Der Tod ist ein Meister des Timings, manchmal jedenfalls: Just war Willy Brandt in die Grube gefahren und dabei einmal quer durch den Garten vereinnahmt, rhetorisch endgelagert und politisch entsorgt worden, da erwies sich, daß, knock-knock-knockin on heaven’s door, die nächste liebe Leiche schon ein paar Wochen lang paratgelegen hatte. Die Trauerredner waren, im Gegensatz zu ihren Objekten, noch richtig warm, gut im Schwung, voll im Törn quasi, auch der ölige Tonfall und der hohe Ton waren noch präsent. So konnte die ganze Blase, statt sich den von ihr ohnehin nicht beherrschten politischen Angelegenheiten widmen zu müssen, nahtlos einen weiteren „historischen Augenblick”, eine weitere „geschichtliche Zäsur” inszenieren und abfeiern, von denen die jüngste deutsche Geschichte gemäß offizieller Lesart nur so wimmelt, egal, ob es sich bei diesen Ereignissen um das Daherkrächzen der Nationalhymne durch unmusikalische ältere Männer, die Eröffnung einer fettigen Imbißbude in Ostdeutschland oder eben das Ableben ad acta gelegter Politiker handelt.

Petra Kellys postume Verklärung, Mythisierung, Mystifizierung, Märtyrisierung, Ikonisierung, Seligsprechung und Lobpreisung wird mit einer Geschwindigkeit, Selbstverständlichkeit und Widerspruchslosigkeit vollzogen, die entweder auf eine Generalamnesie ihrer Betreiber rückschließen läßt oder aber stutzig machen muß. Wie ein heiliger Heißluftballon schwebt Petra Kelly über den Wassern, als hätte man sie nicht noch so, wie sie öffentlich in Erscheinung trat, vor Augen bzw. vor allem im Ohr: eine jabbelnde und schrebbelnde Nervensäge, die ihre Klosterschülerinnenansichten von der Welt chronisch mit Politik verwechselte. Ihrer mit unerschrockener Stetigkeit wiedergekäuten geistfreien Bergziegenpredigt, daß eines Tages Mensch und Wolf und Schlammamöbe friedlich beieinanderliegen und den Gesängen der Buckelwale oder wenigstens denen von Joan Baez lauschen würden, begegnete man am besten mit achselzukkender Gleichgültigkeit, allenfalls mit leichtem Mitleid; daß man Petra Kelly nicht so vollständig ignorieren konnte, wie das angemessen gewesen wäre, lag nicht am mangelnden guten Willen, sondern allein an der Penetranz, mit der sie sich und ihre Themen - zuletzt: Kinderkrebs und ein tibetischer Pastor - in den Mittelpunkt öffentlichen Interesses zu rücken versuchte.

Die Grünen, deren Mitbegründerin sie war, hatten Petra Kelly längst aufs wohlverdiente Abstellgleis geschoben; das Durchatmen und die Erleichterung ihrer, hehe, Parteifreunde darüber, sie nicht mehr ständig am Kopf haben zu müssen, zog sich denn auch durch sämtliche Nachrufe; dabei regte sich natürlich das bei Vertretern dieser Partei eingebaute schlechte Christengewissen, das mit zentimeterdicker Schmiere übertüncht werden mußte. Lukas Beckmann z.B. erinnerte sich seines Poesiealbums und schrieb: „Liebe Petra / Lieber Gert / Warum jetzt / Warum so früh / Warum ohne Abschied / Warum ohne ein Wort / Ihr bleibt ja und seid doch fort / seid fort und bleibt doch”. Lyrik ist schwyrik, leicht wird sie schmyrik. Der Spiegel , der den Kitsch druckte (Nr. 44/ 92), bat auch die dazu hervorragend geeignete Antje Vollmer zur Leichenrede; die, der Toten in bezug auf Kopfinhalt und Diktion furchtbar ähnlich, meldete auch flink ihren Anspruch auf die Nachfolge als oberste Hoffnungs-, ja Hosenträgerin der Partei an, nannte die Tatsache, daß Petra Kelly nicht mehr dreimal täglich im TV zu sehen war, feist „eine Form der Folter” und hatte auch sonst die ihr eigene Melange aus Ahnungslosigkeit und Pathos voll drauf: „Das Leben der Petra Kelly bot sich an, den Mythos der Grünen zu verdichten wie der Körper von Janis Joplin, um die Geschichte der Rockmusik darauf zu schreiben.” Die Geschichte auf den Körper schreiben? Mit Filzstift? Ein schon begnadet durchgeknalltes, aber auch ziemlich janisjoplinverachtendes Anliegen.

Noch etwas wußte Frau Vollmer über Frau Kelly: „Die Möwe war ihr Lieblingstier.” Und Bärbel Bohley, die unvermeidliche Dritte im Bunde, war passend zur Stelle, als es galt, sich wichtig zu machen: Niemals wäre Petra Kelly „ohne politische Botschaft” freiwillig aus dem Leben geschieden, und da hat Frau Bohley ausnahmsweise einmal recht: Zu den Menschen, die die Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen würden, anderen noch nach dem Tod schwer auf den Senkel zu gehen, gehörte Petra Kelly sicher nicht.

Was also bleibt, letztlich? Eine Schwester Möwenherz, die, so scheints, von ihrem Möwenbändiger erschossen wurde, bevor der sich selbst den Garaus machte: Gert Bastian, ein ehemaliger WehrmachtsFreiwilliger, dem der Laden immerhin so gut gefiel, daß er später Bundeswehrgeneral wurde und kurz vor der Pensionsgrenze verblüfft entdeckte, daß dieser Verein kein durch und durch pazifistisch gesonnener sei, machte seine letzte Friedensbewegung und zückte nach dem Motto „Frieden schaffen mit immer kleineren Waffen” den Derringer: Piff und Paff und Schluß.

Die Affäre Kelly/Bastian, von einer wahlweise zum kollektiven Trauerkloß oder zur kollektiven Claque degenerierten, zahnlosen Öffentlichkeit zur „Tragödie” shakespeareschen Zuschnitts stilisiert, taugt eher zur Operette oder zur Schmierseifenoper für den gehobenen Abgeschmack. Demnächst - jede Wette! - in einem Theater ganz in Ihrer Nähe.

Wiglaf Droste

Der Text erschien am 29.10.1992 in leicht gekürzter Fassung im Neuen Deutschland