Bahnen,verstärktUm sich die bis zu diesem Zeitpunktgeschaffene Situation zu verdeutlichen, mußman sich vor Augen halten, daß sie in kür-zester Zeit und mit äußerster Brutalitätausgelöst wurde.

Der totale Guerillakrieg in dem mo-dernen Industriestaat Bundesrepublik - nureine düstere Vision im Polizeifachblatt oderauch Konzept der Baader-Meinhof-Gruppe?

Soviel schien Ende letzter Woche klar:Es soll weitergebombt werden. Die RAFhat bereits angekundigt: „Am 2. Juni folgen weitere Aktionen in den Metropolen der Bundesrepublik." Augstein selbst meldete sich nach den Verhaftungen von Baader, Meins u. a. erst wieder zu Wort. Am 12. 6. 72 wusch Augstein in seiner Kolumne „Haben wir mitgeschossen?" seine Hände in Unschuld Kein Journalist kann Wert darauf le-gen, sich selbst zu zitieren, es sei dennzum Zwecke der Dokumentation. Als Ostern1968 bei Demonstrationen in Münchenzwei Menschen zu Tode gekommen warenund Rechtsanwalt Mahler das für „imgewissen Sinne unvermeidlich" hielt, habeich im SPIEGEL geschrieben:Hier endet das Verständnis für dieLernprozesse des SDS ... Auch ohne Sprin-ger und Strauß, ja sogar ohne Vietnam-krieg wäre die Mode des Anarcho-Verbre-chen wohl aus Amerika zu uns herüber-geschlagen. Die frustrierende Erkenntnis,daß sich an der Mechanik der Industrie-gesellschaften wenig bis gar nichts ändernläßt, produziert Kurzschluß.

Vergessen hatte Augstein seine APOInspirationen, verdrängt die zwei unruhigen SPIEGEL-Jahre. Während man der bundesrepublikanischen Gesellschaft mit aller publizistischen Macht wieder zu Ruhe und Ordnung verhalt, hatte sich auch innerhalb des SPIEGEL wieder alles zum „Guten" gewandelt. Man hatte den „Widerstandskäpfern" v. Hoffmann, B. Zeuner, D Brumm, O. Köhler u. a. gekündigt. Die angekündigte Kraftprobe endete mit der Amputation des linken Standbeines. Erfolgreich hatte Augstein eine Demokratisierung verhindert. Denn „Demokratie bedeutet" bei Augstein „nicht, daß jeder überall Bescheid wissen und über alles mitbestimmen muß". Wenn es so wäre, dann wäre im SPIEGEL „eine nichtarbeitende Opposition als Minderheit gegen die arbeitende Mehrheit tätig, dies Schreckensbild genügt, um die Untauglichkeit der parlamentarisch-demokratischen Regeln für unsere Arbeit darzutun. Permanenter Kampf zwischen ständig wechselnden Mehrheiten und Minderheiten müßte die Redaktion zerreißen ..." (Augstein). Zum Glück hatte man dies verhindert. Das Wort Agitation wird nun wirklich mit kleinem a geschrieben. Niemand sprach mehr von dem geplanten Konkurrenz-Magazin. Es war geschafft. Der SPIEGEL ist „wieder" ein System der Gewalt.

„Gewalt an der objektiven Nachricht, die zum bloßen Konsumartikel entstellt wird „Gewalt am geistigen Produkt Journali-sten, dem politische Erkenntnis und poli-tisches Engagement systematisch ausgetrie-ben werden — Gewalt am geistigen Produkt journalistischer Arbeit, dessen Stellenwert sich nur noch nach seinem Unterhaltungsfaktor bemißt". (Sechs kritische Redakteure im SPIEGEL-Verlag, 1. 4. 69.)Eva Braun