Es gehört, seit der Gründung des französischen rechtsextremen Front National vor inzwischen zwanzig Jahren, zum politischen Ritual dieser Partei, daß ihr Präsident, der ehemalige Fallschirmjäger, Folterer im Algerienkrieg und Verleger nazistischer Broschürchen Jean-Marie Le Pen, vor seinen Anhängern und allen, die es sonst noch hören wollen, regelmäßig verkündet: „Ich werde der nächste Präsident der Republik”. Spätestens seit dem 24.

April 1988, als im ersten Durchgang der Präsidialwahl 14,4 Prozent der Wählerinnen und Wähler ihre Kreuzchen hinter seinem Namen machten, wird diese Ankündigung in Kommentaren und Analysen, politischer Publizistik und soziologischen Essais fast zwanghaft wiederholt. Der „Effet Le Pen” wird so zum Selbstläufer stilisiert und eine bedrohte Republik beschrieben. Gegen den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg des Front National wird an die Ideen der Aufklärung und an den Geist von 1789, an die Ideale liberte, egalite, fraternite appelliert, wird der Kampf der Dreyfusards 1 , die Tradition der Volksfront und das Erbe der Resistance beschworen. Weitgehend ausgeblendet bleibt dabei häufig ein politisches Gravitationszentrum von Le Pens Politik. Sein Projekt - „eine VI. Republik ... in einem Europa der Vaterländer” - zielt auf die Zerstörung der national-etatistischen Flegemonie durch die Mobilisierung der in der jüngeren Geschichte Frankreichs immer existierenden „nationalpopulistischen” Strömungen, auf eine völkische Republik gegen die Tradition der Staats-Nation.

Die Gemeinsamkeit aller Demokraten

Es war Michel Rocard, Sozialist und damaliger französischer Premierminister, der 1990 in einer Parlamentsdebatte erklärte: „Frankreich ist kein Einwanderungsland mehr” und damit die Abkehr von der bisherigen, auf Integration von Migrantlnnen zielenden Politik des Parti Socialiste begründete. Der republikanische ehemalige Staatspräsident Valery Giscard d’Estaing hatte zwar zuvor bereits die gleiche Formulierung benutzt, ist aber inzwischen dazu übergegangen, ein Wortspiel von Le Pen aufzunehmen und von „l’immigration-invasion” zu reden. Edith Cresson, Sozialistin und Nachfolgerin Rocards, stimmt denn auch mit den Gaullisten Jacques Chirac und Charles Pasqua grundsätzlich überein, daß für Einwanderung eine Quotenregelung zu schaffen sei... Die Reihe ließe sich noch sehr lange fortsetzen: Wenn von den Spitzen der bürgerlichen Parteien in Frankreich heute gegen den Front National eine „republikanische Front” (Mitterand) empfohlen wird, so ist beim Thema Immigration nicht zu erkennen, wo die Unterschiede liegen. Die sogenannte demokratische Mitte vertritt identische rassistische Positionen. „Auch wenn Giscard wie Le Pen redet - die Leute werden das Original der Kopie vorziehen”, konnte der Chef der größten rechtsextremen Partei Westeuropas zufrieden feststellen - und hat um seine Zukunft so wenig Sorge wie Haider, Schönhuber oder Dillen, die mit ähnlichen Worten die völkisch-nationale Entwicklung

der „bürgerlichen Mitte” in Österreich, Deutschland und Belgien kommentieren.

Die Dynamik der national-populistischen Mobilisierung seit Mitte der achtziger Jahre in Frankreich ist nicht Le Pens Verdienst, er liefert ihr jedoch nicht selten die passende Formulierung. So ist es kaum erstaunlich, daß einer Le Monde- Umfrage zufolge fast zwei Drittel der Befragten der Meinung waren, Le Pen sei der einzige Politiker, „der laut sagt, was viele Franzosen leise denken”. In der diskursiven Inszenierung des Bildes vom (durch die Wirtschaftskrise, den Kommunismus und die EG-Bürokratie, den Verfall der Familie, des Glaubens und AIDS) „bedrohten Frankreich”, das dieser Mobilisierung ständige Referenz ist, spielt der Front National eine Hauptrolle. Immigration ist in diesem Diskurs Synonym jeglicher Bedrohung: „Das Phänomen der Immigration bedeutet fortwährend, daß auf der Zukunft unseres Landes eine tödliche Bedrohung lastet”, schreibt Le Pen in dem 1985 erschienenen La France est de retour und klagt deshalb das „Recht auf eine legitime Verteidigung unseres Volkes, unserer Nation und Europas” ein. Für diese Art Selbstverteidigung der „Integrität und Identität Frankreichs” fordert er programmatisch: „Les Fran$aises d’abord” - Franzosen zuerst. Wie diese Forderung in der Praxis umzusetzen sei, erklärt Jean-Yves Le Gallou, Absolvent der Verwaltungs-Eliteschule ENA (Ecole Nationale de l’Administration), heute Abgeordneter des FN in der Ile-de-France. In La Preference nationale: Reponse d l’immi-gration (Nationale Bevorzugung: Antwort auf die Einwanderung) propagiert er die Bevorzugung von Franzosen bei der Vergabe von Subventionen und Steuererleichterungen, Arbeitsplätzen und Stipendien, Sozialwohnungen und Sozialhilfe. Entsprechende Maßnahmen fordert auch das Parteiprogramm des Front National, Pour La France. Wie sehr solche Vorschläge heute durchaus mehrheitsfähig sind, zeigt das Beispiel der Region ProvenceAlpes-Cöte d’Azur. Im südfranzösichen Regionalparlament konnte die FN-Fraktion im Mai 1968 erreichen, daß maghrebinische Immigrantinnen im Altstadtkern von Marseille zukünftig bei der Vergabe von Sozialwohnungen nicht berücksichtigt werden

Eine Lösung ä la Vichy

Wenn der FN die „Preference nationale” für Französinnen und Franzosen fordert, so sind damit nicht alle gemeint, die heute einen französischen Paß besitzen. Im gegenwärtigen französischen Staatsbürgerrecht sind drei mögliche Rechtsprinzipien, die die Zugehörigkeit zum nationalen Kollektiv regeln, kombiniert: die Familiengenealogie oder Ehe (ius sanguinis), die territoriale Zuordnung (ius soli) und die Möglichkeit, die Einbürgerung per Dekret zu erlangen (Naturalisation). Der FN läuft insbesondere gegen das einer völkischen Homogenisierung im Weg stehende ius soli Sturm. Andere Formen der Einbürgerung sollen - entsprechend der Parole „Franzose sein ist ein Verdienst” - an Prüfungen und Bewährungsfristen geknüpft werden. Das Prinzip des ius soli, das als Kernstück des Code de la Nationalite in der jakobinischen, national-etatistischen Tradition verankert ist, ermöglicht hingegen allen auf französischem Territorium Geborenen, mit der Volljährigkeit ohne weiteres französische Staatsbürger zu werden, unabhängig von der Herkunft oder Nationalität der Eltern.

Um gegen die geltenden Bestimmungen des Staatsbürgerrechts eine „natürliche Ordnung” wieder herstellen und in Zukunft eine „französische Identität in unserer europäischen Gemeinschaft, einer Schicksals-, Kultur-, Glaubens- und Zivilisationsgemeinschaft” (Megret) bewahren zu können, stellte der FN 1911 einen Katalog von „Maßnahmen zur Regelung des Einwanderungsproblems” zusammen. Bruno Megret, derzeit als Delegue General des FN eine Art Chefideologe, entwickelt darin ein Programm, das von Le Monde - Journalisten mit „les rassengesetze” verglichen wurde: „1. Die Bedingungen schaffen für eine Regulierung der Einwanderungsprobleme. 2. Das Staatsbürgerrecht umgestalten. 3. Die nationale Identität schützen. 4. Jegliche weitere Einwanderung unterbinden. 5. Die Sozialansprüche abwehren. 6. Die Rückkehr der Immigranten in ihre Heimatländer organisieren. 7. Die notwendige Vertreibung wirksam durchführen.” Unter diesen Hauptlinien faßt Megrets Vorlage fünfzig Vorschläge zur Realisierung zusammen: sie reichen von der Überwachung von Einwanderern und strengeren Grenzkontrollen, dem alleinigen Zugang zur Staatsangehörigkeit über die Familiengenealogie, der Einführung von „Immigrantenquoten” in den Schulen und dem Stop der Familienzusammenführung, über die Verweigerung jeglicher Sozialleistungen, die Abschiebung von illegalen, straffällig gewordenen oder arbeitslosen Einwanderern, bis zum „Schleifen der ethnischen Ghettos”, der Überprüfung aller Einbürgerungen nach 1974, zwangsweisen AIDS-Tests und der Einrichtung von „Zentren zur bewachten Unterbringung” in der Nähe von Häfen und Flughäfen. Mit diesem Programm will der Front National alle Mittel eines autoritären Maßnahmestaats gegen die angebliche Bedrohung der „französischen Identität” mobilisieren. Der Vorbildcharakter einer „solution vichyste”, einer Lösung nach Vichy-Art, steht dabei außer Zweifel.

Megret propagiert in diesem Zusammenhang eine „nationale Revolution” gegen „Kosmopolitismus und Dekadenz”, Le Pen predigt eine „Nationalität gegründet auf das Recht des Bluts nach deutschem Vorbild” und fordert die Besinnung auf die Werte „Arbeit, Familie und Vaterland”. Der Front National aktualisiert so in seiner national-populistischen Mobilisierung politische Traditionen und ideologische Elemente, die im Faschisierungsprozeß der dreißiger Jahre bereits virulent waren und für den „Etat Fran^ais”, das Regime von Vichy nach 1940 konstitutiv wurden

Die „Revolution Nationale”

Das Ende der dritten Republik markiert wie schon den Anfang - eine militärische Niederlage Frankreichs im Krieg gegen Deutschland; und beide Male wird der Nationalstaat in einer „Atmosphäre des Bürgerkriegs gegen die Arbeiterklasse” rekonstruiert, wie es Leon Jouhaux, damals Vorsitzender der Gewerkschaft CGT, Ende der dreißiger Jahre formulierte. Doch führte die blutige Niederschlagung und politische Ausschaltung der sozialistischen Arbeiterbewegung 1870/71 und 1940 zu entgegengesetzten Konsequenzen. Nach dem Sieg über die Pariser Commune konnte die „republikanische Synthese”, das heißt der Klassenkompromiß zwischen großer Bourgeoisie, traditionellem Kleinbürgertum und bäuerlichen Kleineigentümern um das grundlegende Prinzip der Verteidigung des Eigentums, auch die Arbeiterklasse national-etatistisch über einen laizistisch und egalitär ausgerichteten Zentralstaat politisch und ideologisch einbinden. Das Regime von Vichy versuchte hingegen, als Synthese monarchistischer, klerikaler, nationalrevolutionärer und faschistischer Kräfte und technokratischer Modernisierer einen völkisch und korporativ orientierten autoritären Ständestaat zu etablieren. Mit der Zerschlagung der Gewerkschaften und der Ausschaltung der Arbeiterparteien wurden zugleich die Voraussetzungen geschaffen, neue „amerikanische” Arbeits- und Produktionsprozesse einzuführen. Die korporatistische Umgestaltung der Ökonomie, die Abfassung einer „Arbeitscharta” und die Zusammenfassung aller am Produktionsprozeß Beteiligten in „Berufsfamilien” war dabei dem Ziel einer „Lconomie Dirigee” untergeordnet, wie auch die Schaffung von Organisationskomitees zur Rohstoffverwaltung und die Einrichtung eines zentralen Planungsbüros.

In der militärischen Niederlage gegen Nazideutschland sah die völkisch-nationale Reaktion die Chance einer sogenannten „Revolution nationale”. Ihr Tribun wurde Marschall Henri Philippe Petain, der „Sieger von Verdun”, der als scheinbarer Repräsentant des bäuerlichen Frankreich und „Retter des Vaterlands” sich zunächst auf einen Massenkonsens stützen konnte. Petain ließ sich im Juli 1940 von der Nationalversammlung in Vichy mit allen legislativen

und exekutiven Vollmachten ausstatten, erklärte sich kurz darauf zum „Chef des französischen Staates”, vereinigte das Amt des Staatspräsidenten und des Premierministers auf sich, unterstellte die Rechtsprechung seiner Kontrolle, löste das Parlament auf und schaffte die Republik ab. Er beseitigte das allgemeine Wahlrecht, das Vereinigungs- und Streikrecht. Die öffentliche Verwaltung wurde von „republikanischen Elementen” gesäubert, Bürgermeister für alle Gemeinden mit mehr als 2000 Einwohnern investiert. Freimaurerlogen wurden aufgelöst, ihre Mitglieder ebenso verfolgt wie Gewerkschafter und Kommunisten. ,Juden französischer Nationalität” waren ab Oktober 1940 zunächst einem Statut unterworfen, das ihre Bürgerrechte weitgehend aufhob und sie aus dem öffentlichen Leben ausschloß, ausländische Juden wurden gleichzeitig in Lagern interniert. Auch bei der Deportation von 75000 Jüdinnen und Juden in die Vernichtungslager der Nazis ab 1942 achtete das Vichy-Regime darauf, „selbst zu handeln”. Diese Maßnahmen dienten nicht zuletzt dem Ziel, durch „Akte der Bewährung”, durch Kollaboration von den nationalsozialistischen Siegern als Partner in einem „neugeordneten” Europa anerkannt zu werden. Petain hatte bereits 1936 befunden, es sei „unverständlich, daß sich zwei Nationen wie Deutschland und Frankreich nicht verstehen sollten” und darum eine „gemeinsame Politik” gefordert.

In der „nationalen Revolution” von Vichy gelang es zugleich, große Teile der antirepublikanischen und profaschistischen Rechten ideologisch zu sammeln. Zu dieser gehörte insbesondere die traditionsreiche Action Frangaise um Charles Maurras, die seit der Dreyfus-Affäre zum Zentrum der monarchistischen Reaktion wurde, und die völkisch-regionalistische, romantisch-antikapitalistische und vor allem antisemitische Elemente verknüpfte.

Petain nannte Maurras „le plus fran^ais des Frangaises”, den französischsten aller Franzosen, nicht zuletzt aufgrund dessen Hasses gegen „jakobinische Uniformität und Universalismus” und die „demokratische Pest” des republikanischen, angeblich von .Juden und Freimaurern” beherrschten Zentralstaats. Neben der Action Frangaise, deren Aristokratismus in erster Linie intellektuelle Eliten mobilisierte, zog das Vichy-Regime vor allem auch den Massenanhang der bonapartistischen, katholischen, bäuerlich-populistischen und nationalrevolutionären Ligen und Mitglieder von Organisationen wie Croix de Feu/PartiSocial Frangais an. Letztere wurde Ende der zwanziger Jahre von Kriegsveteranen zur „Bewahrung französischer Werte” gegründet und radikalisierte sich in den Anfängen des Faschisierungsprozesses zu Beginn der dreißiger Jahre. Was im zwar gemeinsamen, jedoch politisch und ideologisch disparat geführten Kampf all dieser Bewegungen und Organisationen insbesondere gegen die verhaßte Volksfront-Regierung unter Leon Blum nicht gelungen war, schien in Vichy erreicht: die Errichtung eines autoritär-diktatorischen Regimes mit völkisch-nationalem Massenkonsens, eine nationale Erneuerung unter der Losung Petains - „Arbeit, Familie, Vaterland”.

Die Grande Nation

Der gemeinsame Sieg der Alliierten der Anti-Hitler-Koalition und der französischen Resistance diskreditierte das völkisch-nationale Lager in Frankreich zunächst. Die Resistance wurde nicht allein zum Gründungsmythos der vierten Republik: sie war zugleich Trägerin der historischen Kontinuität des französischen Nationalstaats, im Sinne seiner national-etatistischen Traditionen. „Die Republik hat nie zu existieren aufgehört” und „Vichy ist und bleibt null und nichtig” sind zwei Aussagen Charles de Gaulles, die in ihrer Zusammengehörigkeit den herrschenden Konsens formulierten, der über das vorübergehende Ausscheiden des Generals aus der Politik hinaus Bestand hatte. Die Kollaboration und die aktive Unterstützung des Vichy-Regimes fielen diesem Konsens zufolge ebenso unter eine breite AmnestieAmnesie wie die Sozialrevolutionären Orientierungen von Teilen der Widerstandsbewegung.

Die Möglichkeiten einer national-populistischen Mobilisierung gegen diesen Konsens blieben gering. Auch die Krise des französischen Kolonialismus, das Scheitern der Union Fran<jaise - einer neokolonialistischen Konstruktion, die Frankreichs „traditionelle Mission” und „Verantwortung” für die Kolonien festschreiben sollte - und die Erfolge der antikolonialen Befreiungsbewegungen schienen die Situation zunächst nicht zu verändern. Aufrufe

zum „Kampf gegen das verrottete System, das ebenso unfähig ist, ein Mittel gegen die Dekadenz im Innern zu finden, wie die Heimat draußen zu verteidigen”, Appelle zur militärischen Sicherung des Kolonialreiches, mit denen zum Beispiel der rechtsextreme Rassemblement National in den fünfziger Jahren an die Öffentlichkeit trat, knüpften selbst stark an den staatstragenden Diskurs an. Das gleiche gilt auch für Versuche, die Erinnerung an Vichy zu verklären, wie sie die populistische kleinbürgerliche Protestbewegung des Pierre Poujade unternahm. Dieser kam kaum über ein „Petain hat uns das schlimmste erspart” hinaus, ein Satz, der mit dem hegemonialen Konsens eher versöhnte als gegen ihn mobilisierte.

Der Gründer des Rassemblement National, der Rechtsanwalt, ehemalige Propagandaverantwortliche in Vichy und PetainVerteidiger, Jean-Louis Tixier Vignancour, versuchte allerdings zugleich, Bruchstellen im herrschenden Diskurs selbst aufzuspüren: die von de Gaulle gebrauchte Formel l’Europe des patries aufnehmend, forderte er „ein Europa der Vaterländer, das keine kosmopolitische Melange, seiner Seele und Traditionen beraubt, darstellt”. Was wie ein Ausschnitt aus einer aktuellen Rede des damaligen Wahlkampfleiters von Tixier Vignancour, Jean-Marie Le Pen, klingt, führte vor über dreißig Jahren ein neues ideologisches Element in den rassistischen Diskurs ein. Das Szenario der Bedrohung Europas und die deutliche Artikulation eines differentiellen Rassismus waren zu dem Zeitpunkt Reaktionen auf die Zuspitzung des Algerienkriegs, auf den möglichen Verlust der Kolonie. Die unbedingte Verteidigung von Algerie frangaise beschwört Tixier Vignancour gegen die „ungeheuren Gefahren, die die weiße europäische und französische Zivilisation bedrohen: Bolschewismus, Fremdenhaß, farbiger Rassismus”. Diese Zuschreibung des Rassismus an die ,Anderen’ - hier insbesondere den FLN war ein wesentliches Moment in der erfolgreichen Mobilisierung des völkisch-nationalen Lagers in der Krise des Mai 1958. Mit der Rückkehr de Gaulles, für die Rechtsextremen Symbolfigur des „Verrats am Vaterland”, verstärkte sich diese Mobilisierung. Sie gipfelte in der Gründung der militärischen Organisation de 1’Armee Secrete (OAS), die Befürworter der algerischen Unabhängigkeit terrorisierte und massakrierte und 1961 einen Staatsstreich anzettelte. Die Massenzustimmung zu den von de Gaulle erzwungenen Verfassungsänderungen, zur Etablierung der V. Republik, zum Ausbau der Präsidialmacht und sein überwältigender Sieg in dem Referendum, das die Unabhängigkeit Algeriens bestätigte, markieren das Scheitern jener Mobilisierung.

Der Anti-Gaullismus und zugleich die Fixierung auf die Person de Gaulles war für lange Zeit der einzige politische Bezugspunkt der verschiedenen rechtsextremen Splittergruppen Frankreichs. 1972 wurde der Front National gegründet, um diese Gruppen zu bündeln und eine politische Wahlpartei zu schaffen. Die Revolte des Mai 1968 und schließlich der Rücktritt de Gaulles im Jahr darauf wirkten als Signal zum Sammeln.

„Nationale Wiedergeburt ineinem Europa der Vaterländer”

Seit seiner Gründung beschreibt sich der Front National als „Verkörperung einer authentischen volkstümlichen und nationalen Strömung, die sich vollkommen unterscheidet von der parlamentarischen Opposition, die sich durch die Jahre der Zugeständnisse, der Kompromisse und Rückzieher hervortat” (Le Pen). Gegen den Nationalstaat in seiner bestehenden Form soll die „Bündelung der geistigen Kräfte der Tradition” eine das Vaterland „errettende Reaktion” auslösen.

Diesen eher vagen programmatischen Aussagen folgten Jahre des Aufbaus eines Netzes von Publikationen und Vorfeldorganisationen, der informellen Kontakte und intensiven „Basisarbeit”. Vor allem mit Argumentationsmustern eines differentiellen Rassismus stabilisiert der Front National über diese Kanäle das heterogene völkisch-nationale Lager. Dem „Französischen” wird die Fremdheit der ,Anderen’ als Bedrohung gegenübergestellt: Dieser Diskurs artikuliert eine angebliche Gefahr der „subversion-submersion” (Unterwanderung-Überschwemmung) durch die Einwanderung, insbesondere aus den maghrebinischen Staaten. Er findet sein Pendant durch Attacken gegen eine imaginäre Verschwörung von Juden, Freimaurern und Kommunisten, die den Staat beherrschen und in ihrem „masochistischen Haß” die Nation zerstören würden “Das Vaterland ist in Gefahr” ist der ständige Referenzpunkt in der völkischnationalen Mobilisierung durch den Front National. Er ist präsent im folkloristischen Populismus der alljährlich stattfindenden Jeanne d’Arc-Feiern und bei den Festen „Bleu-Blanc-Rouge”, ebenso in den Parlamentsreden oder in der jüngsten Kampagne gegen die Verträge von Maastricht. Der „Parteienstaat”, die „bestehende Alleinherrschaft einiger hat den Seufzern des Volkes nicht Rechnung getragen”, formuliert es Le Pen. Die als Antidot propagierte „nationale Renaissance” soll einen starken und schützenden Staat hervorbringen, der jedoch „an seinem Platz bleibt, wo alles seinen Platz hat”, der, autoritär geführt, sich plebiszitär legitimiert und dem eine hierarchisch-ständisch gegliederte Gesellschaft entspricht, die Gemeinschaftsaufgaben nach dem „Subsidiaritätsprinzip” erfüllt. Die Vichy-Begeisterung Le Pens ist eben nur halb historische Reminiszenz, und halb eines der Modelle der Zukunft.

Europa spielt in diesem politischen Projekt eine Schlüsselrolle: „Europa macht nur Sinn, wenn es sich auf der Basis seiner eigenen Identität gründet. Die Identität Europas liegt aber nicht in seinem ökonomisch-industriellen System. Sonst könnten wir mit Amerikanern und Japanern gemeinsame Sache machen. Die Besonderheit Europas liegt in seiner Zvilisation. Wir sind für Europa, für die Grenzniederlegung unserer Staaten, unter der Bedingung, daß die Grenzen zwischen Europa und dem Rest der Welt tatsächlich aufrechterhalten werden.” Für Bruno Megret steht fest, daß „Frankreichs Zukunft in einem starken Europa liegt.” Mit der Kampagne für ein „Europa der Vaterländer”, zentriert um die - von der „Neuen Rechten” übernommenen - Prinzipien „Identität” und „Stärke” will der Parteiintellektuelle die völkischnationale Position hegemonial machen gegen die national-etatistische. Die tendenzielle Auflösung der letzteren war in der Debatte um Maastricht zu sehen.

Gegen Le Pens Offensive für eine VI. Republik den Status quo verteidigen zu wollen, wie es gegenwärtig parlamentarisch von den Gaullisten bis zu den Sozialisten propagiert wird, läuft offensichtlich ins Leere. Die völkisch-nationale Mobilisierung erfaßt zugleich nicht unerhebliche Teile des Staatsapparats. Die langanhaltende Krise des Etat-Nation ä la frangaise, des zentralistischen, auf jakobinischen, egalitären, laizistischen Traditionen aufgebauten bürgerlich-parlamentarischen Nationalstaats, bietet der Politik des Front National ausreichend Möglichkeit, sich zu entwickeln.

Thomas Atzert

1 Alfred Dreyfus, Hauptmann im Generalstab, wurde 1894 von einem Kriegsgericht anhand gefälschter Dokumente und falscher Zeugenaussagen wegen Geheimnisverrats verurteilt. Zwei Jahre später griff Emile Zola in seinem berühmten Appell ,J’accuse” das antisemitische Komplott im Dreyfus-Prozeß an und forderte die Revision des Urteils. Die demokratisch-republikanischen Intellektuellen, die in der darauf entstehenden Auseinandersetzung diese Forderung aufnahmen, werden als Dreyfusards bezeichnet