Tübinger Betrachtungen
Unbestritten ein wichtiges Buch. Überflüssig, die Notwendigkeit herauszustellen, eine Geschichte der Demokratie in Deutschland zu schreiben und die Faktoren zu fixieren, die ihre Verwirklichung bisher regelmäßig verhinderten. Nützlich erscheint nun vor allem, auf einige Punkte hinzuweisen, die die Begrenzungen der Dahrendorfschen Analyse aufzeigen.
Zu Dahrendorfs Hauptschwächen zählt die wissenschaftliche Überzeugung, „Konflikt“ sei eine Art ontologischer Konstante und seine einzig angemessene Behandlung die „Institutionalisierung“ und „Kanalisierung“. Der Nutzeffekt solcher formalen „Konfliktmodelle" ist eher satirischer Natur: denn wäre es eine Alternative für den Krieg in Vietnam, jährlich etwa Turniere mit Schwert und Lanze zwischen der Befreiungsfront und den von der amerikanischen Armee wieder etablierten Feudalherren auszutragen und nach deren Ausgang zu beurteilen, ob die bis zu fünfzig Prozent der Ernte betragenden Abgaben von den Bauern zu leisten sind? Die Nutzanwendung der Praxis auf die Theorie ist dagegen ungleich größer: denn in Umkehrung der Dahrendorfschen These ist festzuhalten, daß eine stabile Lösung nicht die „Kanalisierung“, sondern nur die Aufhebung des sozialen Konflikts sein kann.
Eine Resultante der Konflikttheorie ist die Fetischisierung marktwirtschaftlicher Prinzipien, die — nach Dahrendorf — zu einem Garanten der Freiheit werden, ergo unantastbar sind. Das Ergebnis ist also eine Form des statusquo-Denkens, umschrieben mit der Formel vom freien Spiel der Kräfte, eine mechanistische Vorstellung, welche die „Machbarkeit“ der Geschichte, etwa durch soziale Revolutionen leugnet. Weil Dahrendorf den sozialen Konflikt in den Rang einer Naturkategorie erhebt, begeht er selbst jenen Fehler, den er Marx ankreidet: gesellschaftliche Prozesse als naturhafte Invarianten zu beschreiben.
Die Tatsache, daß „öffentliche Tugenden“ gefordert werden, andererseits ein Maximum an politischer Beteiligung eher Krisensignal als Zeichen für stabile Verhältnisse sein soll, bezeichnet eine der eigentümlichen Brüche in Dahrendorfs Argumentation — oder richtiger: in der von ihm gewollten Form von Demokratie. Flinzu kommt die elitäre Vorstellung von der Notwendigkeit einer homogenen politischen Klasse und einer distributiven Ungleichheit, der lediglich die bestehenden Extreme abgeschnitten werden sollen, wodurch die Umsetzung von Reichtum in gesellschaftliche Macht verhindert wäre. Was tragbar, was extrem ist, bleibt Undefiniert.
Der Gedanke, daß Demokratie nicht Abstimmungsmechanismus, sondern Mittel rationaler Klärung ist, wird verdeckt durch das formale Konkurrenzprinzip. Dahrendorfs Vorstellung von Demokratie erinnert an die seltsam-fremden Beschreibungen von Ethnologen, die Spielregeln der Selbsterhaltung und Stagnation entdeckten. Die Beschränkung der Demokratie auf Kontrolle homogener politischer Eliten liegt quer zu dem Gedanken einer Verfassung der Freiheit, der mehr gewährt werden muß als die Möglichkeit zur Akklamation. Unzweifelhaft richtig ist die Feststellung, daß durch den Nationalsozialismus traditionale autoritäre Strukturen in Deutschland beseitigt wurden. Während in der DDR diese Entwicklung um den Preis einer totalitären Regierung sich vervollständigte, wird langsam die „akzeptierte Unmündigkeit“ und „traditionale Bindung“ auch in der BRD zugunsten einer modernen Lebenshaltung abgelegt. So jedenfalls sieht es Dahrendorf. All die rudimentären Formen einer autoritären Gesellschaft, die er in der BRD sieht, tut er ab mit der nicht eingelösten Behauptung, die vom Nationalsozialismus erzwungene Abkehr sei unwiderruflich. Inwieweit die Ideologie von der Formierten Gesellschaft die Adenauersche Politik fortführt, verbunden mit einer schleichenden Umwandlung demokratischer in autoritäre Strukturen, kann hier nicht untersucht werden. Daß gleichzeitig mit der Veröffentlichung des DahrendorfBuches die Vision des Kanzlers propagiert wurde, enthüllt, wie naiv Dahrendorfs Vorstellung von der Sozialstruktur in der BRD teilweise ist. Doch: wäre er seinem eigenen Ansatz treu geblieben, hätte er voraussehen müssen, daß der Versuch endgültiger Konfliktiösungen infolge der von ihm abgelehnten und so bezeichneten deutschen Ideologie nicht ausbleiben konnte. Daß der Versuch autoritäre Züge tragen würde, war seit jenem — mit dem Blick nach Osten — gesprochenen Wort von der noch nie so ernsten Lage erkenntlich. B. B