Es ist so schwer Demokrat zu sein
„Stab frei!“ Dieser Kommandoruf eröffnete eine brutale Prügelei einer Hamburger Polizeihundertschaft auf demonstrierende Studenten. Er eröffnete zugleich einen höchst besorgniserregenden Abschnitt in unserem Bemühen um eine neue Demokratie. Die Hamburger Studentendemonstration ist nicht nur von örtlicher Bedeutung, ist keine Angelegenheit, die nur Studenten anginge. Die Wichtigkeit der Vorgänge muß uns alle hellhörig machen.
Der überwiegende Teil der heutigen Studentenschaft kann sein Studium nur unter größten finanziellen Anstrengungen durchsetzen. Eine Erleichterung, die allen Studenten, nicht nur in Deutschland, zugestanden wird, ist die Ausgabe verbilligter Monatskarten für die Verkehrsmittel.
Nicht so dachte der Hamburger Staat, obwohl gerade hier wegen der Größe der Stadt und der weitverzweigt liegenden Institute eine Erleichterung besonders notwendig wäre. Zunächst wurde nur 25 v. H. der Studenten eine Tarifvergünstigung gewährt. Vor einem Vierteljahr wurde auch diese aufgekündigt. Der AStA hat sich durch stete Verhandlungen um die Zurücknahme dieser unsozialen Verfügung bemüht. Vergeblich! Der Senat gab allgemeine Vertröstungen, die Bürgerschaft schwieg gänzlich.
Senat und Mehrheit der Bürgerschaft sind sozialdemokratisch. Sollte der Name dieser Partei nicht für eirl besonderes Verständnis der Notlage bürgen? Name und Gesinnung, Forderung und Tat sind offenbar nicht das gleiche, das scheinen uns alle unsere Politiker nur allzu gern immer wieder beweisen zu wollen. Ein Regierungssitz übt anscheinend einen eigentümlich einschläfernden Einfluß auf das Gewissen aus, der sich besonders dann unheilvoll auswirkt, wenn die nötige Opposition fehlt.
Dieses eingeschläferte Gewissen ein wenig wachzurufen, war ein Teil der Studentenschaft entschlossen. Man verfaßte also einen höflichen Brief an den Bürgermeister und mit den letzten Groschen wurde ihm eine Kiste Zigarren gekauft. Zum größeren Nachdruck war eine Kundgebung vor der Universität geplant, die aber auf Veranlassung des Syndikus durch Polizei sofort auseinandergetrieben wurde. Die Masse der Studenten ging daraufhin auf dem Bürgersteig in Richtung Dammtor— Bahnhof, keineswegs mit finsteren Demonstrantenmienen — der Hamburger liebt das nicht — sondern heiter plaudernd. „Wer soll das bezahlen?“ wurde angestimmt. Die Polizei hingegen hielt den Verkehr und die Bannmeile für gefährdet und sah darin Grund genug, um ohne ausreichende Warnung blindlings draufloszuschlagen, wahllos Fußtritte zu verteilen. Ausgeschlagene Zähne, aufgeplatzte Stirnen und Wangen, blutende Nasen, was macht das?! Stab frei! Eine Studentin niedergeknüppelt, Passanten getroffen. Stab frei! Es muß hierbei gesagt werden, daß sich ein Teil der Polizisten offenbar der Unwürde des Auftrages bewußt wurde und ohne Gewaltanwendung den Zug auseinanderzutreiben suchte.
Unter den Schlägen der Knüppelgardisten wurden die Studenten jetzt zu wirklichen, verbissenen Demonstranten, die im weiteren Verlauf auch das Bannkreisgesetz mißachteten und mit Passanten teilweiseVersuche der Gegenwehr unternahmen. Es ist bedauerlich, daß in diesem zweiten Teil der Demonstration unsere Hamburger Kommilitonen offenbar die Nerven ein wenig verloren haben. So gut wir ihre berechtigte Erbitterung verstehen, können wir ihnen doch nicht ganz den Vorwurf der Unbeherrschtheit ersparen. In keiner Weise ist dadurch aber das Vorgehen der Polizei gerechtfertigt.
Waren die Vorfälle nur auf unbeabsichtigte Ausschreitungen der Polizisten zurückzuführen? Leider nicht! Der Senat sprach sich in anerkennenden Worten über das „tatkräftige Vorgehen“ der Polizei aus. Die Vorgänge reihen sich in eine sehr bedenkliche Entwicklung der modernen Staatsführung ein. Die Achtung der Menschenrechte und Menschenwürde scheint allgemein in dem Maße abzunehmen, in dem der Sprachgebrauch dieser heiligen Worte anwächst.
Gleich nach der Demonstration hieß es, und auch der Hamburger Senat stieß in dies Horn, „kommunistische und extremistische Elemente“ seien die Scharfmacher gewesen. Mit vollem Recht erklärte demgegenüber der AStA, „daß die studentischen Demonstranten mit ihrer Kundgebung keinerlei politische Tendenzen verfolgten“.
Wir sind uns alle darüber im klaren, daß es wirklich „extremistische Elemente“ gibt und daß sie eine ernste Bedrohung darstellen können. Wir müssen uns auch der Gefahr bewußt sein, daß sich immer wieder in die Reihen
derjenigen, denen es um eine ehrliche, berechtigte Kritik geht, unsaubere Geister einschleichen und daß sie diese Kritik zu ihren Machenschaften mißbrauchen werden. Das geschah in diesem Fall. Wie in Hamburg, haben auch in Frankfurt FDJ-Gruppen versucht, die Vorgänge zu kommunistischen Polemiken auszunutzen. Mit aller Entschiedenheit werden wir diesen Kreisen entgegentreten, besonders dann, wenn sie versuchen, unsere Sache zu der ihren zu machen.
Der Versuch „von oben“, die Demonstration durch Hinweis auf politische Extremisten zu entwerten, steht nicht allein da. Man folgt hiermit einem seit langem bewährten, unheilvollen Rezept: Wer nicht „mitmacht“, wer seine eigene Meinung hat und nicht zu allem Ja sagt, wird als Radikalist und Extremist kurzerhand abgetan. Mit dem Schlagwort von den „zersetzenden Elementen“ läßt sich herrlich herumargumentieren und jeder unbequemen Kritik, jeder unliebsamen Meinungsäußerung von vornherein die Spitze abbrechen. Mit den Schlagworten „Volksschädling“ und „Wehrkraftzersetzung“ hat man schon einmal alle Rechte und Ordnungen zerschlagen. In der Ostzone hat man den Deckmantel „Kampf den Reaktionären!“, um die „volksdemokratischen“ Methoden zu rechtfertigen. Wollen wir mit der Parole von den „extremistischen Elementen“ ein Aehnliches beginnen? Lassen wir uns nicht einschläfern von der gefährlichen Monotonie eines stetig gebrauchten Schlagwortes!
Es ist ja so schwer, Demokrat zu sein! Von allen Seiten drohen der Demokratie Gefahren: vom Staat wie vom Volk, von ihren Verfechtern wie von ihren Gegnern, von links wie von rechts. Nur dann werden wir allen Gefahren begegnen können, wenn jeder einzelne die Gegenwart, und was sich in ihr anbahnt, mit hellwachen Sinnen beobachtet und verantwortungsbewußt handelt. m