Hasenclever und Claudel
Wenn wir uns einig sind, daß transzendieren soviel sagen will wie die Grenzen des Erfahrbaren überschreiten, so hat uns zu Beginn des Sommersemesters das Akademische Studio die Möglichkeit geboten, zwei moderne transzendierende Dichter miteinander vergleichen zu können. Walter Hasenclevers „Jenseits“ — wahrscheinlich eine Uraufführung — machte den Auftakt, Paul Claudels „Verkündigung“ (L’annonce faite ä Marie) versöhnte die Enttäuschten Mann und Frau in Hasenclevers Zwei-Personen-Stück bleiben Schatten in dem diffusen Licht expressionistischer Wortmalerei. Ihre Auseinandersetzung mit dem Jenseitigen (Schatten) verliert sich in mystischem Nebel, der lediglich zeitgeschichtlich interessant ist. Macht er doch deutlich, wie aus diesem Seelenbräu der zwanziger Jahre die allgemeine Begriffsverwirrung entstehen konnte Daran konnte auch das technische Mittel der Weisenbornschen ortlosen Dramaturgie nichts ändern. Bedauernswert bleiben dabei die beiden begabten Schauspieler Irmgard Nagel und Wilfried Jan Hayn, deren gehirnakrobatische Kunststücke von vornherein zu keinem befriedigenden Ergebnis führen konnten.
Ganz anders bei Claudel. In diesem holzschnittartigen Mysterienspiel moderner Prägung, das sich naturgemäß auf die Typisierung beschränkt, wird die weite Welt hinter und vor den Dingen lebendig. Tragödie und große Möglichkeit des Menschen dieser Erde, dessen Sehnsucht die Agape ist, dessen Kräfte sich dennoch meistens im Eros verbrauchen, so daß er vor dem letzten Schritt auf der Strecke bleibt. Alles letztlich hängt von der Gnade dessen ab, der die Schöpfung in seinen Händen hält. Bleibt dem Menschen nur die Entscheidung für oder gegen den Anruf, wenn seine Stunde kommt. Dies ist die Welt christlicher Transzendenz, wie sie aus Claudels „Verkündigung“ gleich einer Botschaft, die keine Neutralität duldet, vor uns tritt.
Das Akademische Studio sah sich keiner leichten Aufgabe bei der Nachgestaltung dieses Werkes gegenüber, stößt doch Dichtung dieser Art Routiniers weit von sich. Selbstaufgabe, d. h. Aufgabe der besonderen Individualität jeden Spielers ist Grundvoraussetzung. Vielleicht war es ein Glück, daß an dieser Aufführung so gut wie keine Berufsschauspieler beteiligt waren. Nur so jedenfalls können wir uns diese ausgereifte Ensembleleistung erklären. Der Atem der Dichtung nahm über die vier Akte hinweg das Auditorium gefangen. Behelfsbühne und sonstige technische Unzulänglichkeiten änderten daran nichts. Die Magie des Claudelschen Wortes machte beides vergessen, wenn man auch bei einer nachträglichen Betrachtung sich des Eindrucks nicht verschließen kann, daß diese Dichtung in einem Kirchenraum gespielt der Idealfall wäre.
Es hieße am Sinn dieser Dichtung Vorbeigehen, wollte man nun in üblicher Weise zu einer Würdigung der Einzelleistungen schreiten. Dank sei nur dem Leiter des Akademischen Studios gesagt, daß er uns diese Begegnung mit Claudel noch einmal ermöglicht hat. K. Theo Siebert