Mythen-Erforschungen
Selbst nach dem Grabgesang Albert Schweitzers auf die Leben Jesu Forschung, deren geschätztes Endergebnis über 60 000 Versuche einer Darstellung des Lebens Jesu war, hat es wieder ein Autor unternommen, einen Bericht über den historischen Jesus von Nazareth zu schreiben. Was fast alle Schreiber einmütig bezeugen, daß Jesus lebte und starb, nimmt Carmichael zum Anlaß, seine Zweifel in bezug auf dieses Leben und diesen besonderen Tod vorzutragen. Carmichaels Leben-Jesu-Forschung kommt zu folgendem Schluß: Jesus, der als Wanderprediger die bevorstehende materielle Umwandlung der Welt zum Reich Gottes verkündete, versucht seine Verkündigung selbst in die Tat umzusetzen. Ungefähr im Jahre 33 unserer Zeitrechnung unternimmt er mit einer Truppe von 900 bis über 2000 Mann einen bewaffneten Umsturzversuch in Jerusalem und erobert dabei vorübergehend den Tempel.
Der erste und wichtigste Punkt für die Entstehung des Christentums war das Scheitern des Aufstandes und der Tod des Jesus Um den gekreuzigten Anführer bildete sich in der Folgezeit ein Mythos. Die Urgemeinde verband damit die Hoffnung auf die im Umsturz versagt gebliebene Umgestaltung des jüdischen Staatswesens Der eigentliche Stifter der „christlichen“ Religion wird, wie schon Fromm in der Nachfolge Freuds und Carmichael übereinstimmend betonen, der Apostel Paulus. Die Kirche, die sich im Laufe der Zeit konstituierte, kann im eigentlichen Sinne nicht eine christliche, sondern eine paulinische genannt werden. Wenn man Carmichael und in der Entstehung des Christusdogmas Fromm bis hierher folgt, müßte sich die Richtigkeit der These an der Entwicklung der Kirche und der jeweiligen Häresien zeigen. Bricht in den Häresien (etwa in der Wiedertäuferbewegung, aber auch beim Luther der Reformationszeit) der soziale Charakter der urchristlichen Heilserwartung durch, so konstituiert sich bald darauf durch die paulinische Theologie wieder eine Kirche. Verallgemeinert man dieses Ergebnis, so läßt sich die Frage, ob man es bei den christlichen Sekten heute mit kleinen Kirchen oder häretischen Bewegungen zu tun hat, wahrscheinlich daran entscheiden, welche Bedeutung die soziale Frage in ihnen hat und inwieweit sie eine ausgeprägte Theologie haben. F. S