Über dem Gift
Das deutsche Volk ist vom Untergang bedroht. Aber nicht ein möglicher deutscher Bruderkrieg, nicht die Massenvernichtungsmittel signalisieren Gefahr, sondern das Verderben kommt von der Genußsucht, dem vorehelichen Geschlechtsverkehr und der moralischen Entartung.
Dieser Meinung ist jedenfalls die protestantische Aktion „Sorge um Deutschland“, in deren jüngster Flugschrift es heißt: „Unsere Jugend, unser Volk sterben bald über dem weithin eindringenden Gift.“ Wie man über einem Gift sterben kann, das weithin eindringt, erläutert der Mahnruf nicht, aber eines wird klar: der unbestreitbare Wandel sexualmoralischer Auffassungen, der in unserer Wettbewerbsund Konsumgesellschaft Platz gegriffen hat, wirkt alarmierend in einigen kirchlichen und bürgerlichen Kreisen.
Nachdem die Aktion „Sorge um Deutschland“ schon in ihrem Gründungsaufruf formuliert hatte, wir stünden „mitten in der Auflösung aller sittlichen Ordnungen“, eine „tödliche Gefahr für den Fortbestand unseres Volkes“ sei die Folge, erhebt sie jetzt ihre Stimme, damit „unser Volk nicht untergeht in Sünde und Schmutz..
Das sind starke Worte. Aber trotz der bitteren Medizin, die hier verabreicht werden soll, hat man den Eindruck, daß die um die Sitten Besorgten am Symptom herumkurieren, doch nicht die Ursachen des Verhaltenswandels begreifen, die gesellschaftlicher Natur sind. Wenn voreheliche Intimbeziehungen — und gegen diese wendet sich „Sorge um Deutschland“ besonders heftig — heute kein Tabu mehr sind, so handelt es sich ja nicht um ein isoliertes Faktum, sondern um eine Folge grundlegend veränderter sozialer Bedingungen.
Wie man als Christ ausgewogen über die neuen sexualmoralischen und sozialen Probleme urteilen kann, bewies der Hannoversche Oberkirchenrat Wilkens, als er zu den Aktionen „Saubere Leinwand“ und „Sorge um Deutschland“ Stellung nahm und es beispielsweise „unrealistisch und übertrieben“ nannte, „im Versagen von Filmen und Illustrierten sogleich die Ursache einer allgemein sittlichen Katastrophe zu erblicken“.
Es blieb den Zeitschriften der Evangelischen Akademikerschaft und der Evangelischen Studentengemeinde in Deutschland, dem „Radius“ und den „Ansätzen“, Vorbehalten, die Bußprediger einmal zu fragen, was das spezifisch Christliche an den Sauberkeitsaktionen sein soll. Im „Radius“ schrieb Horst Bannach zum Thema „Sorge um Deutschland“: „Sorge worum? Sorge um Leitbilder oder Sorge um den Menschen? Man darf doch nicht übersehen, daß Jesus der Sorge um Leitbilder zum Opfer gefallen ist, denn er war verschrien als Freund der Sünder und Huren.“ Und im letzten Heft der „Ansätze“, das ganz dem Thema „Immer Ärger mit der Moral“ gewidmet ist und für moderne verantwortungsvolle Partnerschaft plädiert, sagt Pastor Klicker: „Glaube wie Liebe sind nicht normierbar, Sünde und Schuld von daher auch nicht am Verstoß gegen gültige (oder gar nur postulierte) Normenkataloge identifizierbar. Natürlich äußert sich die Sünde des Sünders in Taten, aber eben in solchen der Lieblosigkeit, nicht der Normenverstöße. Im selben Heft erinnert der Psychoanalytiker Mitscherlich daran, daß „Moral falsche, unter Umständen mörderisch falsche Sicherheit zu verleihen vermag.“ Merkwürdig, daß auf solchem Wege Tugendwächter erst an den Geist des Evangeliums erinnert werden müssen.
Ebenso merkwürdig, daß schon im BußtagsAufruf der Evangelischen Kirche weder von Eros noch von Agape, weder von Lebensfreude noch von Nächstenliebe die Rede war, dafür aber um so mehr von „Geboten und Leitbildern“, „Fäulnis und Entartung“. Der Gründungsaufruf von „Sorge um Deutschland“ verlangte dann „wirksame Maßnahmen gegen alle zersetzenden Einflüsse". Seltsam endlich, daß dieses Vokabular ausgerechnet an die Sprache der illiberalen Sittenapostel jenseits der Elbe erinnert. Auf dem 11. Plenum des Zentralkomitees der SED wandte sich Erich Honecker gegen moralzersetzende Philosophien.“ Er sagte: „Unsere DDR ist ein sauberer Staat. In ihr gibt es unverrückbare Maßstäbe der Ethik und Moral, für Anstand und gute Sitte ... In diesem Sinne legen wir entschieden Wert auf die Sauberkeit auch in der Produktion des Fernsehens und des Films.“ Dieses Vokabular sollte den nicht länger überraschen, der weiß, daß „Zersetzung" und „Entartung“ nationalsozialistische Lieblingsvokabeln waren und daß Intoleranz eine der Erbschaften des „Dritten Reiches“ ist, die in Ost und West offenbar noch mit Eifer verwaltet wird. Reimar Lenz