D as ist sehr präzise gefragt, denn er verkoppelt Glücks- und Leidenserfahrungen sogleich mit gemeinsamer Religion, Sprache und Herkunft, damit keine und keiner auf die Idee kommt, sie könnten etwas mit der Klassenlage, mit ökologischen Interessen oder gar mit Frauensolidarität zu tun haben. So präpariert, ist leicht antworten. Und Hondrich tuts in aller Bescheidenheit: Meine Antwort gehört zu jenen einfachen Überlegungen, deren man sich fast schämt - und die deshalbder soziologischen Theorie anscheinend verloren gegangen sind - was also kommt heraus, wenn der Soziologe einfache Überlegungen anstellt, ohne rot dabei zu werden -, weil mit solchen Aufrufen an uralteErfahrungen angeknüpft wird, die alles andere als abstrakt und fiktiv sind; sie erneuern sich in der Geschichte eines jeden vonuns schon in frühester Kindheit. Hier geht es dann schon nicht mehr um die theoretische Bestimmung der sozialen Verhältnisse, die Glücks- und Leidenserfahrungen hervorrufen, sondern um uralte Erfahrungen , die sich aufrufen lassen, weil jeder Säugling, sobald er als Menschenkind das Licht der Welt erblickt, sie aufs Neue macht. Nun könnte man hoffen, daß aus Babys Kinder und aus Kindern Erwachsene werden, die nach den Gründen von Glücks- und Leidenserfahrungen fragen und Erklärungen suchen. Vorsicht, meint Hondrich, hier besteht die Gefahr der „Verdrängung per Erklärung ”. Denn theoretische Verharmlosung und moralische Verdikte arbeiten Hand in Hand, weiß der sich als Tabubrecher gerierende Soziologe von seinem Fach zu berichten. Da hilft es nichts nachzufragen: In den elementarenÜbereinstimmungen zwischen Kindern undEltern, zwischen Kindern und Kindern,Freunden und Nachbarn wird gemeinsameHerkunft als Wertgefühl erlebt, das sichjenseits von allen Nutzenerwägungen undInteressen einprägt. Angesichts solcher Prägung ist es vollkommen egal, ob ich meine Eltern oder meine Nachbarn sonderlich mag oder nicht, ich bin ihnen aus dem Gesicht geschnitten und dafür muß ich,

weil ihr Wertgefühl in meiner Seele haust, sogar noch büßen. Aber nicht nur an die Familie und die Nachbarn bin ich durch gemeinsame Herkunft gekettet. Hondrich will mir gleich die ganze Nation auf halsen: Dieses Werterlebnis wird nicht durch fragwürdige Analogie oder Ideologie auf größere Kollektive übertragen, sondern setztsich völlig unangestrengt, im Normalfalleunbewußt, in die Selbstverständlichkeit um,daß man sich unter Menschen gleicher Sprache und so weiter nicht nur besser versteht,sondern auch wohler, sicherer, stärker fühltals unter Fremden. Wen wunderts also, wenn mancher Volksgenosse sich unter seinesgleichen so wohl, sicher und stark fühlt, daß er den Fremden einfach totschlägt. Schon der Nationalsozialismus hat für Hondrich ja zum Teil gebaut auf die Mobilisierung von Gemeinschaftsgefühlen, die er in einer faszinierenden, aber auch verbrecherischen Weise übersteigert hat. Ja, mit dem NS-Faszinosum ist das so eine Sache, Herr Jenninger. Aber nach 1989 darf man in Deutschland wieder die Wahrheit sagen, Herr Hondrich, auch wenn man sich fastschämt Der Sinn seines kleinen Ausflugs in die Trivialität der nationalisierten Familiensoziologie wird schlaglichtartig klar, wenn der Soziologieprofessor ihn auf die Schule bezieht. Drohen Wir-Gefühle von einerMehrheits- in eine Minderheitssituation zugeraten - wie in manchen Innenstadt-Schulen, in die viele nichtdeutsche Kinder hineinkommen -, dann sind die Abwehrreaktionen der Eltern zwar auch durch verletzte Interessen zu erklären (“unsere Kinderlernen nicht genug”), aber wieviel mehrdurch gekränkte ethnokulturelle Identität!?

Was soll das Fragezeichen? So wird an den Bedrohungsmythen mitgestrickt, die von einem Haider und einem Schönhuber, und wie die Führer alle heißen, in politisches Kapital umgemünzt werden. Der Skifahrer Hondrich weiß, wovon er spricht. Denn, wie er im HR2-Hochschuldisput erzählt, hat er mit einem sehr klugen und temperamentvollen Schweizer gesprochen, der keine Jugoslawen an seinem Arbeitsplatz in der Liftstation sehen mag, sich aber von seiner auf den Philippinen gekauften Frau nicht bedroht fühlt, also kein Rassist sein kann. Hondrich schaut dem Volk aufs Maul und läßt es im Radio durch seinen Mund sprechen. Er kennt diese Triebkräfte derSozialität aber auch aus eigener Erfahrung: Wer längere Zeit, sagen wir, in Afghanistanwar, weiß sich mit den Menschen dort enger verbunden und genauer von ihnen unterschieden. Soziale Unterschiede zwischen einem Bewohner des kapitalistischen ZentrumS, der auf Zeit in der Fremde weilt, und den Bewohnerinnen eines Peripheriestaates kommen ihm dabei nicht in den Sinn. Im eigenen Haus bringt er die Differenzen auf ihren Kern: EthnokulturelleWir-Gefühle sind Sicherheits- und Machtfaktoren in einem vorökonomischen, vorpolitischen Sinn. Die ethnopluralistischen Nationalisten mit ihrem Konzept der „Pflicht zur Differenz” lassen den Soziologen der elementaren Wir-Gefühle grüßen. Und der schickt sich sogleich an, die „deutsche Soziologie” wieder auf ihre völkisch-bestiefelten Füße zu stellen. Nicht sosehr die ethnokulturellen Gemeinschaftsgefühle werden instrumentalisiert, sondernsie sind es, die Interessen und Modernisierungschübe in ihren Dienst stellen. (...) Diealten ethnokulturellen Prägekräfte bleibenund bleiben und formen sich in immer neuen Erscheinungen aus. Das sind Beschwörungsformeln zur Ethnifizierung der sozialen Welt und keine Ansätze für eine soziologische Analyse des Nationalismus. Warum dann nicht gleich den Ahnherrn, den klugen und temperamentvollen NaziSoziologen Hans Freyer zitieren, der 1935 in „Gegenwartsaufgaben der deutschen Soziologie” vorschlägt, „die volkhaften Ordnungen, die durch die Epoche der industriellen Gesellschaft hindurch erhalten geblieben sind und an die der moderne Prozeß der Volkwerdung anzuknüpfen vermag”, empirisch zu ermitteln wie andererseits die sozialen Kräfte, die der „Volkwerdung” widerstehen. Freyers „deutsche Soziologie” konzentriert sich als „angewandte Wissenschaft” nämlich auf die Frage: „Wo steht der Feind?” Soweit geht Hondrich nicht, er will ja lediglich die verdrängten Erklärungsmöglichkeiten der soziologischen Theorie wiederbeleben.

Jost Müller

1 Alle kursiv gesetzten Zitate sind dem Vorabdruck der Rede Hondrichs auf dem 26. Deutschen Sozio logentag in Düsseldorf (Die Zeit v. 25.9.1992) oder der Radiosendung HR-Hochschuldisput (HR 2. 10.10. 1992) entnommen.