Das Ende der Unbescheidenheit
Wir haben versucht, aus der Tatsache, daß es niemals eine totale Emanzipation, sondern nur partielle Emanzipationen gibt, alle Konsequenzen für eine radikale Konzeption von Demokratie zu ziehen. (...) Wenn es aber keine umfassende Emanzipation gibt, dann werden Machtverhältnisse für das Soziale konstitutiv. Die wichtigste Frage demokratischer Politik lautet deshalb nicht, wie Macht zu eliminieren ist, sondern, wie Machtformen zu konstituieren sind, die mit demokratischen Werten vereinbar sind.” So formulieren Ernesto Laclau und Chantal Mouffe in ihrem jüngst von einem Redakteur des diskus mitübersetzten Buch 1 jene metaphysische Setzung, die sich gegenwärtig allgemeiner Verbreitung erfreut: eine Befreiung des Menschen von der Unterjochung durch den Menschen kann es per se nicht geben.
Diese neue Bescheidenheit, die sowohl unter solchen, die sich für emanzipatorische politische Subjekte, als auch unter solchen, die sich für Kritiker oder Kritikerinnen der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse halten, fröhliche Urständ feiert, hat ihre reale Grundlage wohl hauptsächlich in der regressiven Tendenz dieser Gesellschaft und einer vorauseilenden linken oder intellektuellen Kapitulationsmentalität. Warum aber sollte das Geschäft einer schamlosen und grenzenlosen Kritik schon aufgegeben werden, bevor noch nicht einmal die materielle Basis dazu entzogen wurde?
Es ist richtig, daß mit größter Wahrscheinlichkeit der Verfasser dieser Zeilen die Abschaffung der Beherrschung des Menschen durch den Menschen noch nicht einmal in ihrer ersten bedeutenderen Vorstufe - den Kommunismus - erleben wird. Es ist ebenso richtig, daß niemand wissen kann, ob diese Abschaffung jemals gelingen wird - trotzdem sind utopische Vorstellungen, das Nicht-Ausschließen dieser Möglichkeit aus den Überlegungen, die unbedingte Voraussetzung, um radikale Kritik an dieser Gesellschaft überhaupt formulieren zu können.
Der fragwürdigen Grundannahme von Laclau und Mouffe, die zu einer Reduktion der Kritik der Herrschaft auf eine bloß noch an bestimmten Herrschaftsformen führt, folgt schnurstracks die neue Bescheidenheit gewendeter linker Akademiker und Politiker. Weil man sich eine Überwindung kapitalistischer Vergesellschaftung und Machtausübung nicht mehr vorstellen will, wird sie im neuen theoretischen Denken affirmiert. Exemplarisch kann dies bei Laclau/Mouffe nachgelesen werden.
Zur Theorie von Laclau/Mouffe
Ihr Ansatz geht von einer kritischen Auseinandersetzung mit der Politikkonzeption und Gesellschaftsanalyse aus, wie sie in weiten Teilen der traditionellen (insbesondere der dogmatischen) Linken gängig waren. Zwei dieser Kritiken sind hier hervorzuheben: die am Ökonomismus und die am,Klassenreduktionismus’.
Unter Ökonomismus wird diejenige Gesellschafts- und Geschichtskonzeption verstanden, in welcher davon ausgegangen wird, daß die ökonomische Entwicklung einer bestimmten Gesellschaft deren Gesamtentwicklung vollständig und unmittelbar bestimmt, wobei beispielsweise jegliche nachwirkende Dynamik von Traditionen verworfen wird. In der zweiten Internationalen wurde aus der fortschreitenden Entwicklung des Kapitalismus unmittelbar auf seine Transformation zum Sozialismus geschlossen und das aktive Eingreifen politischer Subjekte nicht als Chance für eine weitere Politisierung, sondern als Gefahr für diesen Automatismus gesehen Der Ökonomismus der Arbeiterbewegung und der Komintern wurde von einer Reihe an Marx geschulter Autoren einer kritischen Auseinandersetzung unterzogen. Laclau geht auf die Breite dieser Auseinandersetzung jedoch nicht ein, sondern setzt Nicos Poulantzas als klassischen Fall für die entscheidende Schwäche der marxistischen Kritik am Ökonomismus: die Grundlagen und Ursachen für seine Dominanz in weiten Teilen der traditionellen Linken werden nicht entdeckt Laclau formuliert: „Den Ökonomismus ohne umfassenden ideologischen Kontext, zu dem er gehört - Klassenreduktionismus - zu kritisieren, heißt soviel, wie die Bedeutung eines Maschinenteils ohne die Maschine, von der es ein Teil ist, verstehen zu wollen.” 2 Die Breite der Auseinandersetzung mit dem Problem des Ökonomismus deutet Laclau nur insofern an, als er an verstreuten Stellen einige Male auf Antonio Gramsei eingeht, dem er die Anstrengung attestiert „zugleich Ökonomismus und Klassenreduktionismus zu überwinden”. An anderer Stelle erwähnt er implizit als theoretische Gegner des Ökonomismus Georg Lukäcs und Karl Korsch, wirft ihnen aber vor, „das Verhältnis von Klasse und Überbau in gleichermaßen reduktionistischen Begriffen” zu fassen, wie es die ökonomistische Richtung tut.
Laclau konzentriert seine Aufmerksamkeit auf den Klassenreduktionismus, der ihm zufolge die Grundlage des Ökonomismus darstellt. Es geht ihm in seinem frühen Buch um die entscheidende Frage nach den Fehlern der europäischen Linken in den 20er und 30er Jahren, die den Aufstieg des Faschismus und Nationalsozialismus mit ermöglichten.
Ausgehend von der richtigen Feststellung, daß in der Zeit vor und während des Nationalsozialismus und Faschismus auch in Teilen der Arbeiterklasse äußerst reaktionäres Gedankengut (hier wäre - was Laclau nicht ausführt - beispielsweise an Nationalismus, Antisemitismus und Autoritätsfixiertheit zu denken) vorherrschte, entwickelt er seine Theorie von dem klassenungebundenen Charakter der „ideologischen Elemente”. Jedes ideologische Element hat demnach in sich gar keine bestimmte politische Bedeutung, sondern es kommt bloß darauf an, in welchen „Klassendiskurs” es eingebaut wird. Es stellt sich damit auch nicht mehr die Frage, welches „ideologische Element”, welcher Gedanken, welche Vorstellung, welche politische Forderung in sich etwas aufklärerisches, emanzipatorisches oder aber ein Vorurteil, eine Legitimation des bestehenden Ausbeutungsverhältnisses in sich trägt. Vielmehr ist nur mehr danach zu fragen, wer, in welcher Situation, wie, welche ideologischen Elemente miteinander verknüpft (“artikuliert”). Es kommt dann für die Linke darauf an, möglichst geschickt zu operieren und vorherrschende „popular-demokratische Anrufungen” in ihren eigenen Diskurs zu integrieren, um dadurch im ideologischen Kampf die Oberhand zu gewinnen.
So wird dann das Problem erklärt, wie es zu den reaktionären Ansichten im Proletariat in den 20er und 30er Jahren kommen konnte: der politischen Rechten gelang es besser als der politischen Linken, die vorherrschenden „popular-demokratischen Anrufungen” in ihren Klassendiskurs einzubinden.
Da es aber in dieser Fragestellung neben Laclaus diskurstheoretischer Erklärungsvariante noch den Analyseansatz des westlichen Marxismus gibt, der in dieser Frage hauptsächlich durch Lukäcs und sein 1923 erschienenes Buch ‘Geschichte und Klassenbewußtsein’ inspiriert wurde, ist Laclau gezwungen, um die Unabweisbarkeit seiner „Ideologietheorie” zu begründen, diesen konkurrierenden Ansatz zu desavouieren, indem er ihn in die Nähe der alten Dogmatik rückt. Er unterstellt Lukäcs einen klassenreduktionistischen Ansatz.
Während es aber dem Hegelmarxisten aus Ungarn in aller erster Linie um die Analyse und Darstellung des in dieser Gesellschaftsformation nicht zu überwindenden - daher notwendigen - falschen Bewußtseins und seiner Ursachen ging, dreht Laclau die Sache herum: anstelle des notwendig falschen Bewußtseins suggeriert er als grundlegenden Begriff des Lukäcsschen Werkes eine „notwendige Klassenzugehörigkeit” für „jedes ideologische und politische Element”.
Es verhält sich aber so, daß das angesprochene Werk Lukäcs’ in dieser Hinsicht zwieschlächtig ist: es findet sich darin sowohl die Vorstellung eines zugeschriebenen Klassenbewußtseins, also eines Bewußtseins, das einer bestimmten Klasse per se (geradezu als ontologische Bestimmung) zugehört (eine Vorstellung, die gut zum dogmatischen Marxismus paßt). Zum anderen findet sich darin aber der Begriff des verdinglichten Alltagsbewußtseins, der in dieser entwickelten Gestalt in den 20er Jahren etwas völlig Neuartiges in der marxistischen Theoriebildung darstellt. Lukäcs’ nachhaltige Wirkung in der folgenden Begriffsgeschichte (insbesondere innerhalb des westlichen Marxismus) ist vor allen Dingen dieser zweiten Konzeption geschuldet.
Der Begriff des Alltags und der Begriff der Verdinglichung waren zwar schon im Marxschen Werk angelegt, sie wurden aber in der auf ihn direkt folgenden marxistischen Diskussion nicht weiterentwickelt. Beide Begriffe widersetzen sich einer eindeutigen Klassenzuordnung bestimmter Bewußtseinsformen. Der Begriff des Alltags umfaßt gerade solche Aspekte der Lebensäußerungen der Menschen, in denen es Parallelen und Überschneidungen zwischen den Angehörigen verschiedener Klassen gibt. Die Verdinglichung der Lebensverhältnisse, das heißt der Schein, daß die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse und ihre Grundfesten, so zum Beispiel die Warenförmigkeit der Arbeitspro-
dukte, etwas Dinghaftes seien und damit der Verlust der Erkenntnis, daß die Verhältnisse der gesellschaftlichen Dinge zueinander (z.B. das Wertverhältnis zwischen verschiedenen Waren) letztlich nichts anderes ist als ein Ausdruck des sozialen Verhältnisses zwischen den Menschen, umfaßt die gesamte Gesellschaft und ihre Organisationsform, ohne Rücksicht auf Klassengrenzen.
Diesen epochemachenden Aspekt von ‘Geschichte und Klassenbewußtsein’ unterschlägt Laclau in seinem Seitenhieb auf Lukäcs völlig: der Begriff der Notwendigkeit, den der Hegelmarxist bezüglich des Bewußtseins in dieser Untersuchung in entscheidenden Passagen als kritischen verwendet, wird in der Laclauschen ‘Wiedergabe’ als rein affirmativer fehlgedeutet.
Ernesto Laclau widmet dieser Kritik an vermeintlichen Fehlern von Lukäcs (und der sich anschließenden Tradition) aber keine allzu große Aufmerksamkeit und beläßt es bei kurzen Seitenhieben, die neben Lukäcs auch Korsch gelten. In der Folge besagter fragwürdiger Interpretation dieser Autoren als Klassenreduktionisten muß von deren theoretischen Gegnern konstruiert werden, wie denn im Rahmen des kritischen Ideologiebegriffs des von Lukäcs und Korsch inspirierten westlichen Marxismus das Auftreten reaktionärer Ansichten im Proletariat erklärt werden kann. Die Frage ist: Wie gelangen solche Ansichten ins laut unterstelltem klassenreduktionistischen Ansatz per se fortschrittlich ausgerichtete Bewußtsein der Arbeiter?
Dazu wird behauptet, im westlichen Marxismus liege folgende Ideologiekonzeption vor: Herrschaft bestimme nicht nur die Praxis der Herrschaftsunterworfenen und erzwinge ihre Folgebereitschaft; vielmehr gehe Herrschaft soweit, daß sie auch noch die Wahrnehmung der Beherrschten kontrolliere und strukturiere.
Es gibt aber kaum eine Ideologiekonzeption, die von der des westlichen Marxismus weiter entfernt ist. Mit Georg Lukäcs beginnt gerade das erneute Aufgreifen der gegenteiligen Fragestellung Marxens, wie es nämlich möglich ist, daß auch ohne Manipulation, ohne „Installation” oder ‘Kontrolle’ durch „Herrschaft” falsches Bewußtsein entsteht. Es wird dabei ausgehend vom Entfremdungs- und Fetischbegriff Karl Marxens eine Theorie der Verdinglichung entworfen, die unter starker Bezugnahme auf entsprechende Passagen im ‘Kapital’ (nicht nur auf das berühmte Kapitel über den ‘Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis’) klären soll, wie es möglich ist, daß bis weit ins Proletariat hinein äußerst krude Ansichten über die Gesellschaft massiv vertreten werden können.
Diese Fragestellung ist der Versuch der Aufhebung des Klassenreduktionismus und mitnichten seine Fortführung, wie in dieser Kritikstrategie unterstellt wird.
Die exponiertesten Vertreter des westlichen Marxismus haben es sich wirklich nicht so leicht gemacht, wie dabei suggeriert wird. Ihre Theoriebildung war vielmehr das ständige Ringen darum, wie trotz allem überhaupt noch Erkenntnis und Befreiung möglich sein können, in einer Welt, in der durch die materiellen, gesellschaftlichen Verhältnisse selbst, jenseits von allen Manipulationsinstanzen, die Grundlage dieser Gesellschaftsformation, die Ware als etwas Gegebenes, Ewigliches, Uberhistorisches und -gesellschaftliches, etwas Göttliches (daher Fetisch) sich darstellt. Das Fetisch-Kapitel und weitere kleinere Passagen dieser Art im Marxschen Hauptwerk, auf die sich der westliche Marxismus in seinem Ideologiebegriff zentral bezieht, sind mehr Untersuchungen zu den prinzipiellen Hinderungsgründen für die Befreiung des Menschen von Ausbeutung und Unterdrückung, als ein naives Festhalten am historisch unaufhaltsamen Prozeß in Richtung Kommunismus.
Es ist wohl eher dieser pessimistische, radikalkritische Aspekt, der auch in den westlichen Marxismus eingegangen ist und heutigen Kritikern desselben unangenehm aufstößt, als die behauptete aufklärerische Naivität.
Eine Erklärung für die in dieser Kritikstrategie recht penetrant vorgetragene und zumeist nicht oder recht schlüpfrig begründete Behauptung, der westliche Marxismus habe eine Theorie der Manipulation der Beherrschten durch die Herrschenden als Ideologiebegriff, könnte der folgende Umstand sein: Im Kulturindustrie-Kapitel von Max Horkheimer und Theodor Adornos ‘Dialektik der Aufklärung’ wird tatsächlich eine starke Bedeutung der Kulturindustrie für das falsche Bewußtsein der Menschen im Kapitalismus geltend gemacht. Dieser Textabschnitt ist jedoch für sich genommen schwerlich zu verstehen, da einige grundsätzliche Problematiken, z.B. der widersprüchliche und selbstzerstörerische Charakter der Aufklärung - jenseits der Instanzen der Kulturindustrie vorrangig in anderen Kapiteln, wie ‘Begriff der Aufklärung’ und ‘Elemente des Antisemitismus’, dargelegt werden. Er wird aber nichtsdestotrotz gern als alleinige Passage aus dem Hauptwerk der Kritischen Theorie rezipiert. Für sich genommen kann dieses Kapitel tatsächlich im Sinne eine Manipulationstheorie gedeutet werden; wer aber eine Kritik des Ideologiebegriffs der Kritischen Theorie, oder gar des westlichen Marxismus insgesamt sich zur Aufgabe gemacht hat, begeht einen groben Unfug, wenn er sich dabei auf den Begriff der Kulturindustrie zu allererst stützt
Politische Konsequenzen desLaclau/Mouffe-Ansatzes
Die mit fragwürdigen Argumentationen verworfene erkenntnistheoretische Untersuchungsmethode zum Begriff der Ideologie wird ersetzt durch eine sich selbst „Ideologietheorie” nennende Konzeption. Dieser Konzeption liegt das erwähnte Ende der Unbescheidenheit zugrunde: Da Herrschaft prinzipiell nicht abzuschaffen ist, hat es jetzt darum zu gehen, zu untersuchen, wie die Linke selber die Herrschaft erlangen kann, wohl in der Hoffnung, daß dann bestimmte besonders ausufernde Herrschaftsformen abgeschafft werden.
Es kommt, wie bereits gesagt, bloß mehr darauf an, so stellt es sich jedenfalls bei Laclau dar, im populären Bewußtsein vorkommende „ideologische Elemente” (“popular-demokratische Anrufungen”) in seinen eigenen Klassendiskurs zu integrieren (zu „artikulieren”), damit dieser im ideologischen Kampf die Oberhand gewinnt. Die Frage, welche „ideologischen Elemente” unter Umständen einer Befreiung im Wege stehen könnten, stellt sich gar nicht mehr. Die richtige Einsicht, daß entgegen dogmatischen Setzungen auch im Prole-
tariat äußerst reaktionäres Gedankengut vorherrschend sein kann, wird zu einer positiven Aussage gewendet: da - wie die Geschichte gezeigt hat - ideologische Elemente nicht notwendig klassengebunden sind, kommt es nur darauf an, sie dem Inhalt nach ganz beliebig miteinander zu verknüpfen, für seine Zwecke zu verwenden.
So sieht Laclau absurderweise den Hauptgrund für die Niederlage der europäischen Linken gegenüber dem Faschismus und Nationalsozialismus (der bei ihm „Hitlerismus” heißt - in Abgrenzung zu seiner Idee des „sozialistischen Nationalismus”) darin, daß sie zuwenig (!) nationalistisch argumentiert habe: „Ihr fehlte” - der Schluß ist so konsequent aus seiner Ideologietheorie hergeleitet wie er irrsinnig ist, „der Wille zur Hegemonie über die Gesamtheit der ausgebeuteten Klassen.” Man sieht, wie das Ende der Unbescheidenheit sans probleme mit Größenwahn zusammengeht - vermutlich war es auch ein fehlender oder zumindest unterentwickelter Wille zur Hegemonie, der die spanischen Kommunisten dazu brachte, reihenweise ihre anarchistischen (und sozialistischen) Verbündeten im antifranquistischen Kampf zu liquidieren.
Wenn nun im neuen Laclau/MouffeBuch die Annahme einer „popular-demokratischen Anrufung” aufgegeben wurde, da dem Autor und der Autorin klar wurde, daß nicht jedes „populäre” ideologische Element auch „demokratisch” sein muß, so ist doch davon auszugehen, daß das Fehlen einer expliziten Selbstkritik nicht einfach einer gewöhnlichen Eitelkeit geschuldet ist: in der Stilisierung einer „radikalen Demokratie” zum anzustrebenden Fixpunkt der Linken und der gleichzeitigen Absage an das Ziel einer völligen Abschaffung von Herrschaft liegt noch ein gewaltiger Rest der Verherrlichung des „Volkes”, dessen Herrschaft (daher ‘Demokratie’) wenn nur weit genug vorangetrieben, die anfangs erwähnten kleinen Befreiungen bringen soll. Auch wenn der Begriff der „popular-demokratischen Anrufungen” im neuen Laclau/Mouffe-Buch als solcher nicht mehr auftaucht, ist ein zu großer Rest dieser naiven Vorstellung, im „Populären” sei per se immer schon etwas Emanzipatorisches, noch enthalten.
Das neue Buch ist zwar von Marx noch weiter entfernt als das frühere Laclaus (da die Bedeutung der Ökonomie für die Gesellschaftsverfaßtheit extrem relativiert wird), doch bleibt es der Grundtendenz treu: das Zauberwort heißt nicht Befreiung, sondern Hegemonie.
Laclau und Mouffe äußern sich in ihrem neuen Buch fast nur noch auf einer hochabstrakten Ebene, konkrete politische Äußerungen wie im ersten sind recht zurückhaltender Natur. Zum Abschluß sei daher nochmals unter Bezugnahme auf Laclaus erstes Buch auf weitere Konsequenzen jener Theorie des „Willens zur Hegemonie” eingegangen: Der von Laclau als gelungener Populismus gefeierte Peronismus im Argentinien seit den 40er Jahren wird von ihm ohne jede Begründung von dem von vielen linken Kritikern in und aus Argentinien erhobenen Vorwurf freigesprochen, eine zum Teil faschistische Politik betrieben zu haben. Laclau unterstellt, daß es in diesem populistischen Regierungsbündnis den darin agierenden Linken gelungen sei, durch besonders geschickte „Artikulation” bestimmter „Anrufungen” in ihren Klassendiskurs den anderen - zum Teil faschistischen - politischen Gruppierungen, die in diesem Bündnis vertreten waren, eine linke Politik unterzujubeln. Der Theoretiker aus Argentinien geht dabei in seiner ausführlichen Thematisierung der peronistischen Ideologie mit keinem Wort auf die reale Politik der Perön-Regierung ein. Wie sollte er es auch als linke Politik darstellen können, daß diese Regierung ein äußerst gutes Verhältnis zum franquistischen Spanien hatte, also zu einem Staat der in dieser Zeit jegliche linke Opposition brutal niederschlug und ihre Vertreter, wo immer sie deren habhaft werden konnte, im besten Fall inhaftierte. Wie sollte er den Umstand erklären können, daß der Chef einer angeblich vorrangig linksorientierten populistischen Regierung, Perön, nach dem Militärputsch 1955 gegen ihn ins spanische Exil ging, wo jeder linke Spanier, und sei er noch so reformistisch gewesen, zu diesem Zeitpunkt entweder im Knast, Untergrund oder Exil war. Wie sollte er zuletzt erklären können, daß diese Regierung die von allen etwas fortschrittlicheren Staaten sowie - außer von Portugal und den USA von allen UNO-Mitgliedern mitgetragenen UNO-Sanktionen gegen Spanien mißachtete?
Da Laclau aber ‘Ideologie’ als einen ganz eigenständigen Bereich betrachtet, der zwar selbst eine Realität hat aber nicht unbedingt im Verhältnis zur ‘übrigen’ Realität betrachtet werden muß, werden ihm all diese Fragen bloß als marginal erscheinen und sein Ignorieren derselben ist erschrekkend logisch abgeleitet aus seiner Theorie.
Noch ernüchternder wird es bei der für das erste Buch zentralen Analyse des Nationalsozialismus, in der Laclau behauptet, der Antisemitismus sei von den Herrschenden der populären Ideologie als etwas äußerliches angehängt (“artikuliert”) worden. In seiner impliziten Verherrlichung der populären Ideologien ignoriert er die jahrhundertealte Tradition des Antisemitismus in diesen völlig.
Auch bei dieser Thematik taucht wieder das bereits bei der Untersuchung des Peronismus aufgetretene Problem auf: Laclau interessiert sich bloß für das Leben derIdeologien, der „ideologischen Elemente”, für ihre Beziehungen zueinander und mitunter auch für deren Beziehungen zu den Menschen. Er schert sich aber wenig um das Leben der Menschen, um die Realität, die Ideologien produziert und die durch Ideologien stabilisiert oder verändert wird. So kommt es, daß er bei seiner ausführlichen Thematisierung des Nationalsozialismus mit keinem Wort auf den industriell organisierten Genozid eingeht. Die Spezifik der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik wird vollends unterschlagen, wenn er auf ideologischer Ebene immer bloß vom „Rassismus” spricht, welcher der populären Ideologie angehängt worden sei, und niemals vom Antisemitismus.
Schließlich reproduziert Laclau das, was er sich zu bekämpfen vorgenommen hat: einen platten Ökonomismus, in dem der Antisemitismus in Osteuropa im letzten Jahrhundert direkt hergeleitet wird aus dem „hebräischen Wucherkapital”. Laclau verwendet dabei affirmativ antisemitische Formulierungen und ist in den entsprechenden Detailfragen offensichtlich völlig uninformiert. Ist seine Anbiederung an „populäre Anrufungen”, und den in diesen allzuoft enthaltenen reaktionären Tendenzen soweit gegangen, daß er sich selbst deren antisemitischen Formulierungsgewohnheiten nicht entziehen konnte?
Es bleibt völlig schleierhaft, wie sich als links verstehende Theoretiker an der Frankfurter Universität einen Autor, der derartiges publiziert und bis heute nicht zurückgenommen hat, thematisieren oder übersetzen, ohne sich auch nur die geringste Mühe zu machen, diese reaktionären Reste im Denken des Rezipierten zu denunzieren oder zumindest höflich zu kritisieren. Handelt es sich dabei bloß um Ignoranz und Nachlässigkeit, oder hat das eingangs konstatierte Ende der Unbescheidenheit und die damit einhergehende Beschränkung von Kritik, die neue Bescheidenheit der Argumentation schon ihre ersten Früchte getragen und auch bei Teilen der diskus-Redaktion Einzug gehalten?
Stefan Gandler
1 Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Hegemonie undradikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. Hrsg. u. Übers.: Michael Hintz und Gerd Vorwallener. Wien 1991: Passagen. 282 S. (Titel des englischen Originals: Hegemony & Socialist Strategy.Towards a radical democratic politics.)
2 Laclau, Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus - Faschismus - Populismus. Berlin 1981: Argument. 208 S