Ein preußischer Individualist
Ende vergangenen Jahres hat der DDR-Autor Günter de Bruyn eine Autobiographie veröffentlicht, zunächst als Vorabdruck in der FAZ, dann in einer Buchausgabe des S. Fischer-Verlags.
Da er als ein Erzähler gilt, der sich niemals politisch kompromittiert hat (sein Kollege Ludwig Harig bezeichnet ihn als „einen bis zuletzt nicht korrumpierten Schriftsteller”), ist dem Buch viel Beachtung zuteil geworden.
Alle Besprechungen loben einhellig die nüchterne, unprätentiöse Art der Darstellung. Alle zitieren und billigen de Bruyns Vorbemerkung, daß er diesmal im Unterschied zu seinen Erzählschriften die „Wahrheit” gesagt habe. Nahezu alle Rezensenten - mit Ausnahme Reich-Ranickis in der FAZ vom 18. 4. 1992 begrüßen es, daß er sich in diesem Buch auf die Mitteilung einfacher Wahrheiten beschränkt hat; und sie bewundern ihn für den Wagemut, daß er sich darauf eingelassen hat, die Innenansichten eines gewöhnlichen Lebens bzw. die gewöhnlichen Anpassungsprobleme eines Jugendlichen während der Jahre 1930 bis 1949 zu beschreiben. Frank Schirrmacher rühmt das Buch in der FAZ (4. 12. 1991) als ein „einzigartiges Dokument ... nicht mehr der geteilten, sondern der gesamtdeutschen Literatur”. Andreas Isenschmid würdigt es in der ZEIT (27. 3. 1992) als „ein Charakterbild von hohem politischem Lehrwert”.
E ist der Sinn, aber auch die Schwierigen von autobiographischen Schriften, daß sie in der individuellen Lebensgeschichte die Geschichte der Zeit zur Darstellung bringen. Bei den Erinnerungen öffentlicher Personen, die an der Macht und an Entscheidungen beteiligt waren, deren Hintergründe zu ihrer Zeit unbemerkt oder verhüllt blieben, ist das Allgemeininteresse sachlich begründet. Dasselbe gilt für Lebensberichte von Individuen, die unterdrückten Minderheiten angehörten, politisch verfolgt wurden oder in sozialen Milieus leben mußten, von denen die bürgerliche Öffentlichkeit ungerne Kenntnis nimmt. - In jedem anderen Falle gibt es das Legitimationsproblem, was die Erfahrung eines Individuums bedeutsam machen könnte. Im 18. Jahrhundert sind Formen der Selbstbeobachtung und Schreibtechniken entstanden, die diese Bedeutsamkeit konstruieren. Wer wollte Rousseaus „Bekenntnissen” oder der Jugendgeschichte von Karl Philipp Moritz das Interesse absprechen. Und für jede Zeit muß man annehmen, daß in einem angepaßten, in der Normalität geführten Leben psychologische Entdeckungen möglich sind. - Doch die Bedeutsamkeit dieser Selbstbeobachtung ist auch von den Sozialverhältnissen abhängig. Im 19. Jahrhundert, als sich für die Bildungsschicht die Erfahrung des von Rousseau beschriebenen „inneren Bürgerkriegs” auf die Periode der Adoleszenz zu beschränken beginnt, werden die Rückblicke aus gesicherter Altersposition schematisch: es sind Lebensläufe von Honoratioren, die nach dem Muster der einander ablösenden Jahreszeiten Reifeprozesse schildern und die Weisheit der Resignation predigen.
De Bruyn hat seine Jugenderinnerungen in dieser Tradition geschrieben. - Gleich zu Anfang kündigt er eine Fortsetzung an. Er habe diesen „Zwischenbericht” 1986 als Sechzigjähriger begonnen, „mit achtzig” wolle er eine „Bilanz” seines gesamten Lebens vorlegen. Zur Rechtfertigung des Unternehmens sagt er, es „soll eine Vorübung sein: ein Training im Ich-Sagen, im Auskunftgeben ohne Verhüllung durch Fiktion”; denn in seinen bisherigen Erzählschriften habe er um sein „Leben” nur „herumgeschrieben”, nun verspricht er, „die Wahrheit zu sagen” (S. 7). Er baut daher auf seinen Status als namhafter Schriftsteller, auf ein kommunes Verständnis von Dichtung als verdeckter Konfession und auf das Interesse seiner Leser, mehr über seine Person zu erfahren, als er bisher - in seiner Eigenschaft als „berufsmäßiger Lügner” - preisgegeben habe.
Was aber hat er zu enthüllen? Er hat zwei Beweggründe, die Geschichte seiner Jugend zu schreiben, und es sind zwei Leitlinien, die die Erzählung perspektivisch - auf den Mann, so wie man ihn kennt und wie er zu uns spricht - ausrichten. Zum einen drängt es ihn, aus Pietät zu den Eltern und Geschwistern von seiner Familie Zeugnis zu geben. Er besitzt Fotos, Briefe und Manuskripte seiner Angehörigen und übernimmt anstelle des ältesten Bruders, der eigentlich zum Literaten bestimmt war, im Krieg aber umgekommen ist, das Amt des „Familienchronisten”. Aus ernsten und scherzhaften, bisweilen ironisch kommentierten Anekdoten entsteht das Erinnerungsbild einer katholischen Lebensgemeinschaft, die den Kindern persönliche Sicherheit gibt. Das Familienleben hat zwei Pole: den protestantischen Ordnungssinn der Mutter, der Tochter eines preußischen Subalternbeamten, und den Unruhegeist des Vaters, der aus einer Schauspielerfamilie kommt. De Bruyn bezeichnet die Beziehung der Eltern als „Widerspiel von Liberalem und Autoritärem” (S. 20) und deduziert daraus nach der Mendelschen Regel die Charaktere der drei Söhne (die Tochter Gisela wird nach einem Auftritt von der Bühne verwiesen). Der Älteste zieht das große Los, engagiert sich in der als Widerstandsmilieu dargestellten katholischen Jugendbewegung und bringt deren ,intellektuell veredelten’ Nationalismus in die Panzertruppe der Wehrmacht ein, die er als Zufluchtsort begreift. Dem anderen Bruder, der in der Familie nicht gut tut, wird die Obrigkeitsgläubigkeit der Mutter zugeteilt; er geht aus Überzeugung zur Wehrmacht und kommt in der Sowjetunion zu Tode. Der Jüngste, die jugendliche Ich-Person, schwankt zwischen den Dispositionen der Eltern; ihm wird das besagte „Widerspiel” in die Seele geschrieben, was ihn in lebenslangen ,inneren’ Konflikt mit dem Staat bringt, was sich aber am Ende als produktiv erweist. Sein Leben ist nach dem Muster des „Tonio Kröger” literarisch vorgezeichnet. Er wird das später nachlesen und sich resigniert darein ergeben.
De Bruyn selbst bezeichnet das zweite Motiv als ,Selbstbeschau’, als Versuch, seine Einnerung mit den ihm fremd gewordenen Tagebucheintragungen und Briefen der Ich-Figur in Einklang zu bringen. Dabei will er insbesondere die „eigene Verwobenheit ins Historische” darstellen.
Tatsächlich aber konstruiert er das Portrait eines Schriftstellers als jungen Mannes, dessen Oberschuljahre und erste intellektuelle Orientierung in die Kriegszeit fallen. Vorgeführt wird ein Außenseiter, der Anfechtungen und „Versuchungen” ausgesetzt ist und sich vergeblich bemüht, ihrer mit Hilfe von Büchern Herr zu werden. Die Anfechtungen gehen von der Macht aus: in der Jugendclique, der Schule, in den paramilitärischen Ausbildungslagern und in den Kasernen der Hitler-Armee; es sind mit Zwang nachdrücklich gemachte Verführungen zum „Kollektiv”, zum Massendasein. Der junge Mensch widersteht, wenn auch mit Angst; unauffällig zieht er sich in sich selbst zurück, bestärkt von anderen „Individualisten”, die sich mit ihren Überzeugungen, ihrem Nietzsche, Hölderlin und dem Jazz offener distinguieren. Psychologisch sind diese Konflikte nicht plausibel gemacht. Vorgegeben ist vielmehr eine Identität, in die dank der Familie die Außenwelt nicht eindringen kann, die Identität eines Nonkonformisten und Antimilitaristen, den die hündische und soldatische „Männerwelt” verstört. Die Erfahrungen,
die der Erzähler der Ich-Figur zuschreibt und dem Leser vermittelt, sind auf den Nenner einer „praktischen Männerpsychologie” gebracht. - Die „Versuchungen” haben Mädchengesichter, deren „Liebreiz” sich aber stets verliert, sobald sie den Mund aufmachen. Jeder Annäherungsversuch endet in Enttäuschung; keine der Umworbenen hält dem „Traumbild” stand, das der platonische Liebhaber sich macht. Nun läßt es der Erzähler zwar an Ironie nicht fehlen, insgesamt autorisiert er das Ideal und die frustrierende Erfahrung des Jungen aber doch. Denn regelmäßig stellt sich heraus, daß Frauen „Plattheiten” reden und schreiben, daß ihr Interesse und Denken aufs Praktische beschränkt sind. Sie bringen den jungen Mann nicht weiter; und wenn er von ihnen etwas lernen könnte, wie im Falle der Antifaschistin Ilse, dann ist das nicht ihr Verdienst, sondern liegt in der Tradition ihrer sozialdemokratischen Familie. Der Stereotypie dieser Frauenportraits, die sich bereits in der Charakterisierung der Mutter abzeichnet, entspricht die schematische psychologische Darstellung, die die Berührungsängste der IchFigur immerzu auf das „Traumbild” und schließlich auf die Marienverehrung der Kindheit zurückführt.
Es sind Alltagssituationen, die de Bruyn erzählt. Sie halten sich gänzlich im Rahmen der - durch den NS-Staat abgesteckten - Normalität. Der Erfahrungshorizont der Ich-Figur ist so beschränkt, daß er an Zeitereignisse, die noch ungeklärt wären, nicht heranreicht und der Autor, um die Leserinnen zu informieren, seine Erinnerungen durch Kenntnisse ergänzen muß, die aus Geschichtsbüchern stammen. Es fehlt in der Darstellung aber auch das Interesse für eine politische Psychologie, die die „Verwobenheit” der Ideale und Leitbilder der Ich-Figur (Nietzsche, Hölderlin) ins „Historische”, also die funktionelle Verschränktheit von intellektueller Selbstverwahrung und Anpassung aufdecken und mithin über die ideologischen Integrationsmechanismen im Nationalsozialismus unterrichten könnte.
Wenn demnach weder der Stoff von Interesse ist noch de Bruyn eine Schreibweise gefunden hat, die ihn hätte interessant machen können, was hat ihn dazu veranlaßt, sich mit diesem Erinnerungsprojekt fünf Jahre lang herumzuquälen?
Seine persönlichen Gründe - das Familienarchiv, die Altersschwelle „mit sechzig” - spricht er selbst an. Sein Status als prominenter Schriftsteller erklärt die Konzeption der ,inneren’ Entwicklung, des „geistigen Erwachens” über Büchern. Und mit diesem Legitimationsaspekt hängt gewiß auch die für die Ich-Figur vorgesehene Identität zusammmen: das „Anderssein als die anderen” auf dem Boden eines „Familienkatholizismus”, wie es in der „Selbstdarstellung” heißt, die de Bruyn im Oktober 1990 aus Anlaß seiner Berufung in die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung vorgetragen hat.
Aber es steckt hinter dem AußenseiterPortrait noch ein anderes Motiv. Der Grund für diese Vermutung ist eine Bemmerkung im letzten Kapitel der „Zwischenbilanz”, die ich für naiv, aber auch für unglaubwürdig halte. Sie besagt, daß das Ende der DDR auf die Ausführung des Buchs keinen Einfluß gehabt habe. Die Zeit- und Stoffeinteilung des vorliegenden Texts spricht dagegen. Hundert Seiten sind der Familien- und Kindheitsgeschichte gewidmet; 200 Seiten behandeln die Jugendzeit während des Kriegs. Wahrscheinlich war ursprünglich geplant, mit dem Jahr 1945 zu schließen. Dann wäre das Ganze eine Widerstandsgeschichte geworden, die Geschichte einer hilflosen Selbstverwahrung gegen Zumutungen des NS-Staats. - Es gibt in der gedruckten Ausgabe aber einen 80seitigen Anhang, der augenscheinlich nach dem November 1989 entstanden ist; und darin verfolgt der Autor eine veränderte ideologische Linie.
Bis dahin nämlich ist die Darstellung unpolitisch gehalten: sie schildert die Verrohung der Menschen (Männer) im nationalistischen und militärischen Kollektiv und erklärt sie - mit Bezug auf Hölderlins Brief über die Deutschen - als die Folge eines bereits in der Weimarer Zeit bemerkbaren „Wahn- und Präzisionsdenkens”, dem die „Ethik” habe zum Opfer fallen müssen (S.23). Im Anhang hingegen, der über die Anfänge der staatlichen Organisation in der Sowjetzone berichtet, wird die Kollektivismus-Kritik politisch: Die FDJ, die antifaschistische Neulehrerausbildung, die von kommunistischen Aktivisten geleiteten Behörden, - es ist das alte Übel, der „Zwang zum verordneten Denken”, die „Uniformierung der Kinder”, dieselben Lieder, „Fahnen und Marschkolonnen”. Die Kommunisten bauen auf den Deformationen auf, die die Nazis den Menschen zugefügt haben.
Ebenso grob polemisiert de Bruyn mit der Allerweltssentenz, daß die Macht korrumpiere, gegen die „Sieger”. Bei den USSoldaten vermißt er die Bildung und jedes Verständnis für die moralische Not der Deutschen; ja er ist bedenkenlos genug, die Präsenz „nackter Schwarzer” auf preußischem Kulturbesitz zu monieren. Daß das kein Versehen ist, läßt sich den Ausführungen über die „Russen” entnehmen. Sie beginnen mit der Erwägung, ob die von den Nazis geschürte Panik vor den „Steppenhorden” begründet sei. Dann geht der Verfasser zum Thema der Vergewaltigung deutscher Frauen’ über und verbindet damit eine Abhandlung über „verordnetes Schweigen” und die traumatisierende Wirkung von kollektiver Verdrängung. Für den neuen Staat sei das Thema tabu gewesen; das habe ihn ,schizophren’ gemacht und seine antifaschistische Selbstdarstellung hohl werden lassen. Schließlich macht er sich selbst zum Vorwurf, daß auch er bisher geschwiegen hat. Aber es gab dafür einen Grund, er habe das antikommunistische „Vorurteil” nicht bestärken wollen. - Und nun? Jetzt hält de Bruyn die Zeit für reif und die Leser für vorurteilslos genug, um auf das völkische „Ressentiment” zurückzukommen. Er hat sich eben vorgenommen, wie über alles Übrige so auch über dieses dunkle Kapitel der deutschen Geschichte die „Wahrheit” zu schreiben, und muß feststellen, daß sich die Rotarmisten damals als „verhaftende, beschlagnahmende, demontierende” und notzüchtigende Soldateska aufgeführt hat, allerdings nicht ohne versöhnlichen Hinweis auf die „ungleich größere deutsche Schuld” (S.301). Als Sachverständiger für nationale Traumata muß man schließlich alles bedenken.
De Bruyn ist mit dem Bericht über die Rückkehr der Ich-Figur ins Zivilleben und über das anamnetische Beichterlebnis vor seiner Trauung im Sommer 1947 bei sich selbst angelangt. „Nach jahrelangem Lager- und Kasernenleben, wo mein Gefühl mit Angst und Ekel, mein Verstand mit Überlebensstrategie beschäftigt war und Uniformität in Kleidung, Tagesablauf und Gebaren nivellierend gewirkt hatte, führte diese Beichte, die nur mir als Individuum galt, mich zu mir selbst zurück. (...) Es war wie ein Erwachen, ein Erwachsenwerden” (S.358). Er ist als „christlich-pazifistischer Individualist” mit sich vorerst im Reinen. Und darin besteht der Sinn des Anhangs: Der Autor hat sich vorgestellt als Dissident der ersten Stunde.
Gisbert Lepper
In: Günter de Bruyn „Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin”, Frankfurt 1992