Den Probanden haben wir vom 21. Februar bis 16. April 1966, also rund acht Wochen lang, ständig beobachtet, ohne daß er unserer Gutachtertätigkeit Hindernisse in den Weg gelegt hätte. Im Gegenteil, der Proband gab sich denkbar ungezwungen, sagte spontan seine Meinung und berichtete in allem Freimut, was ihm von Tag zu Tag bemerkenswert erschien. Indem er regelmäßig Aufzeichnungen machte und sogar Wert darauf legte, diese an den Mann zu bringen, lieferte er ein äußerst aufschlußreiches Material, das eine detaillierte Diagnose erlaubt.

Sicherlich ist der Proband als geistig durchaus rege zu bezeichnen. Er notiert schon auf der ersten Seite seiner täglichen Niederschriften Sensationen wie Doppelgeburten, Ballettereignisse, Krankheitsfälle bei Menschenaffen, in erster Linie allerdings politische Erejgnisse, beziehungsweise, was er dafür hält. Für das immerhin überdurchschnittliche intellektuelle Niveau des Probanden spricht die planvolle Abfassung und klare Gliederung seiner Aufzeichnungen. Täglich teilt er seine Niederschriften säuberlich ein in „Berichte“ und „Meinung". Hier scheint ein Wille zur Selbstkritik und vernunftgemäßen Steuerung am Weik, der im ersten Augenblick bestechen kann. Um so auffälliger ist aber, daß der Proband die selbstgesteckten Grenzen immer wieder überspringt. Angesichts seiner guten Vorsätze ist dann seine Unfähigkeit, Meinungen von Tatsachen zu unterscheiden, doppelt erstaunlich.

Auch in dem Teil seines Diariums, in dem der Proband erklärtermaßen das politische Tagesgeschehen notieren will, kommt er alsbald auf Schleichwegen zu seiner Meinung zurück. So erscheint ein rüder Angriff des dem Probanden geistesverwandten „Bayern-Kurier" auf Mende am 7. April 1966 im Diarium als „Meldung“, und die Meinung des Abgeordneten Majonica, „Das Wiedervereinigungsrezept des Herrn Altmann ist kindlich“, wird vom Probanden ebenfalls in dicken Lettern auf seiner „Nachrichtenseite“ verbucht (am 4. März 1966). Als der Beschluß der US-Regierung bekannt wird, Truppen aus Westdeutschland abzuziehen, notiert dies der Proband auf seiner „Tatsachenseite“ als einen „aus außenpolitischer Naivität geborenen törichten Querschuß“, bekennt sich aber nicht selbst zu dieser Formulierung, die im Stil recht typisch für ihn ist, sondern legt sie als „Meldung“ Bonner Kreisen in den Mund: „Viele in Bonn“ empfänden so (12. April 1966). Als Vizekanzler Mende einen alten Vorschlag der Bonner Deutschlandpolitik, Verhandlungen mit Ostberlin im Auftrag der vier Mächte, jüngst wiederholte, trug der Proband auf seiner „Tatsachenseite“ in großen Lettern wütend ein: „Kritik an Mende reicht bis in das Ausland.“ Prüft man die dann folgende Meldung genauer, so zeigt sich, daß lediglich „politische und diplomatische deutsche Kreise in Nairobi“ zitiert werden: s i e sehen in den Bemerkungen des FDP-Vorsitzenden „eine schwere Gefahr für die bisherige Politik Bonns“. Das jedenfalls ließ sich der Proband von seinem Afrika-Korrespondenten Hans Germani melden, der solchermaßen zur Stimme „des Auslands“ avanciert. Die Worte „Schwere Gefahr für die deutsche Politik“ setzt der Proband suggestiverweise über seine Eintragung als Zweit-Überschrift (12. April 1966).

Diese Neigung, eine ganz persönliche Meinung aus allen Ecken der Welt widerhallen zu hören, weist auf einen wahnhaften Zug im Denken des Probanden. Dabei ist zu befürchten, daß er nicht weiß, wie ihm geschieht, wenn er seine inneren Stimmen — beziehungsweise Germanis Stimme — als Urteil „des Auslands“ fixiert. Diese Denkfigur verweist aber auch auf ein generell ego- und ethnozentrisches Denken des Probanden. Im Mittelpunkt seines Weltbildes steht das Ich (ein im Grunde schwaches und sentimentales Ich übrigens, das sich „vom Ausland“ und höheren Mächten bestätigt sehen muß, wie es sich auch dauernd von Dämonen bedroht sieht). Der Proband erträgt in seiner Wunschbefangenheit nicht, was wirklich „im Ausland“ vor sich geht und ist daher, um seine Wunschwelt stabil zu halten, gezwungen, auf seinen „Tatsachenseiten“ immer Fremdmeinungen einzutragen, die ihm die eigene Weltfiktion zu bestätigen scheinen. Was der Psychologe „wishful thinking“ nennt, durchzieht insgesamt die Urteile des Probanden.

Wie wenig er fähig ist, Wunsch, Wille und Wirklichkeit zu unterscheiden, zeigt sich an zahlreichen Auslands-„Berichten“. Im „Nachrichtenteil“ seines Stimmungs-Tagebuchs läßt er einen Bericht mit dem Satz beginnen: „Die vielen starken Worte auf dem Moskauer Parteitag sollten niemanden täuschen“ (31. März 1966). Demonstrationen gegen Präsident Johnsons Vietnam-Politik, die in Australien stattfinden, färbt der Proband sofort um zu „Demonstrationen australischer Undankbarkeit“ („Nachrichtenteil“ vom 23. Februar 1966). Wunderbar prägnant kommt auch das Schwarz-Weiß-Denken des Probanden in folgendem Jugoslawien„Bericht“ zum Ausdruck: „Es geht jetzt darum, wer über die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums entscheidet: wie bisher die kommunistische Partei, also die größtenteils dogmatisch befangenen Funktionäre, oder die kapitalistisch aufgeklärten Manager der sich selbst verwaltenden Wirtschaft“ (11. März 1966) (!). In seinem „Nachrichtenteil“ beweist sich der Proband, daß der Wahlerfolg Verwoerds „nicht ein Sieg unbelehrbarer Weißer“ sei (1. März 1966).

Die Welt ist alles, was der Fall ist, schrieb Wittgenstein; aber nicht alles, was der Fall ist, gehört zur Wahrnehmungswelt unseres Probanden. Demonstrationen gegen das Idol Ky werden klein geschrieben. Terror in Spanien, Portugal, Südafrika, Marokko, Persien etc. gehn ihn nichts an.

Schon die bisherige Analyse zeigt, daß die rationalen und cognitiven Strukturen des Probanden nicht ohne Rückgriff auf seinen endothymen Grund zu erörtern sind. Wir haben niemals einen Probanden gesehen, bei dem Denken und Fühlen sich so stark gegenseitig durchdringen zu einem schlafwandlerischen Fühldenken. Der Proband läßt deutlich seine Instinkte sprechen, wo er zu denken glaubt, und er denkt, um seine vorbewußten Interessen und Motive zu rationalisieren. So entsteht ein feingewebtes Netz ideologisierter Urteile, in dem sich der kritisch nicht geschulte Leser durchaus verfangen kann.

Da der Proband seine Wunsch- und Schreckbilder in die Außenwelt projiziert, nur diese Projektionen ihm aber Selbstsicherheit garantieren, mangels anderer geistiger Substanz, ist er nicht in der Lage, in das Wunschbild widerstrebende Fakten in ihrem Sosein aufzunehmen: er muß sie verdrängen oder verteufeln. Darum ist die Emotionalität des Probanden labil, reizbar und aggressiv. Der Realitätsverlust seines Denkens macht ihn in einer Weise innerlich unsicher, daß er nur durch schwere Aggressionen unliebsame Anstöße kompensieren kann.

Buddhistische Demonstranten gegen den von ihm geschätzten Ky sind also nichts anderes als „der Mob“ (16. April 1966). Da der Proband (an seiner formalen Intelligenz ist ja nicht zu zweifeln) weiß, daß das südvietnamesische Volk, wenn überhaupt noch, dann durch die Buddhisten repräsentiert wird, muß er diese abwerten als „extreme Buddhisten“ (9. April 1966). Er kann nicht verschmerzen, daß die blutige Diktatur Diems gestürzt wurde, und so fälscht er denn vor sich selbst die Tatsachen mit einem Wörtchen, das ihm wieder Ruhe gewährt: die südvietnamesische Volksbewegung gegen das Terrorregime von Diem entsprang nur dem „angeblichen Willen“ des Volkes (16. April 1966).

Die eigene Sprung- und haßbereite Irrationalität wird dabei auf den Gegner projiziert: in einer Eintragung vom 11. November 1965 schreibt der Proband Peking einen „pathologischen Haß“ zu. Den starren Schematismus der eigenen Urteilsbildung projiziert er auf den Gegner: Vietcongs sind ihm „Kampfautomaten“, und ohne Anflug von Selbsterkenntnis beklagt er, ein Vietcong habe „keine eigenen Ideen; er ist der Einheitsmensch mit der Einheitsgesinnung“ (5. März 1966).

In der Tat spiegeln die Urteilstrübungen, wie sie sich laufend in diesen Aufzeichnungen manifestieren, die starre Parteilichkeit kommunistischen Denkens: der Proband macht es sich, mit umgekehrtem Vorzeichen, zu eigen, und meint so, die Wahrheit zu erreichen. Was ihm in diesem Freund-Feind-Denken nicht in den Kram paßt, kanzelt er in seinem Diarium als „radikal“ oder „extrem“ ab. Wer nicht für mich ist, ist widerlich.

Enzensbergers Deutschland-Katechismus (der Proband hat ihn gelesen) wird sogleich als Thesensammlung der „äußersten Linken“ abqualifiziert (26. März 1966). Der sozialdemokratische Hochschulbund in München ist, natürlich, „linksradikalisiert“, und selbst „Stalinisten“ hat er an der Münchner Uni entdeckt (8. März 1966). Kritiker der Vietnam-Politik im amerikanischen Kongreß sind selbstverständlich „Heißsporne“ oder „Jongleure mit vagen Kompromissen“ (21. Februar 1966). Für die Militanz des Probanden darf es keine Friedensvorschläge geben, und kämen sie von hochgestellten Amerikanern.

Hört der Proband Gegenargumente, so wendet er sich nicht gegen diese, sondern verketzert die Urheber. Schon in älteren Niederschriften des Probanden figuriert Professor Helmut Gollwitzer als „Vertreter des sogenannten .Weltfriedenslager' “ (4. April 1962). Auf den Vietnam-Krieg ist der Proband nun derartig versessen, daß er einen Kritiker, US-Senator Morse, von vornherein abkanzeln muß, um dessen Argumente gar nicht erst aufnehmen zu müssen. Morse, so heißt es im „Nachrichtenteil“ der Aufzeichnungen, sei „für seine verbalen Exzesse bekannt“. Verweilen wir einen Moment beim ganzen Satz, der das Fühldenken des Probanden veranschaulicht: als „Meldung“ notiert der Proband am 19. Februar 1966 in sein Diarium: „Taylor verteidigte mit eindrucksvoller Ruhe und starken Argumenten die Politik einer begrenzten Eskalation des Krieges, hatte aber sich heftiger Attacken des für seine verbalen Exzesse bekannten Senators Wayne Morse zu erwehren, der behauptete, das amerikanische Volk werde sich bald gegen die Fortsetzung des Krieges erheben.“ So „meldet“ sich denn der Proband, daß er von General Taylor einen beruhigenden Eindruck empfing, da dieser einer begrenzten Steigerung des Krieges das Wort redete, daß Taylors Argumente stark gewesen seien, während Mörsens Rede mehr Heftigkeit aufgewiesen, ja sogar einen Angriff auf die Steigerung des Krieges enthalten habe. Mit der abschließenden Formel von den „verbalen Exzessen“ hat sich dann der Proband endgültig beruhigt.

Eine schwere emotionale Krise konnten wir dagegen beim Probanden am 23. Februar 1966 diagnostizieren. An diesem Tage sah sich der so leidenschaftlich Engagierte zu der Eintragung genötigt, Robert Kennedy habe die Beteiligung der südvietnamesischen Nationalen Befreiungsfront an einer Saigoner Koalitionsregierung gefordert. Unvergeßlich allen, die den Probanden auch nur etwas kennen, ist die schwärmerische Verehrung, die er in den Jahren zuvor für Robert Kennedy aufbrachte. Während etwa beim Berlin-Besuch die Begeisterung für „Bobby“ den Probanden schier übermannte, ließ er nun sein einstiges Idol rücksichtslos fallen, als es sich anschickte, von der Kriegspolitik abzuweichen. Hier wird deutlich, daß — bei aller Spitzen-Emotionalität — das eifernde Gefühl des Probanden nicht den verehrten Personen gilt, sondern durch Personen verkörperten Dogmen. Als der jahrelang blind verehrte Adenauer die Sowjetunion auch nur einmal als friedliebend hinstellte, war er für den Probanden erledigt. Als Robert Kennedy eine Lösung für den Vietnam-Krieg zu finden suchte, verfiel der einstige Schwarm binnen Stunden der Verachtung. Nun hieß es, in gerade hektischer Abreaktion (23. Februar 1966): „Mit seiner Forderung, die Kommunisten an einer Koalitionsregierung in Südvietnam zu beteiligen, hat Senator Robert Kennedy weder der Friedenspartei in den Vereinigten Staaten noch dem bedeutenden Namen, den er trägt, einen Dienst erwiesen.“ Und es folgte im Diarium dieses Tages das Strafgericht über den einstigen Heros: er identifiziere sich immer eindeutiger mit dem „radikalen“ Flügel der Demokraten, habe eine (natürlich) „extreme“ Position bezogen, sei dabei bestimmt von „persönlichen Gründen“, verfolge „durchsichtige Ziele“, seine Wirkung sei wie die der „wortreichen Ausfälle“ des Senators Morse etc. — Daß enttäuschte Liebe sich in schrecklichem Haß entlädt, der nach unmöglichen Vokabeln sucht, sollte einen Psychologen nicht verwundern; daß sie es aber so ungehemmt in scheinbar wohlerwogenen Notizen zum Zeitgeschehen tut, ist ein signifikanter Hinweis auf das, wozu der Autor dieser Notizen fähig ist.

Ein Lieblingsthema des Probanden ist die Macht, zu der er ein durchaus ambivalentes Verhältnis hat, wie die beiden folgenden Eintragungen beweisen: das Machtdenken der Sowjets, der großen Gegenspieler im parteilichen Denken, zitiert er voller Respekt am 23. März 1966: „Politik ist Macht über Menschen, nicht Verwaltung von Sachen, wie man 150 Jahre lang mit Claude Henri Comte de Saint-Simon utopisch geträumt hat. Die Entwicklung der russischen Revolution sollte in diesem Punkt jedes Mißverständnis beseitigt haben.“ Auf der anderen Seite aber will der Proband die Macht über Menschen, die der Kommunismus in der DDR innehat, brechen, und in diesem Zusammenhang überlegt er, „was eher da war: die Macht oder der Wille zur Macht, die politische Konstellation, deren einzelne Elemente sich rational zusammenzählen und gegeneinander abwägen lassen, oder jenes schwer wägbare Moment der direkten Akton, das dem puren subjektiven Wollen entspringt und das wohlgefügte Konstellationen jederzeit zum Einsturz bringen kann“. (In der Stellungnahme zu Enzensbergers Deutschland-Katechismus vom 23. März 1966.) Auf die Deutschlandfrage, wie er sie versteht, ist das Denken des Probanden fixiert, und ihre Lösung erhofft er sich vom subjektiven Wollen. Über die Zukunft notiert er am 2. April 1966 vielsagend: „Das deutsche Volk wird dann entweder seine Einheit besitzen oder es wird sie mit ganz anderer und vom ganzen Volk getragener Dringlichkeit von der Welt fordern.“ Da Regierungsverhandlungen mit der DDR für den Probanden eine „Verhärtung des Status Quo der Spaltung“ bedeuten, selbst wenn sie menschliche Erleichterungen für die Bevölkerung hüben und drüben bringen könnten („Meinungsteil“ vom 15. April 1966), verfolgt der Proband mit Haß jeden Vorschlag zu einem bedingten Zusammenwirken mit der Ostberliner Regierung. Dem Wiedervereinigungsmodell Rüdiger Altmanns unterstellt er schlicht (im „Nachrichtenteil“ seiner täglichen Eintragungen, Niederschrift vom 4. März 1966), sein Kernstück sei der „Konföderationsgedanke, wie er seit Jahren von Ostberlin propagiert wird“, — wohlweislich verschweigend, daß eine Konföderation ä la Altmann und eine ä la Ulbricht zu verschiedenen Ergebnissen führen sollen. Der Proband meint schließlich, die Sowjets bewiesen ihren Willen zur Koexistenz erst „in der Wiedervereinigungsfrage“ (23. März 1966) — also wohl durch Aufgabe der DDR? Hier schließt sich der Kreis. Wishful thinking bestimmt die Voraussetzungen wie die Ziele im Denken des Probanden, Meinungs- und „Fakten“-teil seiner acta mundi. Widmet er sich im Meinungsteil — und für ihn reserviert er allein täglich eine Seite — dem „puren subjektiven Wollen“, so kann er, ungehemmt von der Selbstzensur eines etwa verbleibenden Fakten-Gewissens, einer reißenden Emotionalität leben. Der Meinungsteil ist der eigentlich künstlerische Part der Niederschrift, in dem er die Engel und Dämonen Fleisch werden läßt. Da wird Hjalmar Schacht zum „Magier“, da wird die „Herabsetzung der Atomschwelle“ zum Desiderat, als spränge man über die erniedrigte Atomschwelle ins Feuerparadies. Da wird, um auch die Hölle nicht zu kurz kommen zu lassen, „der Nobelpreis für Scholochow oder eine Tournee des Bolschoi-Theaters das gleiche wie Hitlers Olympiade“ (778. April 1966). Um bei den höllischen Dingen zu bleiben: der Proband fängt an zu toben, wenn er auf das Thema Freie Universität kommt. In schrillem Ton spricht er von „schrillen Aktivitäten“ (15. April 1966); an der FU sieht er den Teufel selbst gastieren in „fieberhaftem Engagement“, und zwar „in Konkordanz mit kommunistischen antiwestlichen Propagandawellen“ (5. März 1966). Es ist fast so schlimm wie mit den „herumlümmelnden“ Gammlern in Berlin, deren „Zusammenrottungen“ gar Gelegenheit zur Einmischung „kommunistischer Provokateure“ gegeben haben sollen, und die eventuell eine solche „Belästigung der Öffentlichkeit“ darsteilen, daß zu erwägen wäre, ob man die „Zellen des Unwesens“ nicht „ausmerzen“ sollte (10. März 1966).

Hält sich eine solche Polemik, wenngleich als Spitzenleistung, noch im Rahmen kleinbürgerlicher Aggressivität, so kippt die Optik des Probanden doch manchmal wirklich ins schlechthin Originelle um: dann springt er um 25 Jahre zurück mit einem Satz und bringt Einblendungen, die sich wie Zeugnisse der Vergangenheit lesen. So führt er am 15. März 1966 die Wehrmachtsoffiziere, die im Hitler-Krieg dienten, als „untadelig“ vor, während eine Übermittlung militärischer Geheimnisse in die Schweiz von seiten einiger oppositioneller Offiziere Gegenstand einer „Schuld“, einer „Anklage“, „erschütternd und schwer faßbar“ sein soll.

Die Summe der Irrtümer des Probanden kulminiert offenbar darin, daß er seine Aufzeichnungen für eine Zeitung hält, während es sich doch, unser Gutachten zeigte es, in Wirklichkeit um stark polemische Notizen zum Zeitgeschehen handelt. Zwar soll in der täglichen zeitungsähnlichen Niederschrift Welt dargestellt werden, aber es spiegelt sich in ihr jedesmal mehr dynamische Subjektivität als Welt-Erfahrung. Ich-Labilität, geistiger Substanz-Verlust, aus ihnen resultierend Projektion, Verdrängung und Aggressivität, schließlich Realitätsverlust sind die wichtigsten Momente eines Syndroms, dessen Äußerungen nicht so unheimlich wären, gingen von ihm nicht Wirkungen aus.

Um eine Zeitung im engeren Sinne — es spricht sich bei den Fachleuten allmählich herum — handelt es sich bei den Niederschriften zwar nicht, aber da es tägliche Verlautbarungen zu meist politischen Themen sind, bleibt die Verwechslung mit einer Zeitung möglich, bleiben die versteckten totalitären Tendenzen in diesen Textsammlungen oft unentdeckt. Wenn man den kommunistischen Totalitarismus umdreht, meint der Proband offenbar, erhalte man Wahrheit und Wert. Die polemische Abhängigkeit vom Kommunismus tut diesem aber zuviel Ehre an.

Dem kommunistischen Dogma der gesellschaftlichen Zwangsläufigkeit setzt der Proband den „Willen zur Macht“, „jenes schwer wägbare Moment der direkten Aktion, das dem puren subjektiven Wollen entspringt“, entgegen. Die Aufzeichnungen beweisen die Unkontrolliertheit dieses Wollens und damit die Gemeingefahr, die vom Probanden ausgeht.