Die deutsche Spannung in Balance halten?
Der Dialog zwischen SPD und SED ist das Ende, nicht der Anfang einer Illusion: die DDR ist kein weißer Fleck mehr. Nachdem die Bundesregierung mit einem verlegenen „Ja mit Einschränkung“ die offiziellen Kontakte der SPD zur SED registriert und Gespräche allgemein befürwortet hat — ohne sich selbst zu beteiligen —, ist das Eis gebrochen; jetzt muß geschwommen werden.
Im letzten halben Jahr sind mindestens fünf diskutable Beiträge zur deutschen Frage erschienen, von denen kein einziger aus den Amtsstuben der Regierung kam. Im Herbst 1965 legte die EKD ihre Denkschrift zum Oder-Neiße-Problem vor; es folgte die Studie „Reform der Deutschlandpolitik“ von Wolfgang Schütz, dem Vorsitzenden des Kuratoriums Unteilbares Deutschland; neuen Diskussionsstoff boten der „Katechismus zur deutschen Frage“ in Enzensbergers Kursbuch 4, die Fernsehsendung „Der Deutsche Bund — ein gar nicht phantastisches Programm für die Wiedervereinigung“ von Rüdiger Altmann, dem gelegentlichen Berater des Bundeskanzlers, und schließlich Theodor Eschenburgs Untersuchung „Die deutsche Frage 1966“ in der ZEIT. Die amtlichen Reaktionen waren (nach Lautstärke und Umfang geordnet): Ignoranz, Ablehnung, Dementi, Warnung vor Diskussion und Aufweichung, Bekräftigung des Rechtsstandpunktes, Ankündigung eines Weißbuchs und einer Bestandsaufnahme — soweit der Hauptteil; aus der Statisterie kam eine unkonventionelle Referentenstudie zur EKD-Denkschrift, geschrieben im Gesamtdeutschen Ministerium und von der CDU/CSU sofort attackiert, und die ständigen Versuche der FDP, das Instrumentarium der Ostpolitik zu entrümpeln.
Die Bundesregierung hat weder Aiternativpläne noch eigene Gedanken zur Lösung der deutschen Frage vorgelegt, sondern sich auf die Hoffnung beschränkt, es werde nicht so schnell gehandelt wie geredet. Sie hat jedoch die Möglichkeiten unterschätzt, die es zwischen dem hehren Ziel der Wiedervereinigung, das da droben am Dogmenhimmel hanget, so hoch, daß niemand dran kann, und den irdischen Realitäten gibt. Nun ist sie doppelt gefesselt: einmal kann sie das kalte Klima nicht mehr wiederherstellen, in dem jeder Kontakt nach drüben zum Handlangerdienst für Ulbricht gefror, denn die SPD ist längst regierungs-, koalitionsfähig geworden und es wäre bloß ein schlechter Witz, sie als volksfrontfähig zu deklarieren; zum andern haben sich Regierung und CDU/CSU darauf festgelegt, auf den juristischen Positionen zwischen den Stühlen sitzenzubleiben, statt wohlwollend abzuwarten oder auf Partei-, Länder- oder Kommunalebene auch das Gespräch mit der DDR zu suchen.
„Die Begriffe, die man sich von was macht, sind sehr wichtig. Sie sind die Griffe, mit denen man die Dinge bewegen kann.“ sagt Ziffel in den „Flüchtlingsgesprächen“. Die psychologische Hypothek auf deutschen Ost-West-Kontakten scheint hoch zu sein, sonst würde über den friedlichen Zweck nicht im Kämpferjargon gesprochen. Da liest man „Redeschlacht“, „Schlagabtausch“ und „Kampf mit harten Bandagen“; ein „krachender Zusammenstoß“ zwischen SPD und SED sei wünschenswert, denn schließlich müßten wir alle daran interessiert sein, daß die Veranstaltungen ... zu einer weithin sichtbaren schweren Niederlage des Kommunismus werden“, und „die ganze Nation wird ... über einen gut geführten Hieb gegen die Kommunisten frohlocken.“ (Zitate aus der FAZ, die den Redneraustausch begrüßte.) In der Erklärung der Bundesregierung - einstimmig beschlossen — heißt es sprach- und wirklichkeitsfremd: „Wenn das Ziel dieser Auseinandersetzungen nur die Wiedervereinigung sein kann, dann müssen sie dem Zusammenhalt der Deutschen ... dienen ..Also sich auseinandersetzen, um zusammenzuhalten — wie doch die Sprache in einer Zweideutigkeit Willen und Widerwillen zur Wiedervereinigung einfängt! — Schließlich versichert die Bundesregierung noch, sie werde „allen Gefahren wehren“, die sich aus den Auseinandersetzungen ergeben könnten, und „ruft alle beteiligten Parteien, Organisationen und Personen auf, Begeisterung für die deutsche Sache mit Kaltblütigkeit zu verbinden und unkoordinierte Aktionen zu vermeiden.“ Drei Strich mehr und „Begeisterung“ und „Kaltblütigkeit“ vereinen sich zu eiskaltem Fanatismus, der nur noch koordinierte Aktionen zuläßt.
Es ist keine Beckmesserei, wenn man mit solchen Schlüsselwörtern die Tür zu der Gedankenkammer der Regierung öffnet, um die beiden Ursachen der Wortwahl und der Politik zu betrachten: die Ratlosigkeit und die Angst vor Veränderung. Die Kampf- und Krampfstellung der Bundesrepublik gegen den Ostblock, besonders gegen die DDR, kann sich erst lösen, wenn zugleich ein anderes Problem bereinigt wird, nämlich das Mißverhältnis zwischen der ständig zunehmenden wirtschaftlichen und militärischen Macht Westdeutschlands (Fortsetzung auf Seite 2)
und seinem stagnierenden, ja abnehmenden politischen und moralischen Einfluß. (Beispiel für ein umgekehrtes Verhältnis ist Frankreich.) Es bildet sich hier eine vorerst innenpolitische Gefahr, denn in der Kluft zwischen Stolz auf das Wirtschaftspotential und Enttäuschung über die politische Ohnmacht — wir haben was, aber wir gelten nichts — ist Platz für aggressive Emotionen, Minderwertigkeitsgefühle, die sich via Wiedervereinigungsparolen leicht auf einen nationalistischen Nenner bringen ließen. Das ungelöste, dogmatisch verhärtete Problem der deutschen Frage, seit Jahren positiv tabuiert, könnte schon bald den Kristallisationskern einer nationalistischen, rechtsgerichteten Bewegung bilden, die obendrein von der „guten Sache“, für die sie kämpfte, den Schein objektiver Berechtigung für sich hätte.
Schon heute sitzen nicht nur in der NPD Nationalisten, die sagen, sie gäben alles für die Wiedervereinigung des Vaterlandes, aber auf dem Weg dorthin, in kleinen Schritten, deutsche Rechtsansprüche oder 5 Milliarden Wirtschaftshilfe für die DDR zu geben, das sei zu viel. Diese Leute setzen immer noch auf eine Politik der Stärke und verspielen damit Kredite, die uns die Politik der Verständigungsbereitschaft zum Osten hin, so selten und so schwach sie auch ist, doch einbrachten. (Selten und schwach, weil sie bestenfalls offiziös, nicht aber (offiziell verwirklicht wird.) Daß jede institutionelle Annäherung der beiden deutschen Teilstaaten in Richtung einer Konföderation für die Bundesrepublik mit wirtschaftlichen Belastungen verbunden wäre, steht fest. Nicht so sicher ist, daß solche „Opfer“ so selbstverständlich gegeben würden, wie es in Sonntagsreden behauptet wird. Um die Diskussion darüber, was man dem Osten oder der DDR an Leistungen und Vorleistungen für eine Normalisierung der deutschen Mißverhältnisse anbieten könne, endlich zu bremsen, hat der „gesamtdeutsche Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion“, von Eckardt, einen Purzelbaumgrund gefunden, als er warnte, es „würde sich mit Sicherheit in der Bundesrepublik eine Oppositionspartei bilden, die leicht 20 bis 25 Prozent auf sich vereinigen könnte“ mit der programmatischen Ablehnung aller Leistungen. Also keine gesamtdeutsche Politik, weil sie eine bundesdeutsche Opposition unter großdeutschen Alles-oder-nichts-Vorzeichen hervorrufen könnte — so schreckt man den schwarzen Mann mit dem braunen, ein Bild, das insofern unrealistisch ist, als die Führer jener hypothetischen Opposition heute der Regierung nahestehen oder in ihr sitzen.
Nicht unkontrollierte Kontakte, sondern koordinierte Querschüsse gegen sie verschärfen die deutsche Frage. Aus innen- und außenpolitischen Gründen — ganz abgesehen von der moralischen Verpflichtung — dürfen weder die Diskussionen über mögliche Bedingungen für Konföderation oder Friedensvertrag noch die direkten Kontakte zur DDR be- oder gar verhindert werden. An die Stelle der Angst vor Änderung des Allzugewohnten muß der Wille zum Experiment treten - im Denken und im Handeln. M. M.