Als er nach dem ersten Weltkrieg, im Herbst 1919 mit seiner Conference provocative das Berliner Kabarett Schall und Rauch eröffnete, sprach Walter Mehring von Frangois Viilon als „unserem Schutzpatron" und von dem harlekinesken Troß der apokalyptischen Reiterei, der heute wie im Mittelalter zu haben sei; das Resümee; „Rire, jouer, mignonner et baiser.../ II n’est trösor que de vivre ä son aise“ — „Nichts ist von Wert als nur: sein Leben zu genießen". So wurde der Pauvre Frangois zum Sinnbild eines makabren Lebensgenusses, der seine Aufschwünge aus der Widerwärtigkeit des Daseins nimmt, wie es Bertolt Brecht in der bekannten, 1918 entstandenen Ballade Vom Frangois Viilon beschrieben hat; „Als er die Viere streckte und verreckte / Da fand er spät und schwer, daß ihm dies Strecken schmeckte“. — In diesen Refrain ist eingegangen, was Mehring dann den „nun spottbilligen Galgenhumor“ und die enragierte Poesie engagierter Mimen nennen sollte.

Gewiß: im Rückgriff auf diese posenhafte Lyrik der frühen zwanziger Jahre, der Brecht schon fernstand, als er seine Hauspostille veröffentlichte, im Rückgriff auf diese Verse der Rage, des Engagements, des Sentiments und der grotesken Mimik gelingen Wolf Biermann die besten Stücke seiner Drahtharle, der ersten — westdeutschen — Publikation dieses ostberliner Bänkelsängers und Chansoniers; Anklänge an Heine, Wedekind, Mühsam und das politische Couplet Tucholskys ergänzen die Anleihen bei Mehring und Brecht. Eine Erneuerung altbekannter Brettlkunst zur Laute also. — In anderem Licht muß jedoch dieser unverschleierte Rückbezug auf eine revolutionäre Phase der deutschen Lyrik gesehen werden, wenn man Biermann als politischen Dichter nimmt und ihn gegen jene politische Realität hält, auf die er sich in seinen Balladen, Liedern und Gedichten bezieht. Betrachtet man zum Beispiel seine Stücke in der Reihenfolge ihrer Entstehung, dann fällt auf, daß die jüngsten Verse die schärfsten sind und daß gerade sie sich am stärksten bei den lebendigen Autoritäten der 1 Vergangenheit rückversichern; und man wird es als Zeichen zu nehmen haben, daß es eben nicht der späte Brecht der dürrtendenziösen, polemischen Freiheit und Democracy, sondern der Villon-Brecht ist, der hier gegen eine erstarrte, doktrinär gewordene Ideologie und ihre Partei ausgespielt wird.

„Es hackte die Partei / sich ab so manchen Fuß / so manchen guten Fuß / abhackte die Partei", heißt es in der „Ballade vom Mann“; Fußnote: „der sich eigenhändig beide Füße abhackte“. Man kann es als skeptische Ironie, freilich auch als Optimismus nehmen, der letztlich doch wieder auf Ideologie und System vertraut, wenn Biermann „manchmal ... auch“ der Partei das Bein wieder anwachsen läßt. Verse wie „Sozialismus (sag ich laut) / ist, daß ihr den Sozialismus / AUFBAUT!!! Aufbaut! (aufbaut)“ und „jetzt laßt mich bitte allein sein / auf der schiefen Linie / getrennt vom Kollektiv“ stehen hart nebeneinander; eine jüngere Generation, die Brecht in dem Gedicht An die Nachgeborenen gemeint haben könnte, opponiert gegen die „alten Genossen“, gegen deren Praktik, und pocht auf ihre, eine menschlichere Individualität. — „Ich bin der Hecht! / Ihr müßt mich zerfleischen / zerhacken, durchn Wolf drehn / wenn ihr mich aufs Brot wollt“: nur selten freilich prellt die Kritik so weit vor wie hier, daß sie sich nicht mehr selbst in den Arm fallen und sich zurücknehmen kann. Den wohl geschickteren, indirekten Weg des Affronts geht Biermann daher in seiner Balladeauf den Dichter Frangois Viilon, die als das Parabelstück seiner politischen Lyrik gelten kann. Anders als Mehring oder Brecht identifiziert sich Biermann mit dem altfranzösischen Lautenschläger nicht im Gefühl der Lebenslust trotz Widerwärtigkeit, sondern kopiert, indem er von sich selbst spricht, dessen List gegenüber den herrschenden Verhältnissen: „mit seinen Bittgesängen zog / Er sich oft aus der Schlinge / Er wollt nicht, daß sein Hinterteil / Ihm schwer am Halse hinge“. Dem entspricht der Schluß dieses Rollengedichts. Während sich Biermann „als treuer Sohn der DDR“ bekennt, finden die „drei Herren aus dem großen Heer / Der Volkespolizei“ — als letzten Rest des „Franz Fillonk“ — im erbrochenen Schrank „nur Erbrochenes / Das mählich niedersank“. Von dieser grotesken Schlußpointe her erscheint auch das Lippenbekenntnis als ein Akt des Ekels: „Blumen nur / In Liedern sanft besing ich“.