Der (Un)-Geist von Fürsteneck
Von weitem schon ist die Burg auf der Rundkuppe des Berges sichtbar, überragt von den alten Linden, dem Wahrzeichen von F. Das ist — so erfahren wir aus dem Prospekt des Hauses — das anregende und zugleich zur Sammlung führende Gehäuse, in welchem lebendige und fruchtbare Bildungsarbeit zum Ereignis wird. „Abseits der lärmenden Reizwelt, da wo Sammlung und Besinnung möglich ist, in freiwilliger Beschränkung auf das Wesentliche, Ursprüngliche, Schöpferische und Menschliche“, überdauert in den Gemäuern von F., deren historische Ehrwürdigkeit jede Kritik abweist, ein verstaubter Begriff von Bildung, der die Entfaltung der Persönlichkeit meint. Wohin diese sich entfalten soll, wird offen gelassen, wenn auch viel die Rede ist von der Bewältigung von Problemen, der Weitung des Blickfeldes und der Standortgewinnung im Zeitwandel. Die Vermittlung von Rezeptwissen lehnt man ab, „denn im Einzelfall muß jeder aus persönlicher Kraft und Haltung seinen Weg allein finden.“ Die neuen Herren von F. haben ihre eigenen Vorstellungen von Bildung und Gesellschaft entwickelt. Das Übermaß an Wohlstand und technischem Komfort kann sie nicht darüber hinwegtäuschen, daß uns weithin nur Sinnlosigkeit umgibt. „Die Spaltung geht heute durch jede Persönlichkeit. Die manipulierte Unterhaltungsindustrie und damit die Steigerung des totalisierenden Fremderlebens läßt die Schöpferkraft des Menschen, die Phantasie und damit das emotionale Eigenleben, die wertvollste Substanz unserer seelischen Anlagen, erstikken.“ Die gespaltene Seele wird in F. durch die Pflege der musischen Erlebnisqualitäten wieder zusammengeflickt, „damit der junge Mensch nicht nur vom Intellekt, sondern als ganzes Wesen angesprochen wird.“ Am ganzen Wesen soll der Mensch in F. genesen. Hier haben wir es mit wahrer Volksbildung zu tun. Die Wissenschaft bleibt den sozialen Oberschichten Vorbehalten, das Volk darf sich als Ersatz eine Persönlichkeit verschaffen. Denn „jede Hochkultur (bedarf) lebensnotwendig eines Fundamentes, das breit gelagert und in sich wohlgebildete soziale Grundschichten umfaßt. Nur auf solchem Fundament eines gebildeten Volkes kann die höhere wissenschaftlich-technische und künstlerische Kultur sicher — auch politisch sicher — ruhen und sich entfalten.“ Auf dem Sockel eines derart gebildeten Volkes kann sich das Standbild einer Oberschicht halten, deren Bildungsprivilegien unter Denkmalschutz stehen. Die Heimvolkshochschule F. setzt die traditionelle Trennung des deutschen Schulwesens zwischen volkstümlicher und wissenschaftlicher Bildung fort und leistet damit ihren Beitrag zur politischen Stabilisierung des Systems.
„Wo stehen wir im Bereich der Schöpfung als Menschen? Wo stehen wir in dem uns landschaftlich umgebenden Raum?“ so fragt sich der vom „Chaos des Vielzuvielen“ bedrängte Geist. Für die Natur- und Bodennähe seiner Unterrichtsgebiete liefert F., dessen Besucher zum größten Teil der ländlichen Bevölkerung entstammen, eine soziologische Begründung, die in der Klarheit ihrer Aussage schon seit langem vermißt wurde: danach hat sich das Gewicht der sozialen Probleme in ganz Europa längst von der Industrie zur Landwirtschaft verschoben. Statt sich von Klassenkonflikten verwirren zu lassen, begibt sich die Landbevölkerung auf die gemeinsame Suche „nach Wegen der Lebensführung und charaktervollen Lebenshaltung“. Angeleitet wird sie dabei von der Fürstenecker Pädagogik, einem merkwürdigen Gemisch aus abgestandenen Resten der deutschen Jugendbewegung und mystischer Raum-Zeit-Verklärung, leicht überpoliert mit dem Jargon einer sich modern gebärdenden Gesellschaftskunde, deren Hauptanliegen darin besteht, Leitbilder zu vermitteln und Standorte zu gewinnen.
Um die Wiedergewinnung des Standortes bemüht man sich in F. mit musischen Mitteln: wenn ich meinen Lebensraum in Schritt, Tanz und Spiel ausmesse, im Lied oder mit dem Instrument ausfülle, gehört er mir ganz, habe ich sicheren Standort in ihm. Hat der gehetzte Mensch in F. erst einmal Boden unter den Füßen bekommen, lernt er nach Schatzgräberweise, seine Lebenszeit in bewußtem Erleben des Tagesablaufes mit Arbeit und Feier, mit Tag und Nacht und den Wochen- und Jahresrythmus mitwirkend zu gestalten. Hier liegt die unaufgebbare Aufgabe der Heimvolkshochschule: sie soll den friedlos gewordenen Menschen aus der Unrast zur Rast führen, aus der Verwirrung zur Entwirrung, aus der Zerrissenheit zur Vereinigung, aus der Verflachung zur Vertiefung, aus der Regellosigkeit zur Ordnung in Raum und Zeit, aus der Anonymität zur persönlichen Gestalt... Inmitten dieses tiefgründigen Geschwätzes finden sich die für den Fürstenecker Geist bedeutsamen Worte von der Ordnung in Raum und Zeit, in der sich die Heilung der gespaltenen Persönlichkeit vollzieht. „Erst wenn der ganze persönliche Lebens- und Schicksalsraum des Menschen wieder sinnvoll geordnet wird, erfüllt sich das Leben des Menschen.“ Der spielerischen Suche nach einer neuen Lebensordnung wird in F. ein besonderer erzieherischer Wert beigemessen, „denn auf solche Weise schafft der Mensch Ordnung in sich und um sich und gliedert sich aus eigener Kraft dann spielend den großen Ordnungen ein.“ Übung zur Eingliederung in die großen Ordnungen, das ist wahre Volksbildung, auf der die „höhere Kultur“ auch politisch sicher ruhen kann.
Es hieße die Absichten derer von F. überschätzen, wollte man sie der Wiederbelebung eines Geistes bezichtigen, der von den hündischen Lebensordnungen zur nationalsozialistischen Formierung des deutschen Volkes führte. „Vieles wirkt hier zusammen, den meisten unbewußt“ — die sich im Prospekt daran anschließende Liste baulicher und landschaftlicher Gesichtspunkte wäre um den eines bedenklich aufgewärmten Geistes zu verlängern, welcher den Hütern des Heimes hoffentlich selbst unbewußt geblieben ist. Einen Verdacht an deren Naivität mag der Besucher jedoch schöpfen, wenn er aufmersam die Bibliothek durchforscht in welcher sich der Geist von F. zum Teil greifbar niedergeschlagen hat. Unter dem Sammelsurium aus Spenden und Restbeständen nehmen die heimat- und volkskundlichen Schriften über den ehemals deutschen Osten einen unverhältnismäßig breiten Raum ein. Das mag an dem besonderen Eifer ihrer Spender liegen. Stutzig macht den Betrachter jedoch ein in Leinen gebundenes Werk aus dem Jahre 1937 über den „Deutschen Volkscharakter, eine Wesenskunde der deutschen Stämme und Volksschläge“, das seinen Platz unter der Rubrik „Volkskunde“ gefunden hat.
Dem interessierten Heimvolkshochschüler wird ebendige Bildung hier anschaulich gemacht: „Die Kräfte des Blutes und des Bodens haben aus den deutschen Volksstämmen und Volksschlägen Lebensgemeinschaften mit besonderen körperlichen und geistig seelischen Eigenschaften und Verhaltensweisen werden lassen haben sie auf gleichem Raum und in gleichem Erleben vielfach zur Schicksalsgemeinschaft zusammengeschlossen, jeden einzelnen in besonderer Weise...“ Sicherlich kann man wie der für die Bibliothek Verantwortliche der Ansicht sein, daß man es hier oben mit mündigen Menschen zu tun habe, vor denen auch Machwerke solch zweifelhaften wissenschaftlichen Wertes nicht versteckt zu werden brauchen. Warum dieses Buch nicht als Dokument in das Fach „Nationalsozialismus“ eingereiht wurde, erklärt dieser Hinweis nicht. Eher scheint es sich hier um eine Abwehr von Erkenntnisen zu handeln, die, ließe man sie zu, auch die neuen Herren von F. zwingen würden, ihren Geist einer Prüfung zu unterziehen. Solange dort oben Handweberinnen und Geigenbauer sich einfinden, soll man sie ihre Art von Verbindung zwischen Dimensionen von Raum und Zeit hersteilen lassen. Handelt es sich jedoch um bildungsbeflissene Jugendliche, so hat die Öffentlichkeit einen Anspruch auf die sinnvolle Verwendung von Steuergeldern, mit denen auch die Fürstenecker Versuche „zur Standortgewinnung im Zeitwandel“ finanziert werden Gisela Burbach