In einer Rezension in der DDR-Zeitschrift NeueDeutsche Literatur ist die Rede von der modernen Literatur und ihren „verschiedenen methodischen und formalen Elementen, die in unserem Jahrhundert verstärkt auftraten und deren Entwicklung durch das bürgerliche Krisenbewußtsein und einen dadurch geschärften Kunstsinn beschleunigt wurde“. Der Rezensent fährt fort: „Zwar häufig in ihrer Handhabung durch bürgerliche Ideologie bedingt, haben sie selbst doch keineswegs insgesamt auch einen dekadenten Charakter. Vom Sozialisten zum Aufbau eines System- und strukturgebenden Weltbildes verwandt, wandeln sich die Formen in ihrer Funktion und damit in ihrem Charakter.“ Die Redaktion der Zeitschrift, in der solches geschrieben werden konnte, ist inzwischen umbesetzt worden. Der Roman, der solche Äußerung provozierte, wurde just in den Tagen an die DDR-Buchhandlungen ausgeliefert, als das 11. Plenum des SED-Zentralkomitees den Kampf gegen modernistische Literaten und sonstige Kulturschaffende anheizte.
Der Autor dieses Romans reist nach wie vor unbehelligt nach Westdeutschland, um dort aus seinem Werk vorzulesen: Hermann Kant, Jahrgang 26, SED-Mitglied. Sein erster Roman Die Aula, vorabgedruckt in der FDJ-Zeitschrift FORUM, ist ein Bestseller in der DDR geworden Es ist die Darstellung einer Suche nach der vergessenen Zeit. Die vergessene Zeit, das ist die Frühzeit der DDR, damals noch SBZ. Der Suchende ist ein DDR-lntellektueller, freier Journalist mit Namen Robert Iswall, der Anstoß zur Suche ein offizieller Auftrag, der per Telegramm eintrifft: „Mit Auslaufen Semester Schließung ABF vorgesehen stop Abschlußfeier geplant stop kannst Du Rede halten stop Maibaum stop Direktor.“ Ins Westdeutsche übersetzt heißt dies: Die Arbeiter- und Bauernfakultät (ABF), die von 1949 bis 1962 Proletarier abitur-reif machte, schließt nunmehr, und ihr Direktor bittet einen ihrer Ehemaligen, auf der Abschlußfeier eine Rede zu halten Robert Iswall, dem ehemaligen Elektriker und jetzigen Intellektuellen, wird durch diesen Auftrag die fast vergessene Vergangenheit wieder lebendig. So lebendig, daß sie sich nicht widerstandslos in Rednerphrasen verpacken läßt. Iswall gerät in Schwierigkeiten beim Schreiben einer Rede. Er merkt, daß er nicht nach bewährtem Rezept verfahren kann („Bevor ich nun meine einleitenden Bemerkungen abschieße und mich dem ersten Hauptpunkt zuwende ...“). Er gerät in Unsicherheit bei seinem Bemühen, das geforderte „Typische“ gehörig herauszuarbeiten und sinniert: „Man müßte eine Maschine haben, ein Typometer, so einen Apparat mit Kybernetik, mit Mikrofon und einer Skala: links rot für das Typische, also Erzählenswürdige, und rechts blau für den individualistischen Abfall.“ Aber eine solche Maschine hilft nicht: „Man setzt sich vor das Mikrofon und trägt die Sache vor, und wenn man fertig ist, schnurrt und knattert es eine Weile im Kasten, denn die Maschine hat ja einiges zu berücksichtigen, Zeit und Ort der Handlung, allgemeine Lage, besondere Lage und die neuesten Forschungsergebnisse, und schließlich schlägt der Zeiger aus, mitten ins Blaue, und man kann die Geschichte wegwerfen.“ Der designierte Abschlußfeier-Redner handelt gemäß dem Motto, das dem Roman vorangestellt ist: „Der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen. Was dieser gewollt hat, müssen wir erforschen, wenn wir zu wissen wünschen, was jener will“ (Heine, Französische Zustände). Iswall sucht zu erforschen, „wie es gewesen ist“. Dies geschieht im Roman nicht einfach so, daß die Gegenwart bloßer Rahmen für eine einzige Rückblende ist. Vielmehr laufen die Zeitebenen parallel. Der Held steigt abwechselnd von der einen über in die andere. Während er in der Gegenwart seinen Alltag lebt, eine Reise nach Westdeutschland unternimmt, eine Sitzung des Schriftstellerverbandes besucht, an den Ort der ABF und schließlich nach Leipzig fährt, erinnert er sich immer wieder an Situationen und Ereignisse der Vergangenheit, an die Zeit des Studiums an der ABF, versetzt sich zurück in das Damals, indem er es sich in seiner Erinnerung verlebendigt. Und auch die Stationen und Situationen des gegenwärtigen Alltags haben meist direkten oder indirekten Bezug zum Vergangenen.
Die Reflexion des Vergangenen führt zu dessen Klärung oder, wie es in einer Rezension im Ostberliner FORUM heißt: „Der Roman setzt sich mit einer Reihe von Erscheinungen des Dogmatismus auseinander, auf eine sehr parteiliche Art, indem diese Erscheinungen nicht überdimensional und unproportional vergrößert, sondern in ihrer Beziehung zum gesamten geschichtlichen Prozeß erfaßt werden.“ Mit einigermaßen ironischer Distanz wird des jugendlich sozialistischen Enthusiasmus gedacht, der sich damals äußerte im Demonstrieren für die Umbenennung eines Platzes oder die Namensgebung „Roter Oktober“ für ein Internatszimmer. „Unklarheiten“, die sich in der Erinnerung einstellen, werden geklärt wie auch die Motive einiger Republikflüchtlinge unter den früheren ABF-Kommilitonen usf. Am Ende gibt es nur noch zwei unbewältigte Brokken Vergangenheit: Die Republikflucht des Kommilitonen Quasi Riek, eines Organisationsgenies absoluter Parteitreue, und eine individuelle Fehlleistung des Helden selbst.
Der hat nämlich auf dem Gewissen, daß ein Freund und Kommilitone namens Trullesand von Partei wegen und mehr oder minder freiwillig-unfreiwillig verheiratet und zum Sinologie-Studium nach China geschickt wurde für sieben Jahre: nur weil der Held ihn für einen gefährlichen Nebenbuhler beim Brautwerben hielt. Dieser Fehltritt aus Individualismus und Egoismus wird notdürftig geflickt. Im Gespräch der beiden Beteiligten stellt sich heraus, daß der Sinologe gar kein Nebenbuhler war und außerdem in China glücklich wurde. So wird aus Einsicht und Reue des Helden, gekoppelt mit dem gütig gesinnten Schicksal, das sowieso alles zum Besten wendete, am Ende wieder die heile Welt hergestellt.
Nicht so reinen Tisch gibt es im zweiten Fall: dem des unerklärlichen Republikflüchtlings. Dieser Fall bleibt unerledigt. Wohl gibt es einige unscheinbare Indizien dafür, daß er Republikflüchtling im landläufigen Sinne nicht sein kann. Aber daraus zu schließen, warum er nun wirklich in den Westen ging und Kneipenwirt in Hamburg wurde, ist nicht möglich. Ostdeutsche Rezensenten lassen durchblicken, daß er wohl mit einem „Auftrag“ dorthin geschickt wurde. Allein dies ist eine Mutmaßung der Art, wie man sie zum Versuch einer Motivierung der Handlungsweisen Johnson’scher Figuren anwenden mag.
Die Nähe zu Johnson haben auch ostdeutsche Kritiker erkannt, zugleich aber festgestellt, daß die Gestaltung der Quasi-Riek-Episode „sich wesentlich von dem Agnostizismus und dem Bilde einer sich der Erzählung entziehenden Welt“ Johnsons unterscheide. Denn: Bei Kant werde vom Leser gefordert, „nicht nur eine das Kunstwerk vollendende, seine Autonomie ausschöpfende Phantasie, sondern eine Erfahrung und Mitarbeit einzusetzen, die die poetische Welt überschreitet." Daß in der Aula Gestaltungsweisen benutzt werden, die im bisherigen Bild der DDR-Literatur nicht sichtbar waren, das liest sich am besten ab an der Unsicherheit und Widersprüchlichkeit der ostdeutschen Rezensionen über diesen Roman. Zu der Nicht-Motivierung einer Handlungsweise einer Romanfigur heißt es in der FORUM-Rezension: „Der ästhetische Agnostizismus, die prinzipielle Haltung, daß der Autor selber die Beweggründe seiner Geschöpfe nicht kennt, daß er nur ihre Verhaltensweisen mitteilen kann, ohne imstande zu sein, in deren Motive einzudringen, ist ein charakteristisches Element des Modernismus, von dem dieser Roman völlig frei ist.“ Die Kritiker, die dem Anspruch des sozialistischen Realismus zu genügen und trotzdem die literarische Qualität eines Romans zu würdigen suchen, welcher nicht unbeeinflußt ist von der modernen „spätbürgerlichen“ Literatur, gelangen dann zu solch mitleidheischenden, das Dilemma ausdrückenden Sätzen wie: „Es scheint fast, als sei dies alles nicht nur ein Sich-Zurückhalten von direkt-weltanschaulicher Diskussion, sondern auch mangelnde Kraft, sie durchzuhalten, was mit der partiell spontanen Durchführung der poetischen Anlage in Zusammenhang steht. Mit diesem spontanen Moment nun ist aber unmittelbar auch der besondere Reiz des Buches verbunden.“ Das Dilemma des Kritikers, zwischen der Skylla „direkt-weltanschaulicher Diskussion“ und der Charybdis „spontane Durchführung der poetischen Anlage“ den richtigen ideologiekonformen Weg zu finden, dieses Dilemma ist natürlich nur der Nachhall desjenigen, in dem der Autor sich befand beim Schreiben des Romans. Es hat seinen formalen Niederschlag gefunden in der Uneinheitlichkeit des Stils.
Das „Spontane“, Moderne an Kants Roman beschränkt sich meist auf in sich geschlossene Sequenzen, in denen zwar auch sozialistische Parteilichkeit mitspielt, jedoch nur am Rande. Lediglich im Stile gehobener Jugendbücher sind die Stellen geschrieben, wo es ernst wird mit dem ideologischen Soll.
Am charakteristischsten ist die Ironie, die den Roman von Anfang bis Ende durchzieht. Sie wirkt, wie sollte es anders sein, am stärksten bei der Zeichnung individueller, d. h. nicht offizieller Figuren und Ereignisse. Ironie durchzieht nicht nur den Roman, sie zieht ihn auch am Ende aus einem „bedenklich pessimistischen" — vielleicht wäre treffender gesagt: defätistischen — Tief.
Am Ende des Romans nämlich wird kurzerhand abgeblasen, was den Reflexionsprozeß des Helden überhaupt erst einleitete und dessen Ergebnisse wirksam machen sollte: Die bestellte Rede wird, so lautet die neueste Order, nicht gehalten werden. Denn nicht durch rückwärtsgewandte Überlegungen, sondern durch optimistisches In-die-Zukunft-Sehen geht die Partei voran.
So sieht sich der Held plötzlich in der traditionellen Lage deutscher Denker: die Ergebnisse seiner Reflexionen können wegen der bestehenden Machtverhältnisse nicht gesellschaftlich wirksam werden. Aufklärung bleibt aufs Intellektuellenstübchen beschränkt, bleibt Privatsache.
Dies in einer sozialistischen Gesellschaft, die nach eigenem Anspruch den Gegensatz von Macht und Geist überwunden hat? Dies in einem sozialistischen Roman, dessen Autor zu den von der SED Nicht-Gerügten gehört?
Es ist interessant, die letzten Sätze des Romans genau anzusehen. In einer Art von innerem Monolog während einer nächtlichen Autofahrt versucht Robert Iswall die nicht-gehaltene Rede sich selbst vorzutragen, gerät plötzlich von der Fahrbahn ab und entgeht nur mit knapper Not dem Unfalltod an einem Brükkenpfeiler. Ironischerweise denkt er sich, er der bekannte Schnurren-Erzähler, eine Schnurre aus, die diese Situation verarbeitet: Er, Iswall, „gewahrte so manche Unordnung in seinem Leben .. . und als er wähnte, nun endlich könne er den Mund auftun, da zeigte es sich daß niemand ihn hören wollte, und ob seines großen Zornes fuhr Robert Iswall in den Tod Welch eine Schnurre, dachte er, und welche Übertreibung! Hier ist niemand tot, und hier ist auch niemand zornig, und hier wird schon noch geredet werden.“ Wie gesagt, Ironie, eine „Schnurre“ bewahrt den Helden vorm Defätismus. Jedoch ein wenig zu beflissen klingt die Beteuerung, daß hier niemand zornig sei. Und das „hier wird schon noch geredet werden“ ändert nichts daran daß die geplante Rede eben nicht gehalten wird. Der zornige junge Intellektuelle, der seinen Zorn ironisch negiert, schafft diesen damit zwar formal aus der Welt. Aber auch ein ronisiertes Faktum bleibt eine Tatsache W. Schievelbusch