Das Eigenheim-Syndrom
1 990 schrieb die Zeitschrift konkret über die Linke Liste: „Die Gruppe, die sich von ihren Sponti-Übervätern gelöst hat, ist zum Kristallisationspunkt der Reste linksradikaler Opposition in der Stadt geworden.” Das war sie Ende der achtziger Jahre wohl auch. Politisch befand sie sich in einer mittleren Position, irgendwo zwischen Grünen und Autonomen, ohne sich genauer festlegen zu lassen. In der Stadt war der einflußreichere Teil der linksradikalen Szene Anfang der achtziger Jahre zur Partei der Grünen übergetreten und machte sich alsbald als deren rechter Realo-Flügel bundesweit bekannt. Zurück blieben die Reste der außerparlamentarischen und autonomen Linken, die kaum über die materielle Basis für die Organisierung einer eigenständigen Öffentlichkeit verfügten. Die Kluft zwischen außer- und parlamentarischer Linke war unüberbrückbar. Ein letzter gemeinsamer Diskussionsversuch endete nach dem Tod von Günther Sare 2 in Tumult und Schlägerei. Die Veranstaltung fand bezeichnenderweise an der Frankfurter Universität statt.
Die Hochschule war seit den Unruhen der sechziger Jahre von der Sponti-Linken quasi mythisch besetzt und als Freiraum behauptet worden. Polizei hatte auf dem Campus nichts zu suchen. Dies wird bis heute noch als selbstverständlich erachtet. Wer in der Vergangenheit gegen dieses ungeschriebene Gesetz verstieß, blamierte sich, wie die derzeitige Universitätsleitung, damit in der Regel auch in der außeruniversitären Öffentlichkeit.
Nachdem die Spontis längst verschwunden waren, griff die Linke Liste/Undogmatische Linke den Mythos einer linken und liberalen Frankfurter Universitätstradition erneut auf. Aus dem Studentinnenstreik nach Tschernobyl hervorgegangen, agierte diese Gruppe unter Bezugnahme auf kritische Theoretiker der Frankfurter Schule (das hieß in Kritik zu Habermas) und subversive Protestformen der außerparlamentarischen Bewegungen. Sie reklamierte dieses „Erbe” für sich und machte sich dabei die Autoritätsfixiertheit des akademischen Nachwuchses in den Geistesund Gesellschaftswissenschaften zu eigen. Schließlich galten die kritischen Frankfurter Theoretiker noch als Säulenheilige, auf die sich, wer links sein wollte, positiv beziehen mußte.
„Politisierung”, selbstverständlich als linke gedacht, so lautete das Schlagwort der frühen Linken Liste. Dies beinhaltete, alles das zu propagieren, was man an einer Universität gerade nicht lernen sollte.
Vollversammlungen, Demonstrationen und Konzerte waren in der Regel gut besucht. Die Politik des Spektakels war den meisten eine willkommene Unterbrechung des Trotts. Mehr aber auch nicht, sonst ging alles seinen normalen Gang. Eintausend wollten auf die Straße und zigtausende in die Seminare. Da sich auch die mediale Öffentlichkeit wenig für die Protestierenden interessierte, war der Unmittelbarkeit dieser Politik wenig Durchsetzungskraft vergönnt.
Die Linke Liste verstand sich in Kritik zur bestehenden Wissenschaftsproduktion und Ausbildungspraxis und nicht als studentische Interessenvertretung. Sie beschäftigte sich mit allgemeinpolitischen Themen und versuchte, diese in die universitäre Diskussion zu tragen. Auch wenn sie die größte und einzige Gruppe mit einer mobilisierungsfähigen Basis an der Universität war, gelang dies nur bedingt. Die Leute, die zu einer Veranstaltung über die Haftbedingung von RAF-Gefangenen kamen, und jene, die in eine studentischen Vollversammlung gegen die Wohnungsnot strömten, waren verschiedene. Die Kluft war nicht zu überwinden. Ein diffuser studentischer Unmut ließ sich nicht einfach links
besetzen, und die marginalisierten Autonomen mißtrauten den Versuchen linksradikaler Politik, ausgerechnet an dem Ort der Produktion und Reproduktion von Eliten eine breitere soziale Basis verschaffen zu wollen.
Wer zur Linken Liste gehörte und wer nicht, war auch für Insider oft schwer festzustellen. Ob man sich eher für die RAF oder Adorno, mehr für Punk oder Klassik interessierte, war weniger wichtig. Verbindlich war lediglich, sich in Negation zur bürgerlichen Gesellschaft zu sehen, keinen Parteiaufbau zu betreiben, und ein Minimum an existentieller Glaubwürdigkeit, das besagte, sich an den jeweiligen Aktionen auch mal praktisch zu beteiligen. Die Gruppe erneuerte und vergrößerte sich nach Aktionen. In Theoriegruppen, Plenen und Organisationsstäben schrumpfte sie dann wieder ein, bis die nächste Demonstration wieder neuen Zulauf brachte. So ging das immer und war für die Gruppe ein unlösbares Problem.
An der Hochschule war die Linke Liste populärer als andere Gruppen, aber Politik galt halt im allgemeinen schon als etwas ziemlich Doofes. Darunter hat die Linke Liste immer gelitten. Sie bekam zwar die meisten Stimmen, dominierte den AStA, konnte sich bei den anderen Gruppen in der Stadt wichtig machen, aber war dennoch nirgendwo so richtig beliebt. In der Stadt wurde die universitäre Linke mit dem Werdegang der Spontis, „von der Uni zu Grünen und Karriere”, identifiziert. Dabei hatte man mit der clanartig aufgebauten Dominanz der Alt-Linken ähnliche kulturelle wie politische Schwierigkeiten.
Den großen Realitätsschock erlitt die Linke Liste, die es gewohnt war, mit unpopulären Themen populäre Politik zu machen, im bundesweiten Hochschulstreik von 1988/89. Hier artikulierte sich nach langen Jahren der Abstinenz wieder ein ständisches Massenbewußtsein innerhalb der Studentinnenschaft. Im Zusammenschluß mit ihren Professoren streikte der Nachwuchs für ein Recht auf Elite. Linke, die bis dahin in vielen kleinen Gruppen Politik betrieben, verließen danach die Universität oder beschränkten sich fortan auf Studium, Job und Privatleben. Die Linke Liste, die den Streik mitgetragen und zuzuspitzen versucht hatte, zog sich vom Campus und den Fachbereichen ins Studentinnenhaus und auf den AStA zurück. Nach dem Streik bekam sie zwar wieder die meisten Stimmen, dies war jedoch nur den Umstand geschuldet, daß den Normalstudentinnen die Wahlen viel zu unwichtig sind, als daß sie sich daran beteiligen würden.
Die Gruppe war nie in der Lage, dies so zu reflektieren, daß es auch zu internen politschen Konsequenzen geführt hätte. Einige erweckten den Anschein, die inhaltlichen Probleme wegorganisieren zu wollen. Der AStA wurde auf einmal formal ernstgenommen, Modelle wurden ausgeheckt, wie durch eine zusätzlichen Rätestruktur alle Fachbereiche erfasst werden könnten und wie natürlich wieder alle Drähte „im Zentrum der Macht” beim AStA und der Linken Liste zusammenlaufen würden. Wäre nicht ein zusätzliches Büro zur Neuorganisierung aller ASten bundesweit mit Sitz in Frankfurt einzurichten usw.?
Die inhaltliche Trägheit und die Ablehnung öffentlicher theoretischer Auseinandersetzung wurde immer bedenklicher. Einem Teil war, ohne daß man dafür die Sowjetunion bemühen muß, die ideologische Basis längst weggebrochen. Trotzdem wurde an der Verbindung zwischen einem aktivistischen und populistischen Politkkonzept festgehalten, das sich immer weniger um eine eigene kritische Theoriebildung scherte und statt dessen nun einfach den allgemeinen Konjunkturen hinterher hinkte.
Indessen war neben dem theoretischen Stillstand bei vielen immer deutlicher, daß ihr Begriff von Rebellion sich gegen alles mögliche richtete, nur nicht sich selbst einbezog. Das machte die Gruppe zunehmend langweiliger und vielen suspekt. Radikale Maximen wurden formuliert, die ganz offensichtlich für den eigenen Alltag nicht zählten, beim Studieren, Arbeiten und Zusammenleben nicht die geringste Rolle spielten.
Es entwickelte sich eine Vereinsstruktur, immer hingen die gleichen Leute in der gleichen Kneipe rum, um über das Immergleiche zu schwadronieren. Solange der Universitätspräsident einen mit Strafanzeigen eindeckte, die rechten Studentengruppen und die FAZ schäumten, stimmte der Zusammenhalt noch. Als in der damaligen DDR die Ara der Runden Tische anbrach, war die Vergreisung bei weiten Teilen der Linken Liste allerdings schon ziemlich vorangeschritten. Die Unbeweglichsten sammelten sich in der StammtischFraktion und weigerten sich fortan, noch einen Schritt vor die Tür zu setzen. Lange Zeit war nicht klar, ob der Stammtisch die Mehrheit oder die Minderheit war. Auf alle Fälle war er immer so gut besetzt, daß die anderen nach und nach wegblieben. Die neue Einigkeit mißverstand der Stammtisch als genialischen Erfolg seiner permanenten Tagungen. Verheerend wurde es allerdings erst, als ihr Vorsitzender seine in langen Jahren entwickelte Theorie von Bedürfnis und Rebellion auf die aktuelle Situation in der DDR anzuwenden begann.
Die anderen in der Linken Liste Verbliebenen fanden sich mit dem Stammtisch ab, solange er schwieg. Schließlich, so heißt es doch, haben alle irgendwo eine Leiche im Keller. Und in der Regel gibt es keine Wiederauferstehung.
Früher redete der Vorsitzende vor linken Studenten oder einem linken Protestpublikum in der Stadt, erklärte den jeweiligen Protest zum menschlichen Bedürfnis und wurde damit zur Lokalgröße. Er kannte Rebellion nur als linkes, als ein emanzipatorisches Phänomen, begrüßte dementsprechend die Rebellion in der damaligen DDR und verstand danach die Welt nicht mehr. Als andere aus der Linken Liste die Politik zur „Nie Wieder Deutschland”Kampagne („Geteiltes Leid ist Halbes Leid!”) und gegen den zweiten Golfkrieg bestimmten, hielt sich der Stammtisch jedoch bedeckt. Ab und an war zwar das Gemurmel vom Volk, den berechtigten Ängsten, den ausländischen Jugendbanden, vor denen auch sie sich fürchteten, zu vernehmen, aber es blieb eben beim Gemurmel, also relativ ruhig.
Anfang der neunziger Jahre bestand die Linke Liste nur noch aus Individuen, die Feste und Demonstrationen organisierten, Reden und Artikel schrieben und mit allen möglichen Zirkeln außerhalb debattierten. Nachdem der diskus als Publikationsforum an der Universität wieder herausgegegeben wurde, ging die bis dahin erschienene Zeitung der Linken Liste ein. Beim Stammtisch herrschte längst Funkstille. Kein Flugblatt, keine Veranstaltung, einfach nichts kam mehr. Auf ihre Diskussionen und Positionsbildungen konnte somit auch kein Einfluß mehr genommen werden. Auch als sie den diskus noch nicht für viel zu radikal befanden, hatten sie kein Interesse daran, ihn als Diskussionsforum zu nutzen.
In dieser Situation sollte die alte Linke Liste aufgelöst werden, um den Platz für andere an der Uni freizumachen und einer notwendigen politischen Erneuerung nicht länger im Weg zu stehen. Eine neue Gruppe fand ^sich, die unter dem Label der Linken Liste die Nachfolge antrat und die Politik im AStA übernahm. Auch der Stammtisch versprach, sich zu mäßigen und den Alleinvertretungsanspruch aufzugeben. Als der Krieg in Jugoslawien ausbrach, war er plötzlich wieder da. Über alle Köpfe hinweg forderte er im Namen des AStALinke Liste die militärische Intervention auf Seiten Kroatiens.
Selbstbestimmungsrecht der „Völker”, positiver Bezug auf den Nationalstaat, die Lösung des „Asylproblems”, keine Alternative zum Kapitalismus; der Stammtisch hatte lange nachgedacht, bevor er die rebellische Subjektivität gegen das heilige Bedürfnis gleich ganzer „Völker” eintauschte, einen Raum im Studentinnenhaus okkupierte, dort einen Teppich reinlegte und sein „Projekt” Bosnien ausrief (vgl. diskus 1-3/1992). Die Spaltung der alten Linken Liste war damit endgültig vollzogen.
Unter dem Namen Internationale Liste/ Undogmatische Linke versucht der Stammtisch nun, das kritische Image der Linken Liste herüberzuretten. Ob das mit den „United Colors Of AStA” (Flugblatt) geht, ist eher unwahrscheinlich. Selbst die Grünen an der Uni, einst als rechte Konkurrenz zur Linken Liste gegründet, winkten lächelnd ab. Auch ist es noch nicht so lange her, da wurden dem heutigen „Koalitionspartner” RCDS bei einer kleinen Feier (Höhepunkt: Striptease) die Scheiben eingeschmissen. Der neuen konstruktiven Real-Politik dürfte die Basis fehlen, da mit den Jusos und den Uni-Grünen bereits reichlich und glaubwürdigere Alternativen vorhanden sind. Die Internationale Liste/ Undogmatische Linke wird mit ihrem neuen Verlautbarungsorgan, der Zeitung Perspektiven, wohl ein sehr kurzzeitiges Kuriosum bleiben. Irgendwann werden sie das „inter” vor dem „national” schon streichen, nur wer hört ihnen dann überhaupt noch zu?
Nach der Auflösung der Linken Liste hat sich mit der Sinistra/Radikalen Linken ein neuer Zusammenhang für die Linke an der Universität gebildet (siehe Interview in dieser Ausgabe). Ob und wie er sich durchsetzen kann, hat Auswirkungen auf die schon reichlich beschränkten Einflußmöglichkeiten der radikaleren Linken in der Stadt.
Andreas Fanizadeh
1 Die beiden stärksten Fraktionen im StudentInnenparlament ließen sich aufgrund der Pattsituation zwischen linken und rechten Gruppen vom Universitätspräsidenten einsetzen. Am 28.9.1985 wurde Günther Sare in Frankfurt von der Polizei getötet. Er hatte sich an einer Demonstration gegen die NPD beteiligt. Dabei wurde er von einem Wasserwerfer neuen Typs überrollt. Auch die Grünen hatten zuvor der Anschaffung dieser Maschinen zugestimmt. Die von den Auseinandersetzungen an der Startbahn West bekannte Wasserwerfer-Besatzung wurde freigesprochen.
Die Grünen vertraten zu jener Zeit noch die „Theorie” von Stand- und Spielbein. Damit war gemeint, außerparlamentarische Opposition in den neuen sozialen Bewegungen und ihre parlamentarische Vertretung würden sich notwendigerweise ergänzen und Zusammenarbeiten. Der Tod von Günther Sare markierte den Bruch mit derartigen Vorstellungen und steht für die Spaltung der Frankfurter Linken in den achtziger Jahren. Sare war nach Auffassung der RealoGrünen selbst Schuld an seinem Tod.
Die Frankfurter Grünen waren zu jener Zeit vor allem darum bemüht, der SPD ihre Koalitions- und Regierungszuverlässigkeit zu beweisen. Die Forderung nach Rücktritt des damaligen hessischen Innenministers Winterstein (SPD) lehnten sie ab. Dieser hatte den Polizeieinsatz als „außerordentlich behutsam und zielgerichtet” gerechtfertigt.
Nach dem Tod von Sare entwickelten sich über Tage hinweg heftige Auseinandersetzungen zwischen militanten Linken und der Polizei. Im Hörsaal VI der Universität prallten die gegensätzlichen Auffassungen über Regierungsbeteiligung und Opposition frontal aufeinander. Ein letztes Mal kam die außer- und parlamentarische Linke in Frankfurt zusammen, um körperlich unmißverständlich zu dokumentieren, daß man sich nichts mehr zu sagen hat.