Schweiz, September 1949.

Paßhöhe St. Gotthard — . Spätnachmittag. Seit einer Stunde warte ich auf ein Auto. Meine Situation ist verzweifelt. Mitten in einem fremden Land, ohne Ausweis, Paß und Geld. Tascheninventur ergab knapp vier Franken in Münzen.

Gegen Mittag hatte ich am Furka einen Steilhang von etwa 30 Meter Höhe genommen. Dort mußte ich meine Brieftasche verloren haben. Oberhalb des Rhonegletschers gab mir dann amerikanisches Ehepaar lift bis zum Fuße des St. Gotthard. Da wollte ich eigentlich bleiben, konnte aber einem blauen „Buic Eight“ nicht widerstehen.

Nun muß ich zurück. Volkswagen, mit Baseler Nummernschild, bringt mich bis vor die Tür der Jugendherberge. Den Franken für die Uebernachtung will der Herbergsvater nur haben, wenn ich mein Geld wiederfinde. Bedrückt koche ich meinen Migros-Tee. Es hat sich herumgesprochen, welch Pechvogel ich bin. Kleiner Franzose radebrecht mit zwei Engländern und Schwedin: „Kollekte?“ Jemand schreit aufgeregt meinen Namen. Ich soll zum Telefon kommen. Polizeistation Interlaken: „Wie heißen Sie? Wann sind Sie geboren? Ein Amerikaner hat Ihre Brieftasche in seinem Wagen gefunden. Glücklicherweise haben Sie ihm gesagt, wo Sie übernachten wollen. Wo sollen wir sie hinschicken?“ Ich jubele durch den Draht: „An den Lago Maggiore, nach Locarno!“

Italien, vier Wochen spater.

Via Aurelia, zwischen Pisa und Massama. Ich pfeife und singe vergnügt, denke zurück an die Erlebnisse der vergangenen Tage. An die 8500 Lire (DM 85.—), mit denen ich Italien betrat, in der Hoffnung eine Woche bleiben zu können, und die drei Wochen, die daraus wurden. An Venedig, Florenz, den gestrigen Abschied von Rom. An die große Ueberraschung, als ich gestern um Mitternacht auf einem Lkw erwachte und den Schiefen Turm von Pisa erblickte, 20 Meter vor mir, angestrahlt vom Scheinwerferlicht Es ist heiß, das Laufen wird ungemütlich. 25 Kilometer bis Pisa. Der Verkehr ist schwach. Der sonst erfolgreiche Trick, das Reiseziel mit Kreide auf den Rucksack zu schreiben, zieht heute nicht. Plötzlich hält ein Jeep neben mir. Polizei. Drei freundliche Menschen fragen durcheinander. „Ich nicht sprechen Italienisch, deutscher Student, nach Genua.“ „O bella bella Germania!“ Ich sitze zwischen ihnen. Sie sprechen fünfzehn Worte Deutsch, zwanzig Englisch, ich achtzig Italienisch. Hände und Mimik ersetzen das Unaussprechbare. In Massama halten wir vor einem der halb verfallenen einstöckigen Häuser. Vier junge Mädchen stürzen heraus, ziehen uns in ein kleines, primitiv möbliertes Zimmer. Wein und Gebäck werden aufgetischt Wenn ich der dunkelhäutigen und schwarzhaarigen bella Signorina, die mir den Becher immer wieder füllt, doch sagen könnte, wie schön sie ist!

England, September 1950.

Zwischen Downcastle und Newcastle. Trampkollegin Toni und ich winken auf der Great North Road hellblauem „Hillman“ nach, der uns 120 Meilen lift gab. Wir haben sofort Anschluß. Roter 5-To-Diesel vom „British Road Service“. „Hallo! Wo wollt Ihr hin? Ich fahre nach Edinburgh.“ „Allright“.

England ist das Paradies der „Hitchhiker“. Seit acht Tagen trampe ich hier. Das Visum beschaffte die Einladung einer Briefbekanntsdiaft. Toni traf ich gestern in der Londoner Jugendherberge. Unser neuer Freund ist über die Abwechslung sehr erfreut. „Ich bin Französin und mein Kamerad ist Deutscher. Das ist sehr amüsant. Er spricht nicht Französisch und ich nicht Deutsch, so unterhalten wir uns in Englisch.“ Der lorrydriver staunt zweifelnd: „You are French? And you are German? And you are going in the same car?“

Frankreich, vier Wochen spater.

Südlich Fontainebleau — Straßenkreuzung. Mein Freund Heinz und ich, an den Rucksäcken schwarz-rotgoldene Wimpel. Mit je 5000 Franken (60.— DM) verbrachten wir zehn Tage in Paris. Jetzt zählt unsere gemeinsame Kasse noch 7000 Frs. Endlich hält Lkw. Zwischen Säcken und Gemüsekisten erscheinen lachende Gesichter, zwei Mädchen und ein junger Mann. „Seid Ihr Engländer?“ Junge Dame antwortet entrüstet: „Nein, wir sind Schotten.“ — „Aber ich bin Engländer!“ trumpft zwanzigjähriger stud. med. aus Birmingham auf. Sie haben das gleiche Ziel wie wir: Nizza. Es ist ein langer lift 210 Kilometer. Wir singen und freuen uns und fühlen uns sehr erhaben über jene, die zu Haus hinter den Büchern blieben. Gegen Mittag hält uns eine Polizeistreife an, die Autostopper statistisch erfaßt. Mit Genugtuung nehmen wir zur Kenntnis, daß man uns unter den laufenden Nummern 77—81 registriert. Und dann stehen wir wieder auf der Straße.

Trampen heißt wagen, heißt erleben. Trampen bringt Freiheit und ist billig! Günter Friedrichs