Bundesjustizminister Vogel stellt Strafantrag gegen den Allgemeinen Studentenausschuss der Göttinger Universität wegen Verunglimpfung des ermordeten Generalbundesanwalts Siegfried Buback. Und der Rektor der Göttinger Universität stellt Strafantrag wegen öffentlicher Billigung des Mordes an Buback. Im “Göttinger Tageblatt” heißt es “Aufruf zum Mord!”, in der “Welt” steht “Freimütig bekennen sich Studenten zur Gewalt”, in der “Zeit” liest es sich “Brauner Jargon” oder “Wie im ‘Stürmer’”. Landespolitiker (die mit Hilfe von Überläufern an die Regierung gekommen sind) fordern die Ablösung der gewählten Studentenvertreter, die angeblich, aufgrund nur geringer Wahlbeteiligung der Studentenschaft, ni cht genügend demokratisch legitimiert seien.

Was ist es, was die Gemüter der wackeren Demokraten dieses Landes so zum Kochen bringt, daß sie darüber tagelang alles andere vergessen? Ein Artikel über die Ermordung Bubacks in der Studentenzeitung “Göttinger Nachrichten”. Bedeutet das nun, es gäbe im politischen Geschehen der Bundesrepublik im Augenblick keine anderen Probleme? Wer beispielsweise an die Lausch- und Abhöraffären denkt, an die Parteiausschlußverfahren gegen Jungsozialisten oder an die jüngsten Korruptionsfälle, muß daran zweifeln.

Also müßte es sich eigentlich um eine ungeheuer wichtige Angelegenheit bei diesem Artikel in den “Göttinger Nachrichten” handeln. Und in der Tat spricht dort jemand von seiner “klammheimlichen Freude” über den “Abschuß von Buback”. Diese Zitatstellen kann man überall nachlesen. Was man nicht überall nachlesen kann, sind z. B. die Sätze: “Woher könnte ich, gehörte ich den bewaffneten Kämpfern an, meine Kompetenz beziehen, über Leben und Tod zu entscheiden?....Was wir auch tun: es wirft ein Licht auf das, was wir anstreben ... unser Zweck, eine Gesellschaft ohne Terror und Gewalt, ... heiligt eben nicht jedes Mittel ... Unser Weg zum Sozialismus kann nicht mit Leichen gepflastert werden.” Warum diese Sätze nicht zitiert werden, ist eine Frage, die jeder für sich beantworten mag.

Die weitere Verbreitung der “Göttinger Nachrichten” wurde verboten; der Rektor der Universität hat den AStA-Mitgliedern außerdem auferlegt, für die Druckkosten der Zeitung, mit Ausnahme von zwei Artikeln hochschulpolitischen Inhalts, persönlich aufzukommen. Politisches Mandat des AStA hin oder her. Was bedeutet dies anderes, als politische Zensur einer Studentenzeitung, wie das ja bei Schülerzeitungen seit jeher gang und gäbe ist.

Erst vor wenigen Tagen fiel mir durch Zufall ein Artikel wieder in die Hand, den ich mir aus der Lokalzeitung vom 13.4.1968 meines damaligen Wohnortes ausgeschnitten hatte. Unter der Überschrift “Die Schüsse auf Dutschke” schrieb der Chefredkateur in seinem Leitartikel u. a.: “Ein verbummelter Student, der schon vor Jahren sein Examen hätte machen müssen, der eine Frau hat, die die Zahl seiner internationalen Vorgänger ebensowenig kennt, wie den Namen des Vaters ihres in die Ehe eingebrachten Kindes, dieser ‘Student’ ist unserem Staate feindlich gesinnt. Er tut alles, um ihn aufzulösen... Gewerkschaftsführer wie der Metallboß Brenner ... drückten Frau Dutschke ihre tiefgefühlte Teilnahme aus und bedauern, daß ihr Widersacher, der sie hinwegwischen wollte, nun ausser Kurs gesetzt ist. Sind das nun Krokodilstränen ...?” Darüber, über diese nicht nur “klammheimliche Freude” an einem Mordanschlag, hat sich damals kaum jemand erregt. Erst recht gab es keine strafrechtlichen Konsequenzen. Wer sollte denn in so einem Fall auch Strafantrag stellen?

Werner Maihofer ist immer noch im Amt. Ebenso die in rechtswidrige Abhöraffären verwickelten Landesminister Schiess und Bender. Was muß eigentlich noch alles geschehen, bis solche Leute zurücktreten oder zum Rücktritt gezwungen werden? Wo findet sich die Presse, die hier unerbittlich bleibt? Dafür, daß nicht nur der Atomphysiker Dr. Traube oder der Fluglotse Kassebohm abgehört und bespitzelt werden, gibt es inzwischen ausreichend Beweise; ja, es gibt Anhaltspunkte, daß hier nur die Spitze eines Eisberges an Rechtsbrüchen durch staatliche Organe zu Tage getreten ist. Eine Ungeheuerlichkeit! Aber sie ist nach wenigen Tagen kaum noch der Rede wert.

Man sagt, man wolle den freiheitlichen Rechtsstaat schützen, “unsere Demokratie”. Zum Beispiel vor sogenannten Radikalen, revolutionären Spinnern, Baader-MeinhofSympathisanten und aufmüpfigen Studenten. U n s e r e Demokratie? Ich wage es zu bezweifeln.

Nachtrag: Am 27.5.1977, also mehr als einen Monat nach Erscheinen des umstrittenen Artikels, fanden in Göttingen umfangreiche Polizeiaktionen statt. Unter anderem wurden das Büro des AStA, 17 Privatwohnungen, zwei Druckereien und ein Buchladen durchsucht. Die Polizei beschlagnahmte Flugblätter, Broschüren, Bücher, Briefe, Notizen, Tagebücher usw. Die Tür des Buchladens wurde aufgeborchen, obwohl die Inhaber ohne weiteres erreichbar gewesen wären. Als trotz der Pfingstferien Hunderte von Studenten demonstrierten und einige von ihnen sich am Bahnhof auf die Schienen setzten, ging die Polizei mit Schlagstöcken vor. Ein Beispiel für die Verfahrensweise dabei: Polizeibeamte zerren eine Demonstranten an den Beinen über den Bahnsteig. Weitere Polizisten prügeln auf den Demonstranten ein, der seinen Kopf mit den Armen zu schützen versucht. Als eine ältere Bundesbahnbenutzerin empört fragt:“Wie kann man nur so auf Menschen einschlagen?”, blickt sich einer der Polizisten um und entgegnet: “Wo sind denn hier Menschen?”

Wolfgang Bittner

Wolfgang Bittner hat soeben die Anthologie "Strafjustiz” (Verlag Atelier im Bauernhaus) herausgegeben.