Eine Phänomenologie des Faschismus
Nolte ist nicht nur als Außenseiter zur Geschichtswissenschaft gekommen, seine Prämissen grenzen sich klar gegen die landläufige Totalitarismusforschung ab. Wenn er den Faschismus „in seiner Epoche" begreifen will, muß er die „Unterschiedlichkeit der Situationen, der Zwecksetzungen und der jeweiligen Substrate (Völker, Klassen)“ (S. 34) berücksichtigen, die ihn von anderen oberflächlich ähnlichen Formen der Machtausübung trennt. Diese Ähnlichkeit wird vielmehr in ihrem herrschaftstechnischen Sinn erkannt; sie gehört zu den Kunstgriffen, die den „Aufbruch“ der mittelständischn Massen nach dem ersten Weltkrieg (zu denen auch damals schon weite Teile der SPD wählenden Arbeiterschaft zu rechnen waren) im nationalen Kollektiv abfingen und nach außen leiteten. Demgemäß kann Nolte den Faschismus vorerst als „Antimarxismus“ mit „einer radikal entgegengesetzten und doch benachbarten Ideologie“ (S. 51) bestimmen, deren Wurzeln er in der französischen gegenrevolutionären Tradition sieht. Noltes phänomenologische Methode geht von der wertrationalen (beziehungsweise ideologischen) Bestimmtheit sozialer Gebilde aus, die von Menschen in wechselnden Situationen gemacht und daher von deren Selbstverständnis abhängig seien. Da aber das Charakteristische an den Ideenagglomeraten der Action franpaise, des italienischen Faschismus und des Nationalsozialismus, die Nolte als historische Steigerungsformen auseinander entwickelt nicht eine subjektiv rationale Erkenntnis, sondern die Unfähigkeit kleinbürgerlicher Intellektueller war, Veränderungen der kapitalistischen Gesellschaft nachzuvollziehen, muß Nolte die „Gedankenwelt“ der Führer Maurras, Mussolini und Hitler weithin ihrer eigenen Verwirrtheit überlassen. Ihm entgeht die Funktionalisierung der Inhalte, die Lukacs (in „Die Zerstörung der Vernunft“) als wesentlich für die Abwehrbewegung des Bürgertums gegen proletarisch Ansprüche herausstellt. Weil der psychoanalytische „Gesichtspunkt“ ebenso wie der ökonomische für Nolte nur einer unter anderen ist, kann er diese Funktionalisierung auch in der Psychologie der Ideologen und Führer nicht richtig fassen. Er begnügt sich mit Andeutungen: „Angst“ vor dem Zerfall historisch gewordener, ins Ästhetische transponierter Ordnungen bei Maurras; Geschichte als „Gesamtentartung“, für die ein schuldiger „Erreger“ gefunden werden muß; manichäische Aufspaltung von Natur (Rasse, feudale Privilegien, Gemeinschaft) und Widernatur (Juden, rationale - kapitalistische oder sozialistische Vergesellschaftung); Hitler als „Medium“ seiner Zuhörer. — Mussolinis frühe politische Tätigkeit als Redakteur des „Avanti“ wird fehleingeschätzt, wenn man wie Nolte nur „lebensphilosophische Anklänge“ in einem sonst orthodoxen Marxismus wahrnimmt. Die Skizzierung eines Zustands, in dem „das Leben intensiver und frenetischer sein wird, beherrscht vom Rhythmus der Maschinen“ (Mussolini, zitiert S. 211), hat mit sozialistischen Zielen nichts gemein, um so mehr mit der im französischen Syndikalismus und deutschen Revisionismus auftauchenden Verherrlichung des technischen Fortschritts und seiner „Produzenten“, denen gegenüber der politische Bereich als trügerisch und die Revolution nurmehr als „Ideal“ erscheint — Reflexe der nicht begriffenen Eingliederung der Arbeiterklasse in die bürgerliche Gesellschaft. Mussolinis Appell an den Kampfwillen des Proletariats lagen dieselben schnell zu enttäuschenden Vorstellungen zugrunde wie Sorels Konzeption vom Generalstreik; beiden kam es nicht auf die Emanzipation der zahlreichsten Klasse an, sondern auf die stärkeren Bataillone.
Noltes Methode, die „die Sachen zur Anschauung bringen“ will (S. 25), macht es ihm möglich, den Unterschied von faschistischer und kommunistischer Gewaltsamkeit am Beispiel der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen in Italien (1920-22) zu begründen. Später kommt er auf den Totalitarismusbegriff zurück und hält als spezifische Differenz die ökonomische Notwendigkeit totalitärer Maßnahmen in der Sowjetunion fest: „Sie mußte totalitär sein, und daher brauchte ihr Telos nicht der Krieg zu sein“ (S. 471). Warum andererseits der Faschismus notwendig auf Krieg angelegt war, kann er nicht zureichend erklären, weil ihm der Zusammenhang von monopolistischer Planung und Gewinnung eines entsprechenden „Lebensraums“ (vgl. z. B. Paul Sering: „Jenseits des Kapitalismus“) von seinen Voraussetzungen her fremd bleibt. Sie lassen ihn den Faschismus schließlich doch nur als „zweite und schwerste Krise der liberalen Gesellschaft“ (S. 544), nicht als bisher radikalste immanente Lösung ihrer eigenen Widersprüche sehen. Diese Widersprüche treten bei Nolte in terminologischer Verkleidung auf, wenn er den Faschismus „philosophisch“ als „Widerstand gegen die praktische Transzendenz und Kampf gegen die theoretische Transzendenz in einem“ definiert (S. 544). Unter Berufung auf Kant, Marx und Max Weber versucht er Anschluß zu gewinnen an die kritischen Traditionen des Liberalismus und die Vorstellung einer vom Profitinteresse nicht begrenzten „praktischen Transzendenz“ der Güterproduktion. Erst wenn sich die kommunistische und die bürgerliche Gesellschaft auf dieser Ebene träfen, sei die Epoche des Faschismus (und mit ihr die sie bedingende des europäischen Nationalstaats) zu Ende.
R. D.