A uf den Namen Hans Magnus Enzensberger auf dem Umschlag einer der vielen Neuerscheinungen stoßen, das ist wie beim Namen eines eingeführten Spezialitätenrestaurants hängenbleiben, wenn eine Vielzahl neueröffneter Kebab-Bistros und Thai-Stuben die Sinne verwirrt: man möchte zwar gern etwas Neues probieren, hat aber auch Appetit, und so erinnert man sich daran, daß man chez Enzensberger noch nie ganz und gar enttäuscht worden ist. Er ist zwar nicht ganz billig, dafür stimmt bei ihm erfahrungsgemäß die Syntax der Speisenfolge, die Zutaten stammen von besten Lieferanten, bei den Hors d’oeuvres warten delikate Überraschungen, die Weinauswahl verrät den Kenner der nicht nur teuren, sondern auch wirklich guten Jahrgänge.

In diesem Herbst nun wartet Patron Enzensberger mit einem schnellen Beitrag zum Thema der Saison, Xenophobie und Migration, auf: »Die große Wanderung« steht ein wenig aufrüttelnd und zugleich beruhigend über dem Eingang; der bestimmte Artikel »Die« vor der Wanderung fordert dazu auf, sich dem Autor anzuvertrauen, er kennt sich aus und hat die Sache fest im definitorischen Griff So wie der moderne deutsche Chef de cuisine »eminces d’oignon« auf die Karte schreibt, wenn er Zwiebelscheiben meint, spricht Enzensberger, das nach dem Titel zu erwartende Genre benennend, nicht schlicht von »dreiunddreißig Bemerkungen«, sondern feinsinnig von »dreiunddreißig Markierungen«, wobei man allerdings nicht recht weiß, ob man bei der »Markierung« mehr an den Schreibcomputer oder mehr an die Drüsentätigkeit des eifersüchtigen Hauskaters denken soll. So trivial dürfen die erfahrenen Enzensberger-Leserlnnen freilich nicht denken, sie müssen schon ihre kulturelle Kombinationsfähigkeit bemühen und dann auf die Lösung kommen, daß diese »Markierungen« aus französisch-deutschen Umwegübersetzungen hervorgegangen sein müssen, die in einfacherer Ausführung auch als »Richtlinien« wiedergegeben werden könnten. Was aber so ernüchternd wirkt wie die Zwiebelscheiben auf der feinen Speisekarte

Geschichtsgesättigt, abgeklärt,unbeirrbar

Regt euch zunächst einmal nicht auf, sagt der Autor zu seinem erwartungsvollen, nach Richtlinien verlangenden Publikum: was da die neuesten, alarmierenden, Flüchtlingsanstürme meldenden Balkenüberschriften hervorbringt, ist überhaupt nichts Neues, Migrationen hat es schon immer gegeben, sie gehören sogar zur menschlichen Natur, denn ursprünglich war der Mensch ein Nomade, wie die Anthropologie herausgefunden hat, die Seßhaftigkeit kam erst später, und von der Bibel - ich sage nur Bauer Kain und Wanderhirte Abel - bis heute streiten sich beide Seelen in einer Brust. Auch Fremdenfeindlichkeit ist weder etwas Neues noch etwas Exotisches, denken Sie nur an Ihren eigenen bösen Blick, mit dem Sie den Fahrgast anstarren, der das Abteil betreten will, in dem Sie sich, nachdem Sie selbst mit bösen Blicken empfangen worden sind, gerade wohnlich eingerichtet haben: Statt Solidarität mit dem reisenden Schicksalsgenossen zu empfinden, dessen Rolle Sie eben selbst noch teilten, weisen Sie ihn als unerwünschten Eindringling zurück. So und nicht anders verhalten sich auch unsere die Fremden böse anstarrenden Völker, obgleich sie allesamt aus Migrationen hervorgegangen sind und mit ihrem aberwitzigen Reisedrang noch etwas von ihren nomadischen Ursprüngen behalten haben.

Das hört sich gut an, beziehungsweise liest sich angenehm. Durch die Gelassenheit der weltumspannenden und geschichtsgesättigten Enzensbergerschen Sprache wird die Bereitschaft gefördert, auch etwas schwerere Brocken zu verdauen, etwa die

Erkenntnis, daß unsere Gesellschaften an einer eigenartigen neuen Krankheit leiden, die der Autor pionierhaft »demographische Bulimie« getauft hat: er weist damit auf den in der Tat bemerkenswerten Widerspruch zwischen der Bekanntmachung hin, die den Flüchtlingen an der Grenze präsentiert wird, daß nämlich das Boot voll sei, und der häufig aus der gleichen Quelle stammenden Zwangsvorstellung, die Einheimischen könnten demnächst mangels Nachwuchs aussterben. Als »delirantes Gefasel der Gegenwart« erkennt Enzensberger mit der müden Geste des erfahrenen Diagnostikers sowohl die Parolen auf den Buttons demonstrierender Antirassistlnnen als auch die amtlichen Verlautbarungen der Ausländerpolitik, die von der illegalen Immigration ohnehin ad absurdum geführt wird. Klug macht er auf den gedankenlos zweideutigen Gebrauch des Worts Asyl aufmerksam, das einerseits Zufluchtsort, andererseits aber auch Armen- und Irrenhaus meint, und vertritt schließlich die Auffassung des allerdings ungenannt bleibenden Christoph Hein, daß im Grunde nicht die Fremden gehaßt werden, sondern die Armen in fremdem Outfit. Vieles liest man auch sonst nicht zum ersten Mal, aber es ist gerade der praktische Vorzug von »Die große Wanderung«, daß sie wie in einer Taschenanthologie Argumente und Einfälle zusammenfaßt, die sonst allenfalls in entlegenen Zeitschriften und nur antiquarisch aufzutreibenden Büchern aufzufinden wären.

Wie sieht Enzensberger nach dem Stand all dieser Erkenntnisse augenblicklich die wahre Lage bei der großen Wanderung? Erstens wird das Flüchtlingsproblem von allen Seiten mystifiziert. Zweitens nimmt die Assimilationsfähigkeit der einheimischen Gesellschaft ab, weil die Menschen nun einmal nicht zu ändern sind, was gerade die Kapitulation des Unternehmens Sozialismus vor den anthropologischen Konstanten bewiesen hat. Drittens überschätzt die tröstliche Vorstellung, Flüchtlingsströme könnten durch Verringerung des Gefälles zwischen Armutsregionen und reichen Metropolen verhindert werden, völlig die Kräfte der industrialisierten Welt. Viertens gibt es überhaupt keinen Ausweg aus dem Dilemma globaler Ungleichheit, in das uns die Kombination menschlicher Naturkonstanten und strukturell anonymer Entwicklungsprozesse geführt hat, laßt also alle Hoffnung fahren und richtet euch zu Hause auf den Ernstfall ein. Im Angesicht dieser seiner eigenen Einsicht befällt den von hoher Warte herunterblikkenden Autor plötzlich selbst der Schrekken und vertreibt die weitgereiste Gelassenheit.

Unter der launigen Überschrift »Über einige Besonderheiten bei der Menschenjagd. Eine Fußnote« kommt ein unerwartet dickes Ende nach: für Leserinnen und Leser, denen Enzensbergers Interventionen aus den letzten Jahren präsent sind, allerdings nicht ganz unerwartet. Sich der einheimischen Aktualität in Brand gesteckter Asylunterkünfte nähernd, gibt Enzensberger gut demokratisch seiner Abscheu vor der Gewalt Ausdruck und kritisiert vehement die Zurückhaltung einer Polizei, die zu anderen Zeiten in der Lage war, für jeden einzelnen AKW-Gegner einen behelmten Beamten abzustellen. Da ist er ja wieder, der alte kämpferische Enzensberger, jubelten in Deutschland mehrere Rezensenten auf, die bis zu dieser »Fußnote« bedauernd den strukturalen Fatalismus des Autors konstatierten, da hat er es ihnen wieder einmal gegeben, denen da oben in den Kanzlerbüros und Parteivorständen Vor lauter Begeisterung über den wiedergewonnenen radikalen Kritiker wurde nur übersehen, daß es, im Gegenteil, am Ende diejenigen von ganz unten sind, denen ihr Autor es gibt.

Das EnzensbergerscheSchreckensszenario

Nicht die sehr gegenwärtige Bedrohung des Lebens von Ausländern und Ausländerinnen in Deutschland ist es, was den Autor am meisten beunruhigt, sondern das, was aus der Bedrohung folgen könnte. »Wenn der Staat sich weigert, sie zu schützen, werden sich bedrohte Einzelpersonen oder Gruppen aus Gründen der Notwehr bewaffnen müssen. Für den notwendigen Nachschub wird der internationale Waffenhandel sorgen. Sobald sich die Gegenwehr ihrerseits hinreichend organisiert hat, kommt es zu förmlichen Bandenkriegen, eine Entwicklung, die in Großstädten wie Berlin und Hamburg bereits zu beobachten ist.« Von wem geht die Gefahr denn aus, wenn nicht von den »bedrohten Einzelpersonen oder Gruppen« der Asylbewerberinnen und Flüchtlinge? Von bedrohten deutschen Kleingärtnern, Vegetariern, Grundschullehrern oder Porschefahrern ist vorher schließlich nicht die Rede gewesen. Wenn diesem Drehbuch zufolge Tamilen, Sudanesen, Afghanen, Bosnier und andere vom Asylbewerberheim aus den großen Bandenkrieg starten, der auch noch Düsseldorf und München in Angst und Schrecken versetzt, verwandeln sich die Opfer von heute in die Täter von morgen, entwirklicht sich die reale, von Einheimischen hinterhältig gegen Ausländerinnen ausgeübte Gewalt zugunsten einer die Rollen vertauschenden bizarren Zukunftsvision. Warum sich also heute über erschlagene Flüchtlinge aufregen, sagt die abschließende »Fußnote«, wenn morgen alles noch schlimmer kommt? Vielleicht kommt es in Deutschland in Zukunft noch schlimmer, doch aller Voraussicht nach nicht aus der Richtung, in die Enzensberger starrt. Darin liegt der einzige, für entsetzte Zeitgenossinnen jedoch wenig tröstliche Trost, den »Die große Wanderung« bereithält: nach den jüngsten Erfahrungen mit der Verläßlichkeit Enzensbergerscher Prognosen wird sich auch dieses Schreckensszenario in der Wirklichkeit blamieren Nach dem Mordaufruf gegen Salman Rushdie sah Enzensberger schon Massen fanatisierter Muslime durch die Bundesrepublik lärmen; in Wirklichkeit rührte sich hierzulande nichts. Während des Golfkriegs sah er Millionen todessüchtiger Araber für Saddam Hussein aufmarschieren, so daß »der Preis für die Entfernung Saddam Husseins astronomisch sein wird«; auch da wieder Fehlanzeige. Vielleicht sind solche Ausbrüche prospektiver Panik der Preis, den Enzensberger für die Anstrengung zahlen muß, jede Regung von Veränderungswillen oder gar utopischem Denken niederzuhalten und gegenüber der gegenwärtigen Desorientierung immerzu die einmal übernommene Rolle des entspannt teilnahmslosen Beobachters zu spielen. Sie sind auf ihre Weise eine Flucht ins Nirgendwo, weg von der undankbaren Verpflichtung, dem Realen, das er allen über es Hinausträumenden auftrumpfend entgegenhält, auf intellektuell pragmatische Weise auch Rechnung zu tragen. Der Realist, der sich hier präsentiert, ist ein Utopist, der das Futter nach außen trägt.

Enzensberger hat eine außergewöhnliche Nase für Marktstimmungen, das beweist er immer wieder mit den rechtzeitig ans Licht beförderten Ausgrabungen für seine verdienstvolle »Andere Bibliothek« Für das, was sich in der Realität anbahnt, reicht dieses Gespür nicht aus. Der Markt ist eben nicht die ganze Wirklichkeit.

Lothar Baier

(erstveröffentlicht in der Züricher Wochenzeitung WOZ) Hans Magnus Enzensberger: Die große Wanderung, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1992, 75 Seiten, 19.80 DM