Die Aktion „Student aufs Land“, jene Wanderung ins Volk, die die baden-württembergischen Studenten Mitte letzten Jahres antraten, ist gleichermaßen naiv und sympathisch. Die Freiburger Narodniki operieren mit stolzen Zahlen, wenn sie von den Erfolgen ihrer Bildungswerbungskampagne in der pädagogischen Provinz rund um Freiburg, zwischen Kehl und Villingen, sprechen: 400 Gemeinden wurden besucht, circa 18 000 Interessierte kamen zu den studentischen Aufklärungsvorträgen.

Allein, trotz der imponierenden Zahl scheint bei der Beurteilung der Aktion „Student aufs Land“ Skepsis geboten. So wie die Narodniki, die Wanderung der russischen Intellektuellen Ende des 19. Jahrhunderts „ins Volk“, einsetzte, nachdem alle Versuche dieser studentischen Jugend, die politischen und gesellschaftlichen Zustände im Zarenreich zu verändern, hoffnungslos gescheitert waren; ebenso wurde die Aktion „Student aufs Land“ geboren, nachdem die Demonstrationen der westdeutschen Studentenschaft gegen den „Bildungsnotstand“ wirkungslos verpufft waren und seit dem 2. Juli 1965 die Politiker in Deutschland unbeeindruckt weiterwursteln. Doch die studentische Aktivität, schon einmal geweckt, mußte nun so gelenkt werden, daß sie kein Unheil anzurichten vermochte. Ignaz Bender, Studentenfunktionär und CDU-Mann, hatte das Patentrezept: Flugs reduzierte er die gesellschaftlichen Mißstände des Bildungsnotstandes auf das individuelle Versagen der Landfamilie. Hier konnte sich dann studentische Aktivität (Aufklärung und Bildungswerbung) austoben ohne politischen Flurschaden anzurichten. Die vordergründigen individuellen Probleme verdecken die wahren gesellschaftlichen Ursachen. Freiburgs Narodniki kurierten an den Symptomen. Daß nicht alle Bildungswerber der Illusion erlagen, zeigt der nachfolgende Bericht von Roland Koch. Selbst einer der führenden Köpfe der Kampagne, macht er die Widerstände sichtbar, auf die die Aktion „Student aufs Land“ stieß, und verweist damit auf die politischen Wurzeln der deutschen Bildungskatastrophe. Sie sollten unter den Studenten diskutiert werden, ehe „Student aufs Land“ seine zweite Auflage erlebt. „Student in die Fabrik“ soll die nächste Romanze heißen. J. S.

Noch im Sommersemester 1965 wurde mit den Vorbereitungen für die Aktion begonnen. Die zahlreichen, das Thema betreffenden Veröffentlichungen wurden ausgewertet, um einen Standardvertrag auszuarbeiten, der den Referenten als Grundlage zur Verfügung gestellt werden mußte. Und nicht zuletzt wurde vorgesehen, für jede Gemeinde die notwendigen Unterlagen zusammenzustellen, die neben den Namen der wichtigen Leute, des Bürgermeisters, des Lehrers und des Pfarrers auch die Größe der Höfe, die Zahl der landwirtschaftlichen Beschäftigten und viele ähnliche Kennziffern umfassen mußte.

Unter großer Anteilnahme von Fernsehen, Funk und Presse fanden dann am 27. September die ersten Vorträge statt. Schon nach den ersten 55 Vorträgen wurden in einem Zwischenbericht eine ganze Reihe von Schlußfolgerungen gezogen, die den späteren Vorträgen zugute kamen.

Ursprünglich wurden große Bedenken geäußert, wie wohl die Studenten, noch dazu mit einem solch „trockenem“ Thema r bei der Bevölkerung ankommen würden. Diese Bedenken haben sich erfreulicherweise als überflüssig gezeigt. Fast überall konnte bei den Zuhörern eine große Aufgeschlossenheit gegenüber den angesprochenen Fragen festgestellt werden.

In mehreren Dörfern gab es viele Eltern, die zusammen mit den Studenten dann den Bürgermeister beschworen, doch endlich dafür zu sorgen, daß die Mittelschule, die von vielen als dringend notwendig betrachtet wird, endlich gebaut wird. Wie notwendig solche Beschwörungen sind, zeigt die Tatsache, daß es im ganzen Landkreis Freiburg bis heute keine einzige solche Schule gibt.

Gerade die Probleme „Mittelschule“, „Berufsfachschule“ stehen dem Interessenkreis der Angesprochenen näher als die weit entfernte Oberschule oder gar die Universität. Die unter dem Titel „Bessere Ausbildung sichert die Zukunft“ durchgeführten Veranstaltungen meinen ja die ganze Bildungsmisere und bezwekken nicht, wie es immer wieder von Kritikern der Aktion fälschlich behauptet wird, nur eine Anhebung der Zahl der Abiturienten und damit der Universitätsstudenten. Gerade in solchen Gebieten, in denen der Großvater und der Vater in der Volksschule waren, werden gegen einen Oberschüler in der Familie oft große Bedenken angemeldet. „Der lacht mich dann auf Englisch aus“ meinte ein Vater, als man ihn nach seiner Meinung dazu fragte.

Dann muß aber auch schon wieder in vielen Diskussionsbeiträgen auf die Problematik des zweiten Bildungsweges hingewiesen werden. Die umfangreiche Werbung dafür in der letzten Zeit bewirkt, daß viele ganz klug rechnende Eltern so argumentieren. „Ob mein Kind die Oberschule schafft, das weiß ich nicht. Am besten ist, wenn es über den zweiten Bildungsweg geht. Wenn’s intelligent ist, kommt es auch so ja bis zum Studium. Dafür kostet es mich nicht viel. Was soll ich also riskieren, es auf die Oberschule zu schicken.“ Kaum bekannt war, daß dieser Weg ein sehr schwerer Weg ist, und daß nur wenige ihn bis zum erfolgreichen Abschluß durchhalten. Unterschiedlich ist die Haltung der lokalen Autoritäten. t Zu Beginn der Aktion in einem Landkreis wird versucht, im Landratsamt mit den Bürgermeistern ins Gespräch zu kommen. Oft wird auch dies vom Landrat selbst übernommen. Ähnlich werden die Geistlichen informiert. Zurückhaltender verhält sich das Schulamt. Auch die Haltung der Lehrerschaft ist unterschiedlich. Viele meinten: „So ist es gut, daß sie, liebe Eltern, das mal auch von anderen Leuten hören, mir wollen sie ja doch nicht so recht glauben“. Andere Lehrer haben nicht viel für die Bildungswerbung übrig und versuchen, auch klügere Schüler, die die höhere Schule schaffen könnten, bei sich zu behalten, um das Niveau ihrer Schule nicht zu senken. Heute kann man, nachdem die Anmeldungen für die weiterführenden Schulen inzwischen abgeschlossen sind, feststellen, daß in einer Reihe von Orten die Zahlen gegenüber den Vorjahren sich erheblich erhöht haben: In Breisach hat die Zahl der neuangemeldeten Kinder aus Landschulen so zugenommen, daß sie die Zahl der Stadtkinder erstmals überschreitet, in Lahr ist die Zahl der Anmeldungen zur Mittelschule von 19 auf 115 gestiegen. Wieweit dies auf die Tätigkeit der Aktion „Student aufs Land“ zurückzuführen ist, ist schwer zu entscheiden.

Nur wenige Bürgermeister waren so mißtrauisch den Studenten gegenüber wie jener, der meinte, der Hintergedanke der studentischen Bildungswerbung sei es, der CDU Wähler abspenstig und diese zu „Sozis“ zu machen. Weitgehend stehen die Bürgermeister der Aktion wohlwollend gegenüber. Allerdings hört man oft, daß die Notwendigkeit eingesehen werde, daß aber spezielle Schwierigkeiten in diesem, sie betreffenden Fall eine befriedigende Lösung nicht zulasse. Es bleibt abzuwarten, ob die notwendigen Maßnahmen für einen besseren Schulbesuch geschaffen werden, sei es daß ein Zweckverband als Träger einer Mittelschule gegründet wird, sei es daß die schon lange notwendige Schulbuslinie eingerichtet wird. Allerdings ist hier besonders unangenehm, daß ausgerechnet jetzt die Sparmaßnahmen des Landes Baden-Württemberg, fast alle neue Projekte bremsen.

Die Haltung der Pfarrer läßt sich wie folgt charakterisieren: Sie sind nahezu immer engagiert, entweder lehnen sie energisch die ganze Kampagne ab oder sie unterstützen sie recht tatkräftig. Vor allem Pfarrer der älteren Generation zählen zu den Gegnern. Sie sehen in einer weiterführenden Ausbildung, aber auch schon im Besuch der geplanten Nachbarschaftsschulen ausschließlich Gefahren. Folgendes Argument hört man oft: „Wenn einer etwas gelernt hat, dann bleibt er doch nie da auf dem Land." Ungeachtet dessen beabsichtigt das erzbischöfliche Ordinariat — das bisher besuchte Gebiet ist zum überwiegenden Teil katholisch — eine ähnliche Bildungswerbung zu betreiben, wobei nicht mehr, wie früher, das Schwergewicht auf die Heranziehung des Priesternachwuchses gelegt werden soll. Bei der bisherigen Arbeit erwies sich, daß viele Anschauungen und falsche Meinungen durch den erheblichen Informationsmangel bedingt sind. So ist beispielsweise eine seit drei Jahren in einer drei Kilometer entfernten Gemeinde bestehende Mittelschule unbekannt. Oder aber der Pfarrer einer nur wenige Kilometer von der Universitätsstadt entfernten Gemeinde weist darauf hin, daß man nicht das zu zahlende Schulgeld vergessen dürfe. Niemand, der solche Fragen erlebt hat, wird sich wundern, daß von Förderungsmöglichkeiten, von den finanziellen Auswirkungen einer über den gesetzlich vorgeschriebenen Schulbesuch hinausgehenden Ausbildung kaum etwas bekannt ist.

Eine ganze Reihe von Veranstaltern von Seminaren für die Landbevölkerung, wie Bauernverband, Landjugend, Kirche, regten ebenfalls an, während ihrer Veranstaltungen über Fragen der Bildung zu sprechen. Doch ist es den wenigen Mitarbeitern der Aktion bislang nicht möglich gewesen, solche Angebote in größerem Maße auszunutzen. Auch ihre Finanzierung hing sehr lange in der Luft.

In ihrem Erfahrungsbericht geben die Studenten eine Reihe von Vorschlägen. Mittels eines Faltblattes sollten die Eltern über die einzelnen Schultypen unterrichtet werden; Lehrer. Pfarrer und Bürgermeister sollten durch eine ausführliche Broschüre in die Lage versetzt werden, Fragen zu beantworten. Diese Anregung ist inzwischen vom Kultusministerium aufgegriffen worden, das eine solche Broschüre herausgebracht hat. Auch die vorgeschlagene Bildungsberatung, die neben die Berufsberatung treten soll, wird wahrscheinlich verwirklicht werden. Bei den Oberschulämtern sind solche Stellen bereits vorgesehen, allerdings ist noch nicht klar, ob sie verwirklicht oder eingespart werden. Außerdem sollten die Lehrer, vielleicht durch den Vermerk im Zeugnis der Schüler der 4. Klasse noch mehr auf die Eignung des Kindes für spezielle Schultypen hinweisen.

Die Frage des Erfolges kann wahrscheinlich nie genau beantwortet werden. Die vielen, verschiedensten Vorbehalte gegen „die Bildung“ werden sich, wenn überhaupt, nicht durch einen Vortrag abbauen lassen. Doch besteht die Möglichkeit, und es zeigen sich einige Ansätze dazu, daß auf diesem Gebiet von anderen Organisationen weiter gearbeitet wird. Daneben müssen als äußere Voraussetzungen eine Reihe von kostspieligen Maßnahmen ergriffen werden. Es müssen mehr Schulen gebaut werden, es müssen die dafür notwendigen Lehrer zur Verfügung stehen, es müssen die notwendigen Verkehrsverbindungen speziell für Schüler geschaffen werden, denn beispielsweise lehnen es viele Eltern ab, ihre Kinder mit dem Bus fahren zu lassen, der die Arbeiter in die Fabrik bringt.

Doch auch weitgehende Wünsche werden geäußert, die, wenn sie mit genügend Nachdruck vorgebracht werden, eine Reform unseres Bildungswesens bewirken könnten. So wird auf dem Land immer wieder auf die Notwendigkeit der Ganztagsschule hingewiesen, die die nahezu unmögliche häusliche Beaufsichtigung der Schulkinder bei den Hausarbeiten überflüssig machen würde. Bis dahin wird als Kompromiß vorgeschlagen, daß Studenten die Kinder am Nachmittag beaufsichtigen und die Hausarbeiten überwachen. In Breisach ist dies geplant, diese Schule soll dieses Modell ausprobieren. Da die angeschnittenen Probleme nicht allein auf den Raum Freiburg oder Südbaden beschränkt sind, wäre es wünschenswert, wenn sich auch andere Universitäten mit diesen Fragen beschäftigen würden. Wohl haben verschiedene Stellen bisher Interesse gezeigt, doch über erste Vorbereitungen ist man noch nicht hinausgekommen. Allerdings ist zu bedenken, daß eine solche Aktion einen erheblichen Einsatz von vielen Mitarbeitern verlangt. Die Freiburger Studenten jedenfalls, die viel Mühe in diese Aktion investiert haben, hoffen, daß es vielleicht auf diese Art gelingt, in Zukunft den Fragen von Schule, Ausbildung und Bildung in der Öffentlichkeit ein größeres Gewicht zu verleihen. Roland Koch