Wandlungen? Neue Erkenntnisse? Niemals Ruhe geben? Wie war das damals? Waren die Argumente falsch? Konkret möchte dem Gedächtnis etwas nachhelfen. Wir veröffentlichen deshalb nachstehend ein Interview, das Helmut Schmidt unserem Herausgeber Klaus Rainer Röhl vor fünf Jahren gegeben hat. Wir stimmten damals mit Herrn Schmidt sehr überein. Unsere Leser mögen beurteilen, ob seine Argumente auch heute noch gültig sind.

RÖHL: Nach dem Ergebnis der Aussprache und der Beschlussfassung im Parlament ist ja nun die außerparlamentarische Bewegung, die maßgeblich von der SPD mitgetragen wird, allein in der Lage, dem Willen des Volkes mehr oder weniger energisch Ausdruck zu verleihen. Sind Sie der Ansicht, daß diese Bewegung, die unmittelbar nach der Bundestagsdebatte spontan anschwoll, im Lebensinteresse der Nation liegt und daß man sie daher nicht nur aufrechterhalten, sondern noch verstärken muß?

SCHMIDT: Ja, ich glaube, das Wort Lebensinteresse ist ein absolut richtiger Ausdruck. Ich würde sagen, es handelt sich hier wahrscheinlich um die Frage der nackten Existenz. Das haben offensichtlich sehr, sehr viele Menschen in Deutschland auch begriffen.

RÖHL: Nun sind zum erstenmal auch zwei Stichworte gefallen: Volksbefragung und Generalstreik. Halten Sie die Anwendung beider Kampfmittel für legitim?

SCHMIDT: Die Frage möchte ich uneingeschränkt mit Ja beantworten. Vor diesen beiden Begriffen aber sollte man vielleicht noch den Begriff des „nationalen Notstandes“ erörtern, der hier eine große Rolle spielt und der am Anfang der weitergehenden Überlegungen stand. Manche Menschen wollen sich nicht so recht mit diesem Wort befreunden. Offensichtlich deshalb, weil die atomare Bewaffnung der Bundesrepublik nicht gleichzeitig zu Leichen auf den deutschen Straßen und Plätzen geführt hat. Wenn draußen schon die Leichen herumliegen würden auf den Straßen, die eines Tages aus dieser Geschichte entstehen könnten . . .

RÖHL: Wie jene Manöverergebnisse gezeigt haben . . .

SCHMIDT: Ja, wie beispielsweise auf dem Papier schon in den Manövern carte blanche und lion noir deutlich wurde dann würden wahrscheinlich sehr viel mehr Menschen bereit sein, zu sehen, daß wir hier am Beginn eines Notstandes stehen, der die Existenz unseres Volkes berührt . ..

Was nun den Generalstreik angeht, so gibt es da ein sehr markantes historisches Vorbild in Deutschland: den Kapp-Putsch. Zweifellos war das eine etwas andere Situation. Es handelte sich um den Versuch der illegalen Machtergreifung einer bestimmten politischen Gruppe, die durch nichts legitimiert war. Adenauer ist, leider, durch demokratische, verfassungsgerechte Wahlen samt seiner Mehrheit legitimiert. Die Situation ist also nicht gleich.

RÖHL: Aber eine gewisse Verbindung läßt sich doch wohl durch den Begriff des nationalen Notstandes hersteilen? Ein Notstand, der eben einerseits erzeugt werden kann durch eine illegitime, zur Macht strebende Gruppe, wie beim Kapp-Putsch, andererseits durch eine zwar legitim zur Macht gekommene Regierung, die Maßnahmen trifft, welche einen solchen Notstand ebenfalls erzeugen . . .

SCHMIDT: Ja! Wobei man durchaus sagen darf, daß die Maßnahmen, die diese Regierung treffen will, in ihrer Konsequenz die Verfassungswirklichkeit völlig umstülpen können. Bei einem Streik, den ich in dieser Situation für legitim halte, wird es sich gleichfalls nicht um eine Sache handeln können, die man von oben organisiert oder die überhaupt irgendwer organisiert, sondern hier ist man darauf angewiesen. daß die Stimmung tatsächlich so erbittert ist, daß die Mehrheit bereit ist, zu diesem letzten Mittel zu greifen.

RÖHL: Könnte man also sagen, daß der Generalstreik auch nur ein demonstratives Mittel ist und sich im Rahmen der konsultativen Funktion (wie die Volksbefragung) hält, oder würden Sie einräumen, daß beim Generalstreik schon ein politisches Druckmittel angewendet wird? Weil ja bei einem Generalstreik, besonders wenn er über einen Tag hinausgeht, die Regierung nicht nur über die Volksmeinung informiert wird, sondern eine Situation herbeigeführt wird, bei der die Regierung in eine gewisse Zwangslage gerät. . .

SCHMIDT: Das ist der Sinn eines solchen Streiks. Ein Instrument der Konsultation ist ein Streik nicht mehr. Er ist eine sehr viel stärkere Keule, die ganz zweifellos darauf abzielt, die Regierung zu zwingen, etwas ganz Bestimmtes zu tun oder zu unterlassen

RÖHL: Welches dieser beiden großen Kampfmittel halten Sie für das wirksamste, den Generalstreik oder die Volksbefragung, oder sind Sie für die Kombination beider Mittel?

SCHMIDT: Zunächst einmal würde ich absolut kein Mittel ausschließen. Das scheint mir ein wichtiger Grundsatz zu sein. Im übrigen machen wir den Versuch, zunächst mit der Volksbefragung durchzudringen, auf der Bundesebene. Die Regierung wird es auf der Bundesebene ablehnen. Wenn wir dann auf der Ebene einiger Länder durch Landesgesetz die Volksbefragung durchführen, so wird das zweifellos außerordentlich eindrucksvoll sein, das Ergebnis dieser Volksbefragung zu sehen. Das schließt aber gar nicht aus, daß man unabhängig davon oder paralell dazu oder anschließend, je nachdem, wie sich die politische Lage in bzug auf die Verwirklichung von Adenauers Beschlüssen entwickelt, zu weiter reichenden, stärkeren Maßnahmen kommt.

RÖHL: Nach den Erfahrungen der ungleich schwächeren Bewegungen, wie der Paulskirchenaktion und der Bewegung gegen die Wehrpflicht, kann man sagen, daß nach einem gewissen Abebben der Aktionen regelmäßig eine propagandistische Gegenaktion der Bundesregierung und der ihr nahestehenden Kreise angelaufen ist. Muß man nicht eine solche Gegenaktion jetzt schon ins Auge fassen?

SCHMIDT: Es ist eine bewährte Taktik Adenauers, die Tatsache, daß sich in vielerlei politischen Situationen die SED und die Kommunisten Westdeutschlands an die Rockschöße der Opposition gehängt haben, zur Diffamierung der Opposition auszunutzen. Das wird auch in Zukunft so sein, damit wird man rechnen müßen. Wer davor Angst hat, der hat zweifellos nicht genug Kraft für die ganze Auseinandersetzung! Im übrigen, glaube ich, wird man mit großem Erfolg den Menschen vor Augen führen können, daß die Opposition gegen die atomare Bewaffnung in einer Front steht mit so hervorragenden Führern der Menschheit wie Albert Schweitzer oder Pandit Nehru, in einer Front steht mit über 9000 Wissenschaftlern aus 4o Ländern der Welt, die durch ihre Unterschrift bezeugten, daß sie die atomare Bewaffnung für einen Wahnsinn ansehen, in einer Front steht mit über 40 Millionen Japanern, die sich durch ihre persönliche Unterschrift eingesetzt haben gegen die atomare Bewaffnung. Wir stehen hier in einer Front mit hervorragenden und umfassenden Gruppen von Menschen, so daß es uns wirklich nicht zu stören braucht, wenn Herr Ulbricht oder Herr Grotewohl auch noch versucht, sich uns an die Rockschöße zu hängen. Wer davor Angst hat, soll lieber die Finger von der Politik lassen.

RÖHL: Der Wahlkampf wurde von der CDU hauptsächlich unter der Devise: Christentum oder Bolschewismus, wirtschaftlicher Wohlstand oder kommunistische Mißwirtschaft geführt und gewonnen. Muß man nun nicht zu dem Schluß kommen, daß die SPD und alle Kräfte, die die Aktion gegen den Atomtod sonst noch tragen und verstärken sollen, vielleicht die Aufgabe hätten, einmal offensiv den Antibolschewismus als Zweckpropaganda zu entlarven und ihm entgegenzutreten?

SCHMIDT: Ja. Da aber die antibolschewistischen Ressentiments zweifellos vorhanden sind, ist es nicht ganz leicht, den Antibolschewismus, soweit er als Ideologie in Deutschland auftritt, als Ideologie und als Weltanschauung zu entlarven, als ein Instrument, das dazu da ist, das politische Denken auszuschalten und zu überwälzen durch gefühlsmäßige Assoziationen.