Kampagne Kampagne
Die Kampagne für Abrüstung traf sich auch dieses Jahr wieder in ländlichen Gebieten, um dort den Ostermarsch in die großen Städte zu beginnen. „Der Ostermarsch geht das ganze Jahr über“; nicht nur mit dieser abstrakten Forderung nach permanentem politischen Engagement versucht die Kampagne von dem Bild abzurücken, das sie in der Öffentlichkeit zu der Bewegung mit dem Wandervogel stempelte. Aber von ihrer Zusammensetzung, die immer noch religiöse Moralisten, Teile der Jugendbewegung und viele der auch nicht gerade einheitlichen, vorwiegend sozialistischen außerparlamentarischen Opposition umfaßt, kommt die Kampagne nicht los Die Sozialisten der Kampagne sind ernstzunehmende Gegner der dogmatischen Versteinerungen in dem Ostblock, der längst keiner mehr ist, ihre Kirchenleute sind scharfe Kritik an der Heuchelei und Lahmheit der offiziellen Kirche; beide bringen in ihren besten Momenten die Doktrinen auf ihren Begriff. Daß sich Atommoralisten und Sozialisten in der Kampagne vertragen, ist eine Bedingung und eine Gefahr. Sehr beachtlich ist die hohe Zahl der Professoren, allgemein der „Intellektuellen“, die dieses Jahr für die Ziele der Kampagne votieren; gegen nukleares Wettrüsten, NATOPolitik, Vietnamkrieg und Notstandsgesetze. Dieses Dilemma versuchte die Kampagne dieses Jahr (mit 14 Märschen, ca. 145 000 Teilnehmer) nicht nur mit spezifischen politischen Forderungen zu überbrücken. W. Neuss, Star auch noch zusammen mit der Folkloresong-Größe Joan Baez, schrie der Bundesregierung gewitzter ihren Aberwitz zurück; man solle sie „als alte engstirnige Stalinisten bezeichnen" Die Veranstaltung am Abend des Ostermontag schien dann Ausmaßen eines civil right meeting sich zu nähern; manchen mutete die Blumengroßmarkthalle noch wie ein zur Gemeindeversammlung hergerichteter Vorstadtschuppen an. Je nun, die Stadt gab nichts anderes her. Neuss zog scharf vom Leder als Ansager. Joan Baez, langsam aber sicher zur Protestsong-Sensation gesteigert, war eine Extra Schau; aus den USA speziell zum Marsch herbeigeeilt (sie hatte jedes reine Show business in den Jahren vorher für Europa abgelehnt). Alle spielten ohne Gage. Degenhardt und Süverkrüp zupften Protesgitarre — man heißt sie, verlegen um undeutsche Erscheinungen, Chansonniers. Alles schwitzte vor Begeisterung und Hitze. Die Sänger und Kabarerettisten haben die Folklore schon hinter sich gelassen. Wenn sich ihr politischer Witz in der Kampagne verbreitet, wird sie vielleicht auch ihre Folklore noch mehr zugunsten der Politik auflösen können. Singen kann man dann noch besser. W.