Wolfgang Pohrt zeichnet in seinem Buch die bundesrepublikanische Entwicklung des Jahres 1991 nach, indem er einen Dreisprung des Massenbewußtseins in den autoritären Staat und in die „Vorkriegszeit” annimmt: erstens, den „Golfkriegspazifismus” als „friedensseligen Haß auf Israel und die USA”, zweitens, die „Ausländerverfolgung” als „offenen Haß gegen den Rest der Welt innerhalb der Landesgrenzen”, und drittens, den „Serbienfeldzug” als „offenen Haß gegen den Rest der Welt außerhalb der Landesgrenzen”. Das Material liefert vor allem die Tagespresse mit ihren Berichten, Meldungen und Kommentaren zum zweiten Golfkrieg, zu den Angriffen auf Flüchtlinge in Hoyerswerda und zum Krieg in Jugoslawien. Was seine Zeitungsauswertung - etwa der Pressekampagne gegen Serbien - erneut ans Licht zerrt, lohnt sich nachzulesen, weil es den Blick für die Großmachtambitionen in Deutschland schärft. Die fünfzig Seiten allerdings, auf denen er das Interview mit einer knapp fünfzigjährigen „Frau M. (wie Mittelstand)” wiedergibt und kommentiert, können schleunigst überblättert werden, denn es handelt sich um analytische Schaumschlägerei, aus ihren blödsinnigen Antworten so etwas wie einen Bericht zur psycho-politischen Lage der Nation im Frühjahr 1991 machen zu wollen.

Nun behauptet Pohrt zwar mit seinen Texten, weder einem „Konzept” zu folgen, noch eines zu entwickeln, aber seinem Vorgehen liege doch die Methode zugrunde, mittels „Übertreibungen” in der „allgemeinen Unwirklichkeit mitunter Spuren von Realität zu finden”. So erkennt der Analytiker im Spiegel der „Irrealisierung der Wirklichkeit” die Realitätsspuren eines allgemeinen gesellschaftlichen Zerfalls. Mehr noch, er erkennt die „erstaunliche Kontinuität” des „deutschen Nationalcharakters” und faßt ihn an einer Stelle so: „Deutsch sein ist, wenn erwachsene Menschen für ihre Entscheidungen keine Verantwortung übernehmen wollen; wenn sie sich wie Kinder, aber ohne kindliche Naivität von blinden Trieben und Impulsen lenken lassen und nachher glauben, Schuld hätten die anderen.” In dieser definitiven Fassung taucht nun doch sein „Konzept” auf. Positiv gewendet: Verantwortung ist das glatte Gegenteil von Ressentiment. Pohrts Kritik der Linken speist sich aus dem Wissen, daß die Faschisierung der Gesellschaft da einsetzt, wo sich Ressentiments mit sozialem Protest verschmelzen und zur Volksbewegung geworden „im Staat einen mächtigen Erfüllungsgehilfen finden”. Daran sich zu beteiligen, ist verantwortungslos; dies zu erkennen, bedarf es keiner nationalen Zuschreibung, schon gar nicht des Hantierens mit vulgärpsychologischen Begriffen wie „Nationalcharakter”, „infantile Verantwortungslosigkeit” und dergleichen.

Die Diagnose der von Ressentiments beherrschten „Irrealisierung” wird so zur Ausrede für die eigene theoretische Haltlosigkeit. Der Begriff der Verantwortung andererseits kann sich derart entleeren, in sein Gegenteil verkehren und in das Umschlagen, was er in letzter Konsequenz für die Herrschenden schon immer bedeutet hat, nämlich in die Legitimation der „autoritären Lösung” und in die komplementäre Anerkennung des bedingungslosen Gehorsams, die nicht nur „blinde Triebe und Impulse” lenken, sondern auch das Herrschaftskalkül und das Bestreben nach reibungslosem Funktionieren. Wo Pohrt sich der Verschränkung von „irrationalem” und „rationalem” Handeln theoretisch zu stellen hätte, bügelt er mit einer geschliffenen Formulierung darüber hinweg: „Vielleicht zeichnet den Faschismus im Anfangsstadium aus, daß die zunächst noch harmlos erscheinende Wirklichkeit sich in konventionellen Kategorien schon so wenig begreifen läßt wie später die furchtbare Realität der Vernichtungslager.” Sicher ist aber, daß solche Formulierungen nur dem einfallen können, der die Kritik des realen Herrschaftsprozesses längst auf ihre Attitüde reduziert hat.

In seinen Beiträgen zur Gewaltpraxis der Kolonisierung Lateinamerikas, der Judenverfolgung, der Inquisition, der Folter, der Konzentrationslager und des Massenmordes in den NS-Vernichtungslagern stellt Jan Philipp Reemtsma die theoretische Bestimmung des Verhältnisses von Irrationalität und Rationalität des menschlichen Handelns in den Mittelpunkt seiner Betrachtung. Sie sind demnach in den institutionalisierten Formen der Grausamkeit zu einer „Logik des Terrors” verkoppelt, die sich in unvorhersehbaren Steigerungen entwickeln kann und mit herkömmlichen Rationalitätserwägungen, etwa der Zweck-Mittel-Logik, nicht zu fassen ist. Sie läßt sich, Reemtsma zufolge, auf drei Ebenen beschreiben: auf „individueller” Ebene motiviert sie Täter zu Wiederholungstätern aus Angst vor Vergeltung, auf „staatlicher” Ebene, in den Apparaten der Justiz, der Polizei bis hin zu den Konzentrationslagern, zerstört sie die Antizipation von Handlungsbedingungen, die eine konsistente Gegenstrategie zur Voraussetzung hat; und auf der „epochenübergreifenden” Ebene schließlich stellt sie die Gruppe der Verfolgten unter einen Verdacht, der ohne Indizien auskommt, und ihr Fehlen kann sogar zum Beweis umgedeutet werden, wie etwa die Kontinuitäten des Antijudaismus im Antisemitismus zeigen. In der „Logik des Terrors” manifestiert sich die kalkulierte Form der Unberechenbarkeit, die potentiell unbegrenzt und unendlich terroristische Handlungen hervorruft, die nur den Zweck haben, terroristische Maßnahmen zu effektivieren.

Mit Bezug auf den Rassismus betont Reemtsma, daß das einzige Argument gegen die „fortdauernde gesellschaftliche Praxis der Diskriminierung und Verfolgung” nur sein kann, „diese Praxis unmöglich zu machen”. Zieht man nun die drei Ebenen in Betracht, auf denen die „Logik des Terrors” zu beschreiben wäre, so müßten Gegenstrategien allerdings gleichzeitig darauf zielen, die Wiederholungstat zu verhindern, die Imperative der repressiven Staatsapparate zu konterkarieren und das Kontinuum der Bedrohungsmythologie, der „christlich-abendländischen Tradition” auf-

zusprengen. In seiner Argumentation zur Gegenwehr beschränkt sich Reemtsma allerdings auf Hinweise für die erste und die dritte Ebene. Dies war nicht immer der Fall, wie seine Beiträge zum Konflikt zwischen Hamburger Senat und Hafenstraßenbewohnerinnen und -bewohnern aus den achtziger Jahren und seine Initiative zur „Entstaatlichung des Problems” dokumentieren. Die Position des „bürgerlichen Intellektuellen” (so Reemtsma über Reemtsma) ermöglichte ihm eine doppelte Bezugnahme auf soziale Kräfte, die sich selbst als anti-staatliche Bewegung definierten. Zum einen wies er Anforderungen von seiten des Senats zurück, die Rolle eines Büttels bei der Exekutierung polizeilicher Maßnahmen gegen die Hafenstraße zu spielen; zum anderen kritisierte er die linken „befreiungsnationalistischen” Parolen, Sprüche und Flugblätter, die in der Hafenstraße und nicht nur zu der Zeit und an diesem Ort - kursierten, und zeigt an ihnen, wie sich in „Gedankenlosigkeit” Antisemitismus ausbreitet.Bezogen auf die dritte Ebene erinnert Reemtsma in Anknüpfung an Freud daran, daß die Vorstellung, menschliche Grausamkeit widerspreche menschlicher Kultur und Zivilisation, wie die Vorstellung, menschliche Grausamkeit sei Resultat einer das Barbarische kultivierenden Zivilisation, die „Dialektik und Dynamik der Produktion von Grausamkeit”, eben jener „Logik des Terrors” verfehlen. Denn: „In der Grausamkeit verbündet sich die Zivilisation mit sich gegen sich. Die Grausamkeit ist die Ausbeutung des Unbehagens in der Kultur durch die Kultur zu ihrer eigenen Zerstörung.” Wer dies bis in die sublimiertesten Formen der Philosophie nachvollziehen will, der oder dem sei am Rande die Rede Witzlosigkeit und In-humanität. Philologische Gedanken überden Kalauer empfohlen; in meinen Augen der beste Text des Sammelbandes, obgleich er die Destruktivität des dadaistischen Witzes und die dadaistische „Attacke auf herrschende Semantik” unterschlägt. Überhaupt ignoriert Reemtsma die avantgardistischen Ansätze im 20. Jahrhundert weitgehend, so die Surrealisten, die mit der „europäischen Kultur, ja sogar jeglicher Kultur, die auf den unerträglichen Grundsätzen von Notwendigkeit und Pflicht beruht” ( La revolution d’abord et toujours! 1925), zu brechen versuchten.

Dessen ungeachtet verweisen Reemtsmas philologische Beiträge aber auch auf „Gegenstrategien”, zumindest Gegenbestrebungen, die sich der jeweils herrschenden politischen Tendenz entziehen, etwa auf Lessings „Nathan der Weise” (ein „Stück radikaler Anti-Religiosität” - „voller Humanität, d.h. Intoleranz und Haß gegen die christliche Mordreligion”), auf den antinationalen Aufklärer Christoph Martin Wieland (“Vaterlandsliebe? Nazionalgeist? - Lieber Wilibald, wozu dieser Eifer?”) und auf Arno Schmidts Schwierigkeiten und doch Beharrlichkeit in der Auseinandersetzung mit der verlegerischen Zensur um den Roman „Das steinerne Herz” in den fünfziger Jahren. Ein Beispiel: ,„Wenn ich nicht schon von Geburt Atheist wäre, würde mich der Anblick Adenauer-Deutschlands dazu machen’/heißt es im OriginalManuskript./,Wenn ich nicht schon von Geburt Atheist wäre, würde mich mancher Anblick hier im Lande dazu machen.’/ schlägt Krawehl vor.,'Wenn ich nicht schon von Geburt Atheist wäre, würde mich der Anblick Deutschlands dazu machen!’/korrigiert Schmidt und fügt ein zuvor nicht vorhandenes Ausrufungszeichen ein.” Nicht um aus der Geschichte Lehren zu ziehen, gibt der Autor Reemtsma solche Hinweise, sondern um am historischen Beispiel die eigene Reflexion zu konkretisieren. Darin unterscheiden sich - um die alten Begriffe zu verwenden - die undogmatischen von den dogmatischen Linken. Schon in einem hinzugefügten Ausrufungszeichen und dem Beharren auf einem Wort kann sich hier und da niederschlagen, was der Begriff Verantwortung, den Pohrt um den Preis seiner Entleerung der sozialen Praxis entzogen hat, bezeichnen soll. Reemtsma selbst nennt „Verantwortlichkeit” lediglich „die moralische Übersetzung der tatsächlichen Trivialität, daß Handlungen Folgen haben”. Zugleich kann dieser Gedanke aber auch klar machen, daß der Rückzug der Intellektuellen auf die „individuelle Ebene” wie auf die „epochenübergreifende Ebene” kein hinreichender Ersatz für die Unterstützung politischer Opposition und die gesellschaftsverändernde Praxis ist, die linke Politik genannt werden kann.

Jost Müller

Wolfgang Pohrt: Das Jahr danach. Ein Bericht über die Vorkriegszeit. Berlin 1992 (352 S., 34,DM)

Jan Philipp Reemtsma: u.a. Falun. Reden & Aufsätze. Berlin 1992 (440 S., 49,- DM) Beide Edition Tiamat im Verlag Klaus Bittermann, Berlin.